Projekt CERBERUS, NSA Wiesbaden

»Wo vadammt noch mal ist John!« brüllte Captain James, der mit Vornamen Jesse hiess. Eine zweifelhafte Namensverwandtschaft, die interessanterweise nicht so weit her geholt schien. Auch hier und jetzt konnte man mit Wohlwollen maximal sagen, dass sich Captain James höchstens am äussersten Rand der Legalität aufhielt. Nicht, dass Captain James das genauso gesehen hätte. Schliesslich waren Amerikaner ja gleicher als andere. Selbst wenn sie es nicht zugeben würden. Die Mehrheit der Weltbevölkerung teilte diese Ansicht jedoch so nicht.

»Hat ihgendeina von euch Nichtsnutzn schan ma bei ihm angehufen!« brüllte Captain James seine Leute an, um gleich nachzuschieben »Und wenn nich, dann vadammt noch mal holt ihn ans Smaaty oder ich heisse jedem Einzelnen von euch den Ahsch auf, vastanden?«

Man konnte physisch spüren, wie sehr jeder bemüht, war so zu wirken, als wäre er oder sie nicht hier. Daran änderte auch sein Bostoner Akzent nichts, der bei diesen Situationen immer etwas seltsam klang. Neue Projektmitglieder lernten schnell, das Jesse James aus Massachusetts stammte und das er ein Lächeln oder Schmunzeln ob seines Akzents nicht wirklich mit Freundlichkeit beantwortete. Und meistens verbarg er seinen Akzent. Ausser wenn er wütend war. Was eigentlich auch ziemlich oft der Fall war.

Miss Marple, eine kleine rundliche Dame, die eigentlich Bolding hiess, hatte schon längst zum Hörer gegriffen und rief mit ihrer piepsigen Stimme in die sich bedrohlich entfaltende Stimmung »Es geht keiner ran, Captain!«

In dem Moment traf sie der typische verkniffene Blick von Captain James, mit dem er alle versuchte zu erdolchen, wenn er schlechte Laune hatte. Was eigentlich regelmässig der Fall war und längst nicht mehr die Wirkung entfaltete, die Jesse sich erhoffte.

Heather Bolding kam eigentlich aus London und arbeitete für die GCHQ. Die Government Communications Headquarters. Sie war eine anerkannte Neurologin, die, neben vielen anderen Fähigkeiten, wie zum Beispiel Captain James eine Nasenlänge voraus zu sein, in Cambridge promoviert hatte.

Sie verfügte zudem über so etwas wie ein absolut verlässliches emotionales Radar, was manche dazu verführte, ihr übersinnliche Kräfte nachzusagen.

»Soll ich es weiter versuchen, Captain oder soll ich jemanden schicken um ihn abzuholen?« meinte sie zuckersüss in reinstem britischen Akzent und freundlich lächelnd, während sie seinem Blick standhielt.

Irgendwie war James der Drive abhanden gekommen.

»Ja, ja, machen sie schon und wenn er da ist soll er sich sofort bei mir melden. Ortet alle seine elektronischen Spielzeuge und schickt auch da jemanden hin, wenn er nicht zuhause ist. Währenddessen könnte vielleicht jemand mal versuchen, CERBERUS wieder in Gang zu kriegen? Oda habt iha hieh alle nichts zu tun?«

Langsam kam er zwar wieder in Fahrt, aber irgendwie war die Luft raus. Also holte er gross aus, ging in sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Das peinliche Schweigen löste sich langsam im Plätschern der zunehmenden Gespräche auf. Diese waren allerdings im Wesentlichen von Ratlosigkeit geprägt. CERBERUS hatte sich selbst neu gestartet und war seitdem nicht mehr erreichbar. Die Systemanzeigen offenbarten jede Menge Aktivität auf allen Kanälen. Doch kein gegebener Befehl, kein Input über Tastatur, Audio oder Video vermochte CERBERUS zu erreichen. Es war als hätte man einen Autisten vor sich. Man wusste das der Autist lebt und denkt und wahrnimmt. Aber man war nicht in der Lage eine Reaktion zu erzielen.

»Kipling! Myers! Bringt dem Captain unseren geliebten John zurück.« hörte man Miss Marple piepsen.

Aus dem richtigen Blickwinkel konnte man wahrnehmen, wie ein braunes und ein rotes Haarbüschel versuchte abzutauchen. Doch schnell hatten sie ihren inneren Schweinehund überwunden. Erst tauchte Kipling auf, dann Myers. Brav und artig sagten sie »Ja, Mam!«, schnappten ihre Jacken und machten sich auf den Weg zu John.

»Peterson, sie lokalisieren alle von Johns Spielzeugen, Smarty zuerst. Und dann schicken sie jeweils ein Team an diese Orte, sobald ihnen Kipling negativen Bescheid geben sollte. Ohne Aufsehen zu erregen, bitte. Das gilt auch für sie beide. Kipling! Myers?!«

Kipling grummelte nur vor sich hin und nickte beflissentlich. Myers schaute eher etwas erstaunt.

»Hey Michael, warum holen die nicht einfach das Backup raus? Und starten den ganzen Mist von vorne?« raunte Myers Kipling zu.

»Hast du nicht aufgepasst, Walter oder was? Wir haben nur die Struktur. Klar, die sichern wir, aber was in den neuronalen Zellen vorgeht lässt sich nicht sichern. Das ist Wetware. Auf den Chips sind echte biologische Neuronen. Die lassen sich nicht kopieren. Nur die Wege der Informationsübertragung, was nicht reicht. Wir müssten komplett von vorne anfangen.«

»Ja und? Bis jetzt bringt das Viech ja nicht so viel, oder?« setzte Myers nach. Doch das wollte Kipling so nicht auf sich beruhen lassen.
»Also nicht so viel, so würde ich das nicht sagen. Du kannst dich ja gern mal hinsetzen, den ganzen Scheiss von Hand entschlüsseln, die ganze Querverweise erstellen und das dann noch brauchbar zu sortieren. Ich meine 70% Relevanz ist doch gar nicht so schlecht.«

Myers verdrehte die Augen und schaute zweideutig. Das konnte Kipling jedoch nicht bremsen. Er hatte sich schon immer privat für dieses Thema interessiert. Weshalb man ihn auch diesem Projekt zugeordnet hatte.

»Klar haben wir mehr erwartet, aber gerade unser Job ist so voll mit semantischen Doppeldeutigkeiten, menschlichen Angewohnheiten und Spezialitäten, dass wir kaum erwarten können, dass ein Computer so etwas versteht. Dazu ist er dann doch zu wenig Mensch, oder?«

Myers fand das nur begrenzt komisch.

»Und unsere Systeme werden doch auch recht anständig administriert. Auch wenn man sich kryptisch ausdrücken muss, wenn man mal eine Programminstallation braucht. Ich find CERBERUS als Sekretärin auf jeden Fall recht brauchbar. Zumindest wenn man nicht auf’s Aussehen achtet.«

Myers gab auf. Er konnte Kipling da einfach nicht verstehen. Warum sollte er auch nur ein Wort dazu sagen. Sie stiegen in den Wagen und fuhren los.

Weder Myers noch Kipling achteten auf den unscheinbaren blauen Apple Energy, der in dem Moment wegfuhr, als sie in die Strasse zu Johns Wohnung einbogen. So wie es aussah hatten sie Glück. Gerade war ein Parkplatz in der Nähe von Johns Wohnung freigeworden.

»Soll ich warten oder willst du, dass ich mitkomme?« fragte Myers in der Hoffnung, es sich im Auto bequem machen zu können. Aber Kipling schüttelte nur den Kopf. Also stiegen sie aus und sondierten die Umgebung. Alles ruhig soweit. Ein- und Zweifamilienhäuser mit Hintergärten reihten sich beschaulich aneinander. Ein vereinzeltes Kinderlachen wurde durch den Wind zu ihnen getragen.

Viele dieser Häuser wurden nicht mehr von Familien bewohnt. Stattdessen waren sie in Wohneinheiten aufgeteilt, die meist an finanzkräftige Singles vermietet wurden. Während die Eigentümer jetzt in billigen Betonklötzen hausten und hofften, die Hypotheken bedienen zu können. Selbst ein allgemeiner negativer Zins konnte die Banken nicht davon abhalten, ihre Hypotheken und Darlehen weiter mit positivem Zins zu belegen.

Während die normalen Geldkonten, den negativen Zins abbekamen und wie Butter in der Sonne schmolzen, wurde weiter Zins auf Hypotheken und Darlehen verlangt. Da Bargeld reglementiert und auf Kleinbeträge begrenzt war, konnte man sein Geld noch nicht mal vor den Banken retten. Und so wurden viele ehemalige stolze Hausbesitzer zu degradierten Hausverwaltern, die ihre Häuser maximal parzellierten und damit gerade mal so über die Runden kamen. Wenn sie noch zusätzlich arbeiteten.

Etwas verwundert drückte Kipling die untere Haustür auf. Nur angelehnt? Eigentlich war das hier nicht üblich. Andererseits konnte sie so schneller an Johns Haustür sein und mussten nicht in der Kälte warten, bis John endlich auf ihr Klingeln reagieren würde. Wahrscheinlich hatte er sich einfach mal wieder masslos besoffen. Wäre ja nicht das erste Mal.

Was dann doch seltsam wirkte, war die angelehnte Haustür zu Johns Apartment.

Ein kleinlautes »John« von Seiten Kipling führte zu keiner Reaktion. Myers hatte schon seine Waffe gezogen. Solche Sachen waren genau nach seinem Geschmack.

Myers ging vor und schob die Tür langsam auf. Kipling ging rechts von ihm in Stellung. Myers liess seine Waffe langsam durch den sich öffnenden Raum schwenken. Eine ziemliche Unordnung, so schien es ihm, aber nichts Verdächtiges soweit.

Jetzt kam der Moment in dem Myers hinter die Tür schauen musste. Ein Moment der wie eine Adrenalinpumpe wirkte. Myers atmete sachte aus und sprang dann so, dass er den Raum hinter der Tür im Blick hatte.

Fast hätte er sein Spiegelbild erschossen. Genau hinter der Tür hing ein grosser Garderobenspiegel. Und zeigte einen verblüfften Myers, der auf sich zielte.
Kipling hatte sich im selben Moment in die Wohnung begeben, um Myers Rücken zu decken. Von John keine Spur. Nachdem alle Räume gesichert waren, stellte sich betroffenes Schweigen ein. Soweit sie sehen konnten, war weder John, noch sein Dienstausweis, noch sein Laptop da. Von seinem Smarty ebenfalls keine Spur.

»Was für eine Scheisse! Ich bin dafür, dass wir drum würfeln, wer die gute Nachricht unserem geliebten Jesse James überbringt.« meinte Myers.
Kipling schaute nur betroffen drein und meinte fast stimmlos »Ist schon okay, ich mach das schon.«

Einen kurzen Anruf später schickte Peterson Miller und Gosford los um dem Laptop und dem Smarty zu folgen. Er selbst fuhr mit Jackson zu den Koordinaten, an denen Johns Ausweis gemeldet wurde.

Allmählich begann man sich in der Zentrale echte Sorgen zu machen …

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