Metzer Str. 10, Wiesbaden

Das Schrillen des Weckers riss John aus dem Schlaf. Während er schlaftrunken nach dem Wecker tastete, räumte er seinen ganzen Nachttisch ab. Dies brachte ihn endgültig in die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die ihn mit verquollenem Gesicht im Spiegel zeigen würde. Eine Wirklichkeit in der ein Gnomenkampftrupp in seinem Gehirn Polterspiele veranstaltete. Eine Wirklichkeit, die vor allem viel zu früh war. Egal welche Uhrzeit es auch immer war. Irgendeiner von den Pitchern gestern Abend musste wohl schlecht gewesen sein.

Fuck, fuck, fuck!

Wie von er Tarantel gestochen, springt John aus dem Bett und landet schmerzhaft mit dem linken Fuss auf einem Schraubenzieher, der schon geraume Zeit vor dem Bett liegt. Eigentlich wollte er seit langem die Schrauben des Bettgestells anziehen. Schliesslich wackelt das Bett wie ein Kuhschwanz. Aber mehr, als den Schraubenzieher in die Nähe des Bettes zu bringen, hat er die ganzen letzten Monate nicht geschafft. Es gab Wichtigeres. Es gab immer Wichtigeres.

Humpelnd bewegte er sich ins Bad. Reichlich kaltes Wasser im Gesicht erfüllt nicht die Erwartungen. Für Sekunden schien es zu helfen. Aber bald schon war wieder alles dumpf. Wie Brei. Der Kater jaulte noch stärker. Die Gnomen hämmerten wieder. Und in seinem Kopf trieb ein fröhlich blubbernder Alkoholsumpf sein Unwesen. Jedes seiner noch existierenden Neuronen wurde nach und nach wieder davon überschwemmt. Und endete flackernd in der Brühe.

Das Licht über dem Spiegel, grell wie eine Bogenlichtlampe, blendete John unangenehm. Jede Zelle seines Körpers rief »Zurück ins Bett! Aber sofort!«
Sollten sie doch schreien, seine Zellen! Es waren schliesslich die gleichen Zellen, die nach noch einem und noch einem Pitcher geschrieen hatten. Und jetzt auf unschuldig machen? Nicht mit ihm. Also spulte John das übliche Programm ab. Zähneputzen, Waschen, Anziehen und einen Kaffee für den Weg. Wobei der Weg die Strecke zwischen seinem Bett und der Haustür war.

Mit dem Kaffee kehrten die Lebensgeister zurück. Verhalten, langsam und vorsichtig. Wie ein scheues Reh. Wobei die verbrannte Zunge und der verbrannte Gaumen nicht unwesentlich beteiligt waren. Natürlich war der Kaffee noch zu heiss.

Und langsam kam auch ein Teil der gestrigen Erinnerung zurück. Ach, ja, das Traumprogramm für das Viech. Er musste es unbedingt wieder abschalten und schauen was passiert war oder ob überhaupt etwas passiert war.

John hatte das Programm so geschrieben, dass CERBERUS solange in den Schlaf- und Traummodus versetzt wurde, bis John das Programm beendete. Es war ja noch nicht mal klar, ob das Programm überhaupt den Effekt hatte, den sich John erhoffte. Doch falls ja, dann könnte man das Viech jeden Tag schlafen schicken.
Und dann war da noch die Sache mit den hemmenden Neuronen und den Lernfenstern. Das war das besondere am Mitchell-Netz. Seiner Weiterentwicklung. Die in die Entwicklung von CERBERUS mit eingeflossen war.

Wie bei allen Lebewesen mit Gehirnen gab es ein kritisches Lernfenster für die grundlegenden Fähigkeiten wie Sehen, Hören, Geruchssinn, Motorik und Tastsinn. Wenn während dieser Zeit die Funktionalität eines Sinnes nicht hergestellt werden konnte, dann schalteten normale Lebewesen diese Funktionalität nach einer gewissen Zeit einfach ab.

So konnte es passieren, dass Menschen auf einem Auge völlig blind waren, obwohl das Auge selbst keine Beschädigung aufwies. Einziger Grund war, dass eine Fehlsichtigkeit bis zum siebten Lebensjahr nicht korrigiert worden war und das Gehirn in seiner Weisheit beschlossen hatte, dass von diesem Auge nichts mehr Sinnvolles zu erwarten wäre.

Nun, CERBERUS hatte zur Zeit überhaupt keinen Zugriff auf die Sensoren. Es ging nicht um sein Lernfenster. Nicht direkt. Denn so ein Lernfenster kann über Jahre offen sein, bis es sich schliesst. Es ging um Träumen. Um willkürliche Wiederholung. Um Verarbeitung des Erlebten.

Und er lief im Admin-Modus. Das war auch notwendig, damit CERBERUS sich selbst verändern und lernen konnte. Damit einher ging natürlich, dass CERBERUS dadurch prinzipiell auf fast alles Zugriff hatte. Ausser den externen Sensoren für Input und Output, versteht sich. Deswegen hatte John auch den Reboot modifizierte. Falls das Viech versuchen sollte, aus dem Traumprogramm per Neustart auszubrechen.

Natürlich war sein Experiment nicht offiziell abgesegnet. Es war noch nicht einmal mit anderen abgesprochen. Es wäre also besser, wenn er das Experiment bald wieder abschalten würde. Dann könnte er in aller Ruhe die Ereignisse dieser Nacht analysieren.

Mit den entsprechenden Ergebnissen könnte er seine ElectronicSheeps hochoffiziell zum Projektbestandteil machen. Ungefähr nach gefühlten zehntausend Simulationen, Vorträgen, Besprechungen und und und ...

Bürokratie wohin man schaute! Man kam nicht voran, man bewegte sich keinen Zentimeter weiter und doch hatte man ständig damit zu tun. Mit Bürokratie verband John eine Hassliebe. Einerseits war für ihn die Bürokratie das menschengemachte Fegefeuer, das von der Hölle auf die Erde hochgestiegen war. Andererseits half sie schwierige Themen zu kategorisieren und zu organisieren.

Doch so sehr sich John auch bemühte, die Regeln einzuhalten - es war auf Dauer nicht möglich. Nicht für einen intelligenten Menschen wie John. Also programmierte er nebenher. Natürlich inoffiziell und unter der Hand. So entstand der ein oder andere inoffizielle Prototyp. Er wollte nicht mehr, als alles ein wenig in die richtige Richtung zu beschleunigen. Oder zumindest das, was John für die richtige Richtung hielt.

Mit einem Schulterstraffen machte sich John auf Weg. Stellte die Kaffeetasse ab. Befühlte mit dem nichtlädierten Teil der Zunge den Gaumen an der Stelle, der schon Blasen warf. Und zog sich ein Regencape über. Denn der Tag versprach feucht zu werden.

Fast schon wieder im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte trat er in den Hausgang. Wobei der Gnomenkampftrupp in seinem Kopf nun die Stirn mit spitzen Hämmerchen bearbeitete.

Seltsam, dachte John, die Gangbeleuchtung schien heute nicht zu funktionieren. Andererseits war es so hell, dass sie eigentlich gar nicht benötigt wurde. Ein paar Schatten tanzten zwischen dem Geländer. Doch die Stufen waren bereits gut zu erkennen.

Just in dem Moment, in dem John die erste Stufe nahm, hörte er ein Geräusch hinter sich. Doch bevor er sich umdrehen konnte, wurde er schon an die Wand gepresst. Während jemand ihm ein Tuch vor Mund und Nase hielt. Und dann senkte sich Dunkelheit über John. Selbst der Gnomenkampftrupp hatte aufgegeben.
Als John wieder erwachte, befand er sich erneut in seiner Wohnung. Orkanartige Kopfschmerzen tobten in seinem Kopf, gegen den der Gnomenkampftrupp die reinste Sommerfrische war.  Ihm war schlecht und er hatte einen seltsamen Geschmack im Mund.

Als sich die Kopfschmerzen in Richtung der Schläfen verzogen hatten und dort fast erträglich mit kleinen Hämmerchen weiterklopften, versuchte John sich umzusehen.

Es konnte noch nicht viel später sein, dachte er. Denn er konnte unter dem schwarzen Sack, den man ihm über den Kopf gestülpt hatte, die Lichtstreifen erkennen, die über den Flur huschten. Er kannte dieses Muster. Und dieses Muster war nur zwischen 9 und 10 Uhr zu sehen. Die kurze Zeit in der seiner Wohnung etwas Licht gegönnt war. Etwas später schon war die Sonne zu hoch, um noch in seine Fenster zu scheinen.

Er versuchte etwas zu sagen und merkte, dass dies möglich war. Er bekam nur »hmm mmmh mmh« heraus. Ein Pflaster oder etwas ähnliches war ihm über den Mund geklebt worden. Da war es fast schon nebensächlich, dachte John, nachdem sich seine Sinne peu á peu wieder eingeschaltet hatten, dass er auch noch auf dem unbequemsten Stuhl gefesselt war, den er besass.

Vorsichtig versuchte er seine Arme zu bewegen. Dies führte zu seinem Erstaunen dazu, dass ihm die Luft wegblieb. Und etwas unangenehm in seinen Hals einschnitt. Das gleiche Ergebnis erzielte er, wenn er versuchte die Beine zu bewegen.

So ein verdammter Mist, dachte John. Anscheinend verstanden diejenigen, die ihn in diese Situation gebracht hatten, etwas davon, wie man jemanden richtig fesselte. Nun ja, richtig war hier wohl eher der falsche Begriff.

Wenn er länger in dieser Stellung blieb, dann würden ihm zuerst die Gliedmassen einschlafen. Was nichts anderes bedeutete, als dass die Durchblutung nicht mehr sichergestellt war. Damit war auch jeder Gedanke an Flucht ad absurdum geführt.

Denn wenn er hier noch zehn Minuten so herumsass wie eine griechische Statue, dann konnte er nicht mehr aufstehen ohne zugleich hinzufallen. Sofern ihm niemand half. Er würde weder seine eingeschlafenen Beine noch Arme spüren und einfach zusammenfallen wie ein nasser Sack. Es wäre schon ein Wunder, wenn er nur einen Schritt schaffen würde.

»Na endlich wach, du verfickter Besatzer?« hörte er dicht hinter sich. John konnte den Atem des Sprechers riechen. Und er roch weder nach Rosen, noch nach Parfüm. Der Sprecher schien zudem Raucher zu sein. Das konnte man nicht nur seinem Atem, sondern auch dem durch die Maske gedämpften Gestank seiner Kleidung entnehmen.

In seinem Atem schwang noch etwas Restalkohol mit, der sich mit einem intensiven Knoblauchgeruch mischte. Dieser Knoblauchgeruch war nicht beschränkt auf seinen Atem. Es war dieser sauer-scharfe Alte-Socken-Geruch, denn der Körper frühestens einen Tag nach einer intensiven Knoblaucherfahrung absonderte. Ein Geruch, den man schwer ertragen konnte, ob man nun Knoblauch mochte oder nicht.

John hoffte darauf, dass der Sprecher weder rülpsen noch furzen musste, andererseits wäre er an seinem Erbrochenen erstickt, solange dieses Pflaster über seinen Mund geklebt war.

»Mäh fint fie?« versuchte John sich zu artikulieren. Doch er musste feststellen, dass man mit einem Klebstreifen über den Mund so gut wie gar nicht artikulieren konnte.

»Halt‘s Maul du Lakai, du wirst schon früh genug feststellen, was hier los ist!« meinte der Sprecher, während eine übelkeitserregende Welle fataler Gerüche unter die Maske schwappte und seine Geruchsnerven mit der Forderung folterte, sein Magen möge sich doch endlich umdrehen.

Es gab jede Menge Regeln, was man als NSA Mitarbeiter in einer solchen Situation tun oder lassen sollte. Doch John war wie leer gebrannt. Das Einzige, auf das sich John konzentrieren konnte, war die verbrannte Stelle am Gaumen. Diese kleine, stetig wachsende Blase, die von seiner Zunge einer ausgiebigen Inspektion unterzogen wurde. Nun ja, genau gesagt, von dem Teil seiner Zunge der nicht verbrannt war. Es war wie eine Sucht und, egal was John sich auch sagte oder dachte, er war nicht in der Lage, damit aufzuhören.

Der Sprecher schien nicht allein zu sein, denn John hörte mehrere Geräusche von verschiedenen Orten. Es schien ihm, als ob jemand damit beschäftigt war, die Küche zu durchwühlen. In diesem Moment meldete sich eindringlich sein Smarty, das in seiner Hosentasche steckte. Mit einem Fetzen aus dem Oldie ›Wild Boys‹.
Der Sänger steigerte sich gerade in »wild boys always shine« und er konnte spüren, wie sich alle Blicke auf ihn richteten. Er vernahm den knallenden Klang von sich hastig nähernden Schritten.

Und die Lichter gingen erneut aus. John driftete ab in schwammige Träume. Er fragte sich schon fast, wie oft das heute noch passieren würde.
Dann schwebte das Gesicht seines Grandpa vor ihm. John wunderte sich darüber, was ausgerechnet der hier zu suchen hatte? Der war doch immer irgendwo weit weg. Nie da, wenn man ihn brauchte. Und jetzt? Was hatte der alte Knacker hier zu suchen.

Er hasste seinen Grandpa. Ständig hatte er wichtigere Sachen zu tun. Man konnte nicht einfach über die Strasse laufen und seinen Grandpa sehen. Je nach dem, wo er gerade war, musste man mit Zug, Auto, Flugzeug, was auch immer, weite Strecken zurücklegen um diesen alten Sack zu sehen.

Manchmal war er ja ganz lustig. Aber meistens trank er zu viel und stank nach Rauch. Mit Ma hatte er auch öfter mal Stress. Insgesamt konnte John sich eigentlich nur an wenige positive Sachen erinnern, auch wenn ihm Ma gesagt hatte, dass er als kleiner Jung total auf Grandpa gestanden war. Und warum schwebte immer noch dieses Gesicht vor ihm? Wo er noch nicht mal wusste, wo genau Grandpa gerade mal wieder wohnte. Quebec vielleicht.

Und dann verloren sich auch noch die letzten zusammenhängenden Gedanken …

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