Notstandszonen um Wiesbaden

Sie fuhren. Das war das Erste was John bewusst wurde, als er abermals zu sich kam. Wenn er dem Geschmack in seinem Mund und den theoretischen Kenntnissen trauen durfte, hatten sie ihn schon wieder betäubt. Chloroform, so wie es schien. An seiner Situation hatte sich fast nichts geändert. Ausser dass er sein Smarty nicht mehr in der Hosentasche fühlte. Das Pflaster klebte immer noch auf seinem Mund und der Sack über seinem Kopf gab ihm kaum visuellen Input.

Anhand der Strasse merkte John, dass sie nun kaum noch in einer bewachten und gesicherten Zone sein konnten. Da waren alle Strassen asphaltiert. Na ja, es hatte sich wohl etwas verändert. Seine Position war jetzt noch viel unbequemer, als auf dem Stuhl. Man hatte seine Hände an der Kopfstütze befestigt und ihn so in eine Kopfüber-Position gezwungen. Bei jedem Aufschlagen der Federung fürchtete er, dass seine Arme brechen würden, während sein Kopf fortwährend gegen den Vordersitz schlug. Langsam kannte er schon den internen Aufbau des Sitzes.

John dachte gerade, dass in dieser Position eigentlich jeder Reisekrankheit bekommen müsste, als das Fahrzeug einen abrupten Stop hinlegte. Der Schlag war so heftig, dass sich John den linken Arm auskugelte und hinter dem Pflaster schrie wie am Spiess. Was dummerweise seinen Bewacher dazu ermunterte John genau in die linke Seite zu stossen und Ruhe zu fordern. Glücklicherweise war der Schmerz so gross, dass John kein Chloroform mehr brauchte, um erneut ohnmächtig zu werden.

»Hey Jacko, was ist mit dem los, der sieht auf einmal so leblos aus?« fragte Peer, während Jacko sich die Chancen ausmalte, wie sie aus dieser Situation herauskamen.

Vor ihnen stand die Kindermiliz. Viele noch nicht mal zehn Jahre alt. Aber mit allem bewaffnet, was sie schon tragen konnten. Extrem gefährlich und unberechenbar.

Die »Grenze« hatte er ohne Problem überqueren können, da er ein Deal mit Pedro, einem kleinen König der lokalen Kindermiliz, hatte. Aber keiner hatte ihm gesagt, dass unterwegs noch weitere Posten sein würden.

Allerdings konnte man sich das eigentlich denken. Wie im Mittelalter. Wegezoll für jedes noch so kleine Stückchen Weg. Dummerweise hatte ihn Pedro soviel gekostet, dass er kaum noch etwas hatte, mit dem er Handeln könnte.

Und er musste unbedingt aus dem Slumgürtel herauskommen. Denn hier würden sie zuerst suchen. Keiner wusste, wie lange und wie gut der Disrupter funktionierte. Wenn er überhaupt funktionierte.

Also bellte er Peer an.

»Mach ihn soweit los, dass du ihn fragen kannst und nerv mich nicht. Ich habe gerade andere Probleme. Halt deine Waffe bereit, falls es Ärger geben sollte!«
Dann stieg Jacko aus und lief auf den grimmig dreinschauenden, möglicherweise schon 13jährigen Anführer der Barrikade zu. Dabei machte er mit gespreizten Armen, leeren Fingern und reduzierte Kleidung deutlich, dass er keine Waffen bei sich trug.

Eine weisse Fahne funktionierte schon lange nicht mehr. Diese Kids waren jenseits von Gut und Böse, jenseits von Allem aufgewachsen. Eher wilde Wölfe denn Menschen. Und, wie Kinder nun mal so sind, absolut erbarmungslos. Man starb schneller von der Hand eines Kindes, denn von der eines Mannes. Viel zu jung, um über irgendwelche Folgen zu reflektieren. Ungestüm. Voller Wut und mutterseelenallein. Abgesehen von ihren Gefährten, die ihr Schicksal teilten.

Jackos Vater hatte sich früher immer darüber echauffiert, wie er es nannte, wenn er sich aufregte. Jacko erinnerte sich noch daran, wie sein Vater irgendwann, vielleicht so gegen 2026, er war gerade zwölf geworden, masslos über eine Diskussion im Fernsehen aufregte. So eine Politikerin hätte gesagt, wir hätten fünf Millionen Kinder, die von Kinderarmut betroffen sind. Vater konnte sich gar nicht beruhigen. Die ganze Zeit faselte er vor sich hin.

»In drei Generationen haben wir mindestens zwanzig Millionen verarmte Kinder, die von ungebildeten und wütenden Halbkindern aufgezogen werden. Was sollen wir dann tun? Was sollen wir dann tun?«

 

Und so weiter und so fort. Tja Dad, sieht so aus, dass du mit zwanzig Millionen noch ziemlich krass daneben gelegen hast, dachte Jacko.

»Hi, was gibt’s?« versuchte Jacko so fröhlich wie möglich in die Runde zu schleudern. Was ihm vor allem hämisches Gelächter eintrug. Ein vielleicht 10jähriger Knirps neben dem Anführer trat einen Schritt vor und bellte ihn an.

»Endstation Banksta. Uf Knie! Wat?«

Jacko beeilte sich einen Kniefall zu machen. Was nur zu noch mehr hämischen Kommentaren der Meute führte. Ein bisschen kannte er den Kidzspeak der Knirpse. Aber die meiste Zeit verstand er nur Bahnhof. Wie sollte er diesen Kidz klarmachen, dass sie ihn durchlassen sollten? Und vor allem, was hatte er ihnen wirklich anzubieten?

Erst mal schauen, wohin die Reise führt. Also die Standarderöffnung für Händler: »Deal Master?« und schön auf die eigenen Knie schauen. Jeder Blickkontakt, konnte potenziell tödlich und als Aggression empfunden werden. Das alte Ritual der Unterwerfung. Die Kehle zeigen und hoffen, dass man für den Anführer einen Nutzen hatte.

Auf einmal drangen Schmerzensschreie vom Auto her. Peer musste dem verficktem NSA Arschloch das Pflaster vom Mund gerissen haben. Zwischen den Schreien kam immer wieder »My shoulder, my shoulder!«

Wahrscheinlich war ihm der Stop nicht bekommen, was allerdings jetzt Jackos kleinste Sorge sein war. Das Schreien schon und die Kidz erst Recht! Doch es war schon zu spät. Das Auto wurde von den kleinen Monstern umrundet und Peer, sowie dieses NSA Schwein wurden rausgezerrt. Das machte die Schreie nicht besser.

Währenddessen war der Anführer an ihn herangetreten und hob seinen Kopf sanft an. Liess Jacko keine Möglichkeit, ihm nicht in die Augen zu schauen. Wenn das schiefging, dann war er ein toter Mann.

Also blickte er zurück. Erinnerte sich daran, wie er immer mit seinem Vater einen uralten Film, »Life of Pi« geschaut hatte. Und an die Stelle, an der der Vater den Jungen über Tiger belehrt. »Wenn du in die Augen eines Tigers blickst, dann spiegelt sich nur dein Blick, deine Vorstellung und deine Erwartung darin.«

Jacko hatte nicht vor, den Tiger zu unterschätzen. Er wusste nicht, was er tun sollte, ausser in diese traurigen, viel zu erwachsenen Augen des vielleicht 13jährigen Anführers zu schauen. Er hoffte das sein Blick sowohl Stärke wie auch Demut vermitteln würde. Alles andere wäre das Todesurteil. Auch jedes Wort.

Und gerade steckten ihm sehr viele Wörter in der Kehle. Nach einer gefühlten Ewigkeit meinte der Knirps »Und?«

»Auftrag von Pedro!« war alles was Jacko rausbrachte.

Vielleicht war Pedro ja auch hier bekannt. Wer wusste das schon. Langsam wurde es Zeit, dass er sich eine Geschichte ausdachte. Aber irgendwie war er völlig blockiert.

»Wichtiger Gefangener, oder?«

Jacko nickte ergeben, während er sich wunderte, warum dieser Knirps überhaupt keinen Akzent hatte. Weder das Kidzspeak noch einen Dialekt. Das bedeutete … vielleicht … Hoffnung. Dieser Knirps musste unter besseren Bedingungen aufgewachsen sein, als seine Gefolgsleute. Zumindest konnte man sich an diese Hoffnung klammern.

»Dein Gefangener scheint verletzt. Sollen wir ihn versorgen oder spielt das keine Rolle mehr?«

Jacko verstand die Welt nicht mehr. Was war das für ein Junge?

Keiner von denen die zuerst schossen und dann fragten. Keiner der leicht in Wut geriet, wie es schien. Eher fatalistisch, ergeben, berechnend. Ein seltsamer Kauz. Er blickte diesen Jungen mit den Sommersprossen, die ihm jetzt erst auffielen, verständnislos an. Vergass alle Regeln über Augenkontakt.

»Wir haben einen guten Arzt. Also was ist? Soll er noch länger leben?«

Jacko hätte sich gern die Augen gerieben und presste mit Mühe und Not ein »Mmmh ja …« heraus, immer noch im Zustand der Verwunderung.

»Bringt den Hiihl für den Gefangenen, schnell.« meinte der Junge, während er John musterte. Ein paar Kidz eilten los um den Hiihl zu holen. Währenddessen schien der Junge kurz zu erstarren. Nur um im nächsten Moment zu befehlen:

»Der Gefangene bleibt beim Hiihl und diese beiden hier begleiten mich währenddessen! Auge und Pimpf, ihr kommt mit mir. Der Rest bewacht das Auto.«

Peer wurde mit sanften Stössen in Richtung Jacko gedrängt, während Jacko sich gar nicht mehr zurecht fand. Das war nicht die Welt, die er kannte! Und das hiess, er kannte auch die Regeln nicht. Eine äussert gefährliche Situation.

»Willst du ewig so knien oder soll ich dich zum Ritter schlagen« meinte der Knirps mit den Sommersprossen und blonden Haaren zu ihm.

Jacko meinte ein Zwinkern in seinen Augen gesehen zu haben. Aber wer wusste das schon. Und vor allem, wer wusste schon, wem es galt und was es bedeutete. Also erhob sich Jacko respektvoll. Ohne Andeutung von Kampfhaltung. Und folgte dem Knirps, der wie selbstverständlich voranging ohne ihn und Peer eines weiteren Blickes zu würdigen.

Dieser kleine Knirps kam ihm in diesem Moment mehr wie ein Herrscher vor, als sonst irgendjemand. Er verströmte eine Art von Persönlichkeit, der man nur mit Respekt begegnen konnte. Was vielleicht erklärte, wie der Kleine hier überlebt hatte. Während sich Jacko und Peer fragend anschauten, hörten sie von vorne einen unmissverständlichen, noch freundlich geäusserten, Befehl.

»Wollt ihr langsam aufschliessen oder bereitet es euch Freude, wenn ich mir die Seele aus dem Leib brüllen muss?«

Beide bemühten sich nach Kräften, ohne aggressiv zu wirken, die Distanz zu überbrücken. Schneller Stechschritt. Rennen war gefährlich. War rannte war Opfer oder Raubtier.

»Und?« meinte der kleine Anführer.

»Vielleicht fangen wir mit euren Namen an.«

»Jacko, ich nenne mich Jacko, eigentlich Jakob. Aber wer will schon so heissen?«

»Peer ist mein Name.«

»Nun, die meisten nennen mich Kanzler, aber eigentlich heisse ich Tim. Erfreut euch kennenzulernen. Ihr wirkt etwas überrascht?«

Jacko stieg die Schamesröte ins Gesicht, ob dieses kleinen, freundlichen, altklugen Jungens, der ihn mit einer Leichtigkeit durchschaute, die ihm Angst machte.

»Na ja …« stammelte er.

»Ehrlich gesagt … ich bin immer noch überrascht am Leben zu sein. Das ist in einer solchen Situation eher selten. Ich habe zweimal Glück gehabt, was nicht von allen meinen damaligen Begleitern gesagt werden kann. Ich möchte mein Glück ungern überstrapazieren, wenn du weisst, was ich meine.«

»Ich glaube schon. Wie hiess es bei Galadriel? Nichts Böses dringt in mein Reich, wenn ihr es nicht selbst mitbringt, oder so. Mein Vater hat mir immer Herr der Ringe vorgelesen. Obwohl ich den Film ja besser fand. Und das ist auch schon lange her. Traurige Erinnerungen. Seid ihr deswegen da? Mich zu erinnern?«
Was war dieser Junge? Der neue Buddha? Jacko merkte erst, dass ihm der Mund weit offen stand, als dieser Junge ihm mit einer sanften Berührung denselbigen schloss.

»Hey, locker bleiben. Wohin wollt ihr? Was macht ihr hier? Und jetzt erzähl mir nichts von Pedro, den habe ich gestern getroffen und der hat mir nichts erzählt …«

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