Lutherstrasse 7, Wiesbaden

»Hey, was haltet ihr davon, dass wir uns mal wieder was gönnen? Margaritas beim Mexikaner vielleicht?« fragte Herbert ohne viel Hoffnung in die Runde. Denn zumindest für Alex war jeder Ausländer nur eine willkommene Zielscheibe für Spott und Hohn. Pack, dass es nicht verdient hatte, hier in Deutschland zu leben und dass nur dazu da war, ihm zu helfen seine Aggressionen austoben zu können. Das wahre Pack sozusagen, nachdem Politiker schon vor Jahrzehnten seinesgleichen als Pack beschimpft hatte.

Allenfalls als Sklaven wären Ausländer und Flüchtlinge für begrenzte Zeit nützlich. Zumindest wenn man seinen markigen Sprüchen lauschte und auch verstand, was er eigentlich sagte. Denn das Wort Sklaven nahm er nie in den Mund. Aber was war ein Mensch, aller Rechte und Ansprüche beraubt, anderes als ein Sklave. Und dann waren da noch die Terroristen aus den Notstandszonen. Alex würde alle ohne Erbarmen mit Stumpf und Stiel ausrotten, wenn man ihm nur die Möglichkeit gäbe.

Unbestritten versammelte er die schärfsten Weiber um sich herum. Herbert hatte keine Ahnung, wie Alex dass immer wieder schaffte und warum er diesen Typen in seiner Wohnung duldete. Und eigentlich war Alex von ihm abhängig! Genau betrachtet. Oder war Herbert von ihm abhängig? Von den ganzen Menschen die Alex immer anschleppte? Lieber nicht zu genau nachdenken. Manche Geister wollte Herbert nicht wecken. Die Geister der Einsamkeit. Der sozialen Entwurzelung.

Herbert war von einem kleinen Kuhdorf im Allgäu, namens Kaufbeuren, den Weg über Berlin nach Wiesbaden gegangen. Nicht dass Wiesbaden so anziehend wäre, aber letztendlich entschied der hier ansässige reiche Onkel über die Wahl des geeigneten Wohnsitzes. Er hatte seinen Mäzen gefunden, der begeistert von seinen politischen Ideen und seiner Malerei war.

Seine Wohnung war keine Wohnung, es war ein Haus mit Garten und einem riesigen Atelier unter dem Dach, dass über grosse Glasfenster verfügte. Zudem lag es im gesicherten Bezirk. Und Herbert zahlte keinen Cent für dieses Privileg. Keinen Pfennig! Wie Onkel Walter immer sagte.

Gedankenversunken betrachtete Herbert Alex. Wie er so dasass. In der Blüte seiner Jugend. Während er seine Sprüche absonderte und gleichzeitig mit den Frauen schäkerte. Durch vielsagende Blicke, durch Gesten. Er konnte einfach alle in seinen Bann ziehen.

Und je genauer Herbert ihn betrachtete, desto mehr fragte er sich, wieviel Ausländer in einem Alex Klerner wohl stecken mochte. Sein sinnlich männliches Gesicht mit den schwarzen, kurzen Haaren. Sein Bartschatten, der auch sichtbar war, wenn er sich frisch rasiert hatte.

Irgendwie erinnerte er eher an einen Italiener oder Spanier. Eher Italiener, wenn Herbert richtig lag. Erst letzthin hatte er ein bisschen über deutsche Namen recherchiert. Sicher kam der Name Klerner aus Ostpreussen. Doch wenn man weitergrub, entdeckte man, dass dieser Name von Auswanderern oder Flüchtlingen aus dem Glarner Gebiet in der Schweiz stammte. Und von der Schweiz war es nicht weit bis Italien.

Herbert fragte sich, wann er Alex diese Neuigkeit unter die Nase reiben würde? Heute definitiv nicht! Er hatte absolut keinen Bock mehr auf diese langweilige Runde, die sich an sich selbst ergötzte. Langsam erhob er sich, griff nach seiner Jacke und bemerkte im Vorübergehen »Lasst euch mal nicht stören, ich geh etwas frische Luft schnappen.«

Im Eifer der tobenden Diskussion über diese verfickte, imperialistische USA, merkte nur Susanne, dass Herbert ging. Ein kurzer Augenaufschlag und ein gemurmeltes »Ciao«, dann war Herbert aus dem Zimmer. Er stülpte sich die Schuhe über und trat aus der Tür.

Das Zwielicht schien zwischen den Häusern und Bäumen auf eine fast unnatürliche Art und Weise. Die einen verzauberte, wenn man sie zu lang erblickte. Was natürlich nie der Fall war. Diese Momente gingen in Sekunden vorüber, veränderten sich, waren in konstantem Wandel. Man konnte sie kurz einfangen. Mit allen seinen Sinnen aufsaugen. Und doch konnte man sie nie halten. Jeder Moment eine andere Stimmung.

Venus hing am Horizont, falls es nicht ein Satellit oder Flugzeug war. Aber nein, zu wenig Bewegungsmoment. Es könnte gut die Venus sein. Herbert liess die frische Luft in seine Adern rieseln, nahm noch einen tiefen Atemzug und trat auf die Strasse. Gerade erinnerte er sich an Bilbo, wie dieser zu Frodo irgendetwas in der Art sagte, wie »Es ist eine gefährliche Sache, Frodo, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Strasse und wenn du nicht auf deine Füsse aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.«

Bis zum Rheinufer war es nur ein kurzer Weg. Seine Füsse fanden den Weg ohne ihn. Wie oft war er jetzt schon im Hacienda gewesen? Einen Pitcher Margarita, eine kleine Vorspeise und dann einen Espresso mit einem dieser sündhaft teuren Tequilas. Aus heiterem Himmel, während Herbert die Rheingaustrasse entlang spazierte, befiel ihn plötzlich das unbestimmte Gefühl verfolgt zu werden. Was doppelt irrational war. Da man sowieso ständig überwacht wurde.

Und trotzdem versuchte er aus den Augenwinkeln die Umgebung auszuspähen. Versuchte die Fenster und spiegelnden Flächen auszunutzen. Um auch etwas hinter sich zu erkennen. Wenn es da etwas gäbe. Doch die militärische Abschirmung am Rheinufer war ruhig und keiner kam der Todeszone zu nahe. Niemand war zu sehen.

Wenn man nicht wusste, wozu es diente, wenn man das Inferno nicht gesehen hatte, was diese unscheinbaren Bugs inszenieren konnten, kam einem die Szenerie fast mystisch vor. Milliarden kleinster SpyBugs, die wie Glühwürmchen in dem Bereich der Todeszone einen Mückentanz aufführten, während ab und zu majestätisch irgendwelche grösseren Bugs mit zornig roten Laseraugen über den Mückentanz glitten. Und dies mit einer erbarmungslosen Geräuschlosigkeit.

Er blieb kurz am Bistro Mythos stehen und studierte die Karte, während er argwöhnisch aus den Augenwinkeln in die Richtung spähte aus der er gekommen war. Ein frischer Herbstwind, der schon den kommenden November erahnen liess, ermunterte Herbert weiterzugehen. Bekam er jetzt Paranoia oder was? Nichts zu sehen soweit! Nichts das irgendwie verdächtig wirkte. Hinter der Häuserfassade auf der anderen Strassenseite kam wieder der Rhein in Sicht.

Herbert entspannte sich wieder und erfreute sich an dem Glitzern des Wassers, das den Maschendraht funkeln liess. Als sein Blick auf eine spiegelnde Glasfläche einer Bushaltestelle fiel. Und er, eher zu seinem Amüsement, denn zu seinem Ersetzen, erkennen musste, dass Willi hinter ihm her war.

Der doofe Willi und wie konnte man auch Willi heissen? Obwohl, so gegen 2010 waren so altertümliche deutsche Namen gerade wieder in Mode gekommen. All diese Hans, Fritz, Wilhelm und wie sie alle hiessen.

Es grummelte in Herbert als er sich darüber bewusst wurde, dass der Name Herbert aber voll in die gleiche Kategorie fiel. Moden sind doch so etwas von zyklisch, dachte Herbert gerade, als er anfing sich darüber zu ärgern, dass Alex ihn also überwachen liess. Dilettantisch, mit Sicherheit, aber was zum Teufel sollte das?
Scheissegal sagte sich Herbert und schritt weit aus. Sollte Willi, der Depp, sich doch draussen die Eier abfrieren, während Herbert mit Genuss seinen Margarita genüsslich schlürfte. Heute würde er bleiben, bis sie ihn rauswarfen!

Es war nicht viel los heute. Das war das erste was Herbert feststellte, als er das Lokal betrat. Der beste Platz schien die Bar zu sein. Zudem konnte er so die Spiegel besser im Auge haben. Mal sehen was Willi so machen würde? Erstmal einen klassischen Margarita mit Salzkruste zum Innerlichen aufwärmen und etwas Nachos dazu.

»Und Herbert? Wie geht’s denn so?« fragte ihn José an der Theke, nachdem er die Bestellung aufgenommen hatte und sich nun mit der Herstellung des Margaritas beschäftigte.

»Na ja, geht so. Du weisst ja wie es so ist oder auch nicht. Man lebt und kann sich eigentlich nicht beklagen, aber wenn man sich so umsieht in der Welt, dann hat man das Gefühl dass alles den Bach runtergeht.«

José lachte leicht und etwas künstlich. Was sollte er auch machen? All diese Kunden mit Weltschmerz und voller Börse.

»Ich denke ein klassischer Margarita ist eine ausgezeichnete Wahl. Einfach sich weniger in der Welt umzusehen und sich mehr an dem zu freuen, was man hat, oder?«

Herbert nickte während José ihm den Drink hinstellte und gönnte sich einen kleinen zarten Schluck. Die Ironie in der Aussage von José entging Herbert. Willi tigerte derweil immer noch draussen vor der Tür rum. Wenn er so weiter machte, würde er bestimmt Aufsehen erregen. Aber was soll’s? Es war ja nicht Herbert, der Aufsehen erregen würde.

Gerade als seine Augen sich vom Spiegel abwenden wollten, betrat ein Mann das Restaurant, der ihn weiter in den Spiegel glotzen liess. Irgendwie schien dieser Typ einem schrägen U-Comic entsprungen zu sein. Als erstes bemerkte er diese riesige Nase und die buschigen Augenbrauen. Und dann das kantige, gespaltene Kinn. Bevor es sich noch eine Analogie überlegen konnte, war der Mann schon neben ihm, nahm Platz, sah ihn freundlich an und meinte »Hi, you don’t mind, do you?«

Alles was Herbert rausbrachte war ein knappes »Nein, äh no.«

»Kein Problem,« meinte sein Gegenüber »ich spreche genauso gut Deutsch wie Englisch. Meine Mutter war Deutsche. Mein Name ist übrigens John.«
Herbert war sich nicht so ganz klar, ob er sich wirklich Gesellschaft wünschen würde. Aber er wollte natürlich auch nicht unfreundlich sein. »Ich bin Herbert, hallo.« meinte er etwas kurz angebunden.

In dem Moment ging hinter ihm wieder die Tür auf. Ein Blick in den Spiegel bestätigte seinen Verdacht. Willi hielt es wohl nicht länger aus. Und dass sich jemand zu Herbert gesetzt hatte, war in den Augen von Willi sicherlich extrem verdächtig. Willi suchte sich einen Tisch in Hörweite, was bei der Musiklautstärke bedeutete, dass er sich ziemlich nah hinsetze.

Als Herbert zu ihm herüberblickte, tat Willi tatsächlich so als würde er Herbert nicht kennen und schaute scheinbar interessiert überall hin, nur nicht zu Herbert. Was für ein Depp!

Währenddessen begrüssten sich John und José ausgiebig in einer Mischung aus Mexikanisch und Englisch. John hatte sich auch einen klassischen Margarita zum Anfangen bestellt. Herbert schob ihm seine mittlerweile servierten Nachos hin und meinte »Bedien dich ruhig. Ist genug für alle da.«

Das animierte John dazu, ihm erstmal mit dem Margarita zuzuprosten.

»Und, bist du hier geboren?« fragte Herbert um es nicht zu diesen peinlichen Stille-Momenten kommen zu lassen.

»Nein, Texas, Lindsay, Reeves County, wenn dir das was sagt.« antwortete John.

»Nö« meinte Herbert »sagt mir leider nix. Eine grosse Stadt?«

»Nein, eher eine kleines Dorf. Als ich dort wegging hatten sie ungefähr 400 Einwohner.«

Klingt nach einer interessanten Geschichte, dachte sich Herbert und verriet im Gegenzug erst einmal etwas über sich.

»Na ja, mein Geburtsort hat wohl hundert mal soviel Einwohner, aber ist trotzdem ein Kuhkaff. Kaufbeuren. Im Allgäu. Schön zum Ferien machen. Später bin ich dann nach Berlin. Bis ich schliesslich hier, am Ende der Welt, hängengeblieben bin. Und wie kommt man von Texas nach Wiesbaden, wenn man fragen darf?«
»Fragen darf man immer.« meinte John »Aber ich weiss nicht so genau, ob dir meine Antwort gefallen würde.« fügte er hinzu.

»Huuu, das klingt aber sehr geheimnisvoll. Je nun, es liegt bei dir. Ich glaube zumindest von mir, dass ich nicht voreingenommen bin. Aber Selbsttäuschung ist ja auch so ein Ding. Wer weiss schon wirklich, wie er sich in bestimmten Situation verhält.« entgegnete Herbert.

John nagte an seiner Oberlippe und beugte sich dann verschwörerisch zu Herbert um ihm zuzuflüstern »Ich arbeite an und mit künstlichen Intelligenzen.« und schaute Herbert erwartungsvoll an.

»Äähh? Wieso, ist doch cool. Ich habe mich schon immer für künstliche Intelligenz und neuronale Netze interessiert. Was machst du da konkret, wenn man auch das fragen darf?«

Woraufhin John ihn mit einem seltsamen Blick bedachte und nachschob »Darüber darf ich leider nicht reden. Betriebsgeheimnis sozusagen.«

»Okay, kein Problem.« erwiderte Herbert, nur um noch einmal nachzuhaken »Allerdings kenne ich in Wiesbaden keine IT Firmen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Maximal Verlage, die zu dem Thema etwas herausbringen.«

John nickte sachte mit dem Kopf und fügte dann in verschwörerischem Tonfall hinzu »Es ist auch keine normale Firma, es ist … na ja, es ist … eine Agency, sagen wir mal so.«

»Ahh, jetzt verstehe ich. Klar, das hängt man nicht an die grosse Glocke. Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe kein Problem mit Mitarbeitern von irgendwelchen Agencies, seien es CIA, NSA oder was es da so gibt. Sind ja auch nur Menschen, die ihren Job machen. Mit der diesbezüglichen Politik bin ich jedoch nicht so glücklich. Ich denke es gab da mal ein Recht auf Privatsphäre, dass auch Menschen haben, die keinen amerikanischen Pass besitzen.« antwortete Herbert und erhob mit einem »Scheiss drauf. Prost!« seinen Margarita, um erneut mit John anzustossen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Willi wohl die Sache mit CIA und NSA mitbekommen hatte. Denn Willi griff zum Smarty um nach draussen zu marschieren und Bericht zu erstatten. Währenddessen eröffnete Herbert noch einmal das Thema neuronale Netze.

»Irgendwie habe ich bei der aktuellen KI Forschung immer das Gefühl, dass sie was Wichtiges vergessen. Ich meine, warum träumen wir? Und ist dieses Träumen wirklich vergleichbar mit den Lernalgorithmen, die man zum Trainieren eines Netzes verwendet? Und was ist mit der sensorischen Rückkopplung? Kann Intelligenz ohne Körper überhaupt entstehen? Und wenn wir Intelligenz wollen, geht dies ohne Bewusstsein? Klar, man kommt bis zur Mustererkennung, aber sorry, das kann man kaum intelligent nennen.«

Schon bald vertieften sich beide angeregt in grundsätzliche philosophische Fragen zu künstlichen Intelligenzen. Währenddessen spitzte Willi seine Ohren und verstand doch nur Bahnhof. Neuronale Netze, ja, davon hatte er schon einmal gehört.

Irgendsoeine Nachbildung des menschlichen Gehirns, nur viel kleiner und viel … unvorstellbarer. Keine Ahnung, was man damit anfangen konnte? Und all die Fachbegriffe, rekurrente Netze, Rückkopplung, hemmende Neuronen, was auch immer das war?

Aber NSA. Das war etwas. Das hatte er zumindest einmal gehört. Herbert hatte das erwähnt. Ganz am Anfang, als der Typ so geflüstert hatte.

Alex hatte Willi nach dem Gespräch aufgetragen, den Typen von der NSA den ganzen Abend zu beschatten. Willy sollte herauszufinden, wo dieser wohnte. Wozu Alex das wissen wollte, war Willi nicht im Geringsten klar. Und Willy machte sich auch nicht ernsthaft dazu Gedanken.

Wenn Alex das gesagt hatte …

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