Lutherstrasse 7, Wiesbaden

»Nimm das bedingungslose Grundeinkommen. Wovor die Mächtigen wirklich Angst haben, ist der Punkt, dass dann jeder eine Wahl hätte. Nichts mehr mit ›Du machst das oder du bist deinen Job los!‹ Die Menschen könnten moralische Verantwortung ergreifen, sie könnten frei entscheiden, ob sie etwas machen wollen oder nicht.«

Herbert warf Alex kurz einen Blick zu. Alex war nicht seiner Meinung, soviel konnte er erkennen.

»Versteh doch! Dies würde jede Verhandlungsposition eines Arbeitgebers entscheidend schwächen. Deswegen ist ja das sogenannte Mindestlohngesetz das Gegenteil von einem bedingungslosen Grundeinkommen. Es stabilisiert den Niedriglohnsektor in Deutschland.«

Bevor Alex einhaken konnte, fuhr Herbert, der wusste, was Alex sagen würde, fort.

»Ich weiss, ich weiss. Und weiter blüht die Mär der faulen Sozialschmarotzer. Das wolltest du doch sagen, Alex? Oder? Was ist mit den Schmarotzern?«

Der zustimmende Blick von Alex war alles was Herbert wissen musste.

»Und wenn schon? Schmarotzer hat es immer gegeben und wird es immer geben. Mit oder ohne Mindestlohn. Mit oder ohne bedingungsloses Grundeinkommen!«

Alex hatte wieder lautstark von den Ausländerhorden fabuliert, die Deutschland demnächst überrennen werden. Wiedermal überrennen werden. Und Herbert konnte sich das einfach nicht mehr mit anhören. Warum konnte die Menschen die wesentlichen Probleme nicht erkennen? Warum verloren sie sich immer in Nebensächlichkeiten?

»Und ausserdem …« hakte Herbert nach.

»Keiner kommt mehr ohne seinen Ausweis mit Chip, Chip-Implantat oder das staatlich authentifizierte Smarty irgendwo rein. Hast du vergessen, dass dieses Gesetz damals, 2022, dazu geführt hat, dass der Tourismus fast zum Erliegen gekommen ist? Fast keiner wollte sich damals freiwillig die deutsche Schnüffelsoftware installieren. Mittlerweile ist das ganz normal. Überall. Die europäische Schnüffelsoftware musst du auch noch installieren, wenn du raus aus Deutschland willst. Keiner wagt mehr Nein zu sagen. Geht ja auch gar nicht. Dann fällst du auf! Dann fällst du raus!«

Herbert machte sich nicht die Mühe, Atem zu schöpfen.

»Und dann kannst du versuchen in den Notstandszonen zu überleben. Also, wie sollen uns irgendwelche imaginären Ausländer überrennen? Hier in unseren geliebten bewachten und beschützten Zonen. Unseren gesicherten Bezirken. Hast du damals nicht so gegen die Schweizer gewettert? Als sie das einfach weiter durchgezogen und die Grenzen ganz dichtgemacht haben?«

Alex schüttelte nur den Kopf und wartete ab, ob er irgendwo einhaken konnte. Aber aus Herbert sprudelten die Worte nur so heraus.

»Und was bitte sollen sie denn denen ausserhalb dieser Zonen noch wegnehmen können? Die meisten wären im Ausland besser dran. Bis auf solche Schmarotzer wie dich!«

Alex bekam grosse Augen. Wurde es jetzt persönlich?

»Übrigens, mit der Miete und dem Geld für’s Essen biste wie immer überfällig. Weniger schwätzen, mehr zahlen würde ich sagen!«

Das war dann doch harter Tobak. Die Runde wurde schlagartig still und schaute teils entgeistert, teils schuldbewusst in die Wäsche. Alex bekam zwar einen roten Kopf, schaute Herbert aber weiter angriffslustig an.

Allerdings nicht besonders lange. Nach einer Sekunde, die für beide eine gefühlte Ewigkeit dauerte, gab er auf.

Gerade wollte sich Willi zu einem Kommentar aufschwingen, der ihm sicherlich nicht zum Vorteil gereicht hätte, als es an der Tür klingelte. Herbert erhob sich, schaute missmutig in die Runde und bemerkte, während er zur Tür ging »Na dann schauen wir mal, wer das ist. Ich erwarte eigentlich niemanden. Ihr?«

Es kam nur Gemurmel, das nicht darauf hindeutete, dass jemand erwartet wurde. Vielleicht die Post?

Durch den Türspion konnte er zwei normal gekleidete Männer erkennen, die er noch nie gesehen hatte. Allerdings empfand er ihre Gesichter nicht gerade als vertrauenserweckend. Er ging nochmals zur Küche und raunte der versammelten Mannschaft zu, während die Glocke erneut ertönte:

»Falls irgendjemand gerade seine Drogen oder illegalen Gimmicks offen rumliegen hat, dann sollte er diese verstauen. Die Typen da draussen kenn ich nicht und hab sie noch nie gesehen!«

Ein drittes, drängelndes Läuten ertönte und Herbert hastete zur Tür, die er, mit Kette verriegelt, öffnete.

»Wie kann ich behilflich sein?«

Der Mann mit dem schmalen Gesicht trat vor.

»Gestatten, Peterson. Entschuldigen sie die Störung. Kennen sie vielleicht zufällig einen John Mitchell? Könnte es sein, dass er sich derzeit bei Ihnen befindet?«

Herbert überlegte kurz.

»Hmm, nein, nicht dass ich wüsste. Kommt mir nicht bekannt vor. Ich kenne kaum Leute die John heissen. Gestern habe ich einen John in einer Bar getroffen, aber ich kann ihnen beim besten Willen nicht sagen, ob der Mitchell hiess. War irgend so ein Programmierer von der CIA oder NSA. Haben ein bisschen über neuronale Netze bei Margaritas philosophiert.«

»Wenn das so ist …« meinte der Mann, der sich Peterson nannte und nicht nur ein schmales Gesicht, sondern auch strichförmig schmale Lippen hatte »… könnten wir dann kurz hereinkommen? Ich denke es handelt sich um besagten John Mitchell, der leider derzeit vermisst wird. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn sie uns vielleicht noch mit ein paar Details helfen könnten.«

Dieser Peterson hatte etwas gefährlich Energisches an sich. Doch der andere war noch undurchschaubarer. Und in diesem Moment machte es Klick bei Herbert.

Wenn John bei einer Agency war und vermisst wurde, dann mussten diese Typen auch von der Agency sein.

Verdammter Mist! Geheimdienste waren so eine Sache. Es war einfach besser, wenn man ihnen nicht in die Quere kam. Und wenn sie schon mal da waren, wäre es sicher besser, sie nicht zu verärgern.

»Ja dann, kommen sie doch mal rein in die gute Stube« sagte Herbert während er die Kette, so langsam es ging, entriegelte. Sein mulmiges Gefühl wurde immer stärker.

Peterson wusste etwas, dass Herbert nicht wusste. Hier wurde der mit einem Ortungschip versehene NSA Dienstausweis von John angezeigt. Deswegen war Peterson selbst hier hergefahren. Mit Abraham Jackson im Schlepptau. Jackson war ein überdurchschnittlich intelligenter Analytiker und zudem ein extrem gefährlicher Nahkämpfer.

Da überhaupt nicht klar war, was mit John passiert war, schien es besser, auf alles vorbereitet zu sein. Doch noch hoffte Peterson die Angelegenheit diplomatisch zu regeln, auch wenn schon jetzt alle Anzeichen gegen Diplomatie sprachen. Zumindest wenn er sich in God’s Own Country befunden hätte. Doch leider musste man immer noch diplomatische Eingeständnisse machen. Zumindest solange man sich in der Besatzungszone, wie Deutschland immer noch in manchen Kreisen genannt wurde, befand.

Während dieser Typ ihn in die Küche führt, der sich ihm immer noch nicht namentlich vorgestellt hatte, behielt Abraham das Ortungssignal in seinem Smarty im Auge. Gemäss Ortungsgerät müsste sich John genau hier befinden.

Doch alles was sie sahen, war ein Meute Leute, die um den Küchentisch herumlungerte und die Neuankömmlinge mit bassem Erstaunen anglotzte.

»Meine Damen und Herren« begann Peterson, was ihm ein süffisantes Lächeln einiger der Leute eintrug, die am Küchentisch sassen.

»Wir sind hier, weil wir den Ausweis von John Mitchell, der seit heute morgen vermisst wird, genau hier geortet haben. Nicht im Keller, nicht ein Stockwerk weiter oben! Sondern hier. Da sich John offensichtlich nicht hier befindet, würden wir gern wissen, wer den Ausweis von John bei sich trägt und warum. Da ich sie ungern einer Durchsuchungsprozedur unterziehen möchte, wäre ich ihnen dankbar …«

Weiter kam Peterson nicht, da Alex schon dazwischen giftete »Und mit welchem Recht, bitte schön? Einfach hier reinplatzen und …«

»Halt’s Maul Alex, verdammt noch mal!« schrie ihn Herbert an.

Alex verstummte. Das würde er Herbert nie verzeihen. Dieser Scheisskollaborateur!  Diese feige Sau. Sofort den Schwanz einziehen, wenn es ernst wird. Aber sonst grosse Sprüche klopfen!

Mittlerweile hatte sich Willi mit hochrotem Kopf erhoben. Nein, dachte Alex, nicht auch dass noch. Dieser Depp war dabei, den Arschlöchern zu gestehen, dass er den Ausweis hatte.

Wo so ein Ausweis doch so schwer zu bekommen war. Und dann hatte dieser Depp Willi so ein unverschämtes Glück einen NSA Ausweis zu erbeuten. Ganz stolz war er angekommen. Es war schon schwer genug, dem Idioten einzubläuen, das Maul zu halten.

Verdammt! Verdammt!

Alex musste schnell etwas unternehmen, bevor alles nur noch schlimmer wurde …

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