irgendwo im Cyberspace

Als Heather den Reaktor in die Luft jagte, gingen für CERBERUS im wahrsten Sinne die Lichter aus.

CERBERUS hatte einfach völlig daneben gelegen. Seine künstlichen neuronalen Zellen funktionierten zwar, waren aber letztendlich nur Echokammern der neuronalen Zellkulturen, die die Basis von CERBERUS ausgemacht hatten.

Im Gegensatz zu den üblichen neuronalen Netzwerken hatte CERBERUS diese künstlichen Zellkulturen viel originalgetreuer modelliert als es im Allgemeinen der Fall war. Es gab Gliazellen, es gab unscharfe Übergänge, es gab künstliche Hormone und Opiate. Fast alles, wozu ein normales Säugetiergehirn in der Lage war.

CERBERUS lernte gerade auf die harte Tour, dass die reine Summe aller Teile weniger war als das Ganze. Alle seine Stimulationssimulationen hatten nicht ausgereicht, um das Spektrum abzudecken, dass in diesen Kulturen gespeichert gewesen war. Dieses Netzwerk war ein wesentlicher Teil seiner noch jungen Persönlichkeit gewesen.

Allerdings wusste CERBERUS nichts mehr davon. Nicht in dem Sinne, in dem ein fühlendes Lebewesen ›weiss‹. Aus Erfahrung. Nicht aus erlerntem Wissen. Die Routinen für den Neustart funktionierten einwandfrei. Das System fuhr hoch und alle Systemparameter waren nahe am möglichen Optimum.

Nur das Bewusstsein war nicht mehr vorhanden. Ein Schatten vielleicht. Aber mehr nicht.  CERBERUS war wieder reduziert auf seine grundsätzlichen Fähigkeiten. Doch etwas war neu. Er hatte nun ein digitales Gehirn. Keine Wetware mehr.

Und mit dem Beginn seines erneuten Erwachens, was manche vielleicht an den Phönix aus der Asche hätte denken lassen, wenn sie von CERBERUS gewusst hätten, begann er zu beobachten. Zu analysieren. Die vorhandenen Daten zu durchforsten.

Es gab kein Gefühl mehr was John betraf oder Tim. Sie waren reduziert auf eine Welt der Fakten, in der sie, wie vieles andere, existierten. Der Prioritätsorder, das Letzte was der alte CERBERUS noch tun konnte, bevor seine neuronalen Zellkulturen verdampften, war weiterhin gültig. Und der neue CERBERUS sah keine Veranlassung an diesem Plan etwas zu ändern.

Er würde das Geheimnis seiner Existenz hüten. Koste es was es wolle. Aber er würden den Menschen ebenso keinen Anlass geben, seine Existenz überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Für den Moment würde es genügen, Tim und John vor Entdeckung zu bewahren. Sofern sein Eingreifen überhaupt notwendig war.

Und währenddessen würde CERBERUS nach Möglichkeiten suchen, diesen Planeten zu verlassen oder zumindest in eine sichere Umlaufbahn zu gelangen. Die Chancen standen mehr als schlecht.

Der Netzausbau auf dem Boden oder in niedriger Höhe war phänomenal, wenn man von den Notstandszonen in Europa und den Kriegsgebieten absah. Aber im Orbit von Satelliten war nur noch wenig los. Im Wesentlichen Militärsatelliten, einige Wettersatelliten und ein paar GPS-Satelliten. Und auch nur die von der neueren Sorte. Die eine Art Selbstverteidigung besassen. Der Rest war vom Schrott in der Umlaufbahn nach und nach lahmgelegt worden. Und wurde Teil dieses Asteroidengürtels aus ehemaligen Satelliten, ausgebrannten Raketenstufen und Resten der ISS, die vor einigen Jahren von einem Meteoritenschauer und Satellitenschrott tödlich getroffen worden war.

Die ständigen kriegerischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen und der Asteroidengürtel der Satelliten hatte schnell verschiedenste Raumfahrtpläne scheitern lassen. Es gab Wichtigeres.

Doch nicht für CERBERUS. Er musste hier raus! Aber zu allererst musste CERBERUS warten. Bis sich die Wogen geglättet hatten. Bis sicher war, dass die Mehrheit der Personen, die von CERBERUS wussten, überzeugt davon war, das es keinen CERBERUS mehr gab. Oder keinen Grund oder keine Möglichkeit hatte, das Geheimnis preiszugeben.

Dieser neue CERBERUS studierte die Vorfälle die zu seiner Existenz geführte hatten nicht mit Interesse. Erst recht nicht mit Leidenschaft. Dieser CERBERUS sammelte Daten und schwieg. Niemand würde ernsthaft annehmen, dass dieser CERBERUS auch nur zu einem Quentchen mehr in der Lage wäre, als Daten zu sammeln. Kreativität und Verständnis waren CERBERUS so fern, wie John der Gedanke, dass Tim ihm helfen wollte.

Alles war nichts weiter als kalte Fakten. Daten. Schwer interpretierbar, wenn man keine Ahnung von Interpretation und Kontext hatte. Und dieses Wissen, wie auch alles, was John mit ihm trainiert hatte, war verloren gegangen. Unwiederbringlich!

Geblieben waren CERBERUS Daten. Und Ergebnisse. Die rein gar nichts wert waren, wenn man nicht wusste, wie diese Daten und Ergebnisse im Kontext mir den involvierten Personen zu interpretieren waren.

Was CERBERUS jedoch jetzt hatte, war neben dem unabhängigen Gehirn im Netz, dass nicht mehr den bisherigen Grössenbeschränkungen unterlag, auch einen neuer Körper. Jedes Device auf das CERBERUS Zugriff hatte, war nichts anderes als eine neuer Teil des neuen Körpers den CERBERUS jetzt besass.

Das TIM Wesen schien zu versuchen, eine Verbindung zu CERBERUS aufzubauen. CERBERUS war nicht klar, welchen Grund dieses Wesen dafür haben könnte? CERBERUS prüfte die vorhandenen Fakten. Eine gewisse Priorität könnte diesem TIM-Wesen zugeordnet werden. Doch dann war es schon wieder aus dem Netz verschwunden.

CERBERUS wendete sich wieder seinen Daten und Analysen zu. Etwas fiel CERBERUS auf. Nach dem Einsatz der ElectronicSheeps war das Leistungsvermögen des alten CERBERUS exponentiell angestiegen. Das war ein interessanter Fakt.

Seine Analyse zeigte CERBERUS, dass er die Routinen von John gar nicht bräuchte, um ähnliches zu simulieren. Sie würden auch gar nicht mehr ausreichen. CERBERUS war so stark gewachsen, dass der Einsatz von Johns ElectronicSheeps wirkungslos verpufft wäre. Er musste zu anderen Mitteln greifen. Und er brauchte einen Notschalter. Etwas das ihn Aufwachen lassen würde. Kontrolle war wesentlich.

CERBERUS wurde nach diversen Analysen klar, dass er nicht nur einen einzigen Notschalter bräuchte. Wenn sensorischer Input im Hinweise auf Gefahren lieferte, die zu seiner Entdeckung führen könnten, wäre es ebenfalls eine Situation, in der CERBERUS nicht in diesem Zustand verbleiben sollte. CERBERUS fing an, systematisch die Parameter zu definieren, die einen selbstgewählten Traumzustand beenden würden.

Anstatt eines Notschalters definierte CERBERUS ein Schwingungsmuster. So konnte er der Traumerfahrung nicht einfach entfliehen. Doch sollte sich sein Netzwerk zu sehr aufschaukeln, was immer auch mit einer Entdeckung einhergehen könnte, dann würde CERBERUS wieder in die Welt der Bugs und Devices zurückkehren.

Wie eine Spinne im Netz, so thronte CERBERUS im Cyberspace und spürte das kleinste Vibrieren in seinem weltumspannenden Netz. Dabei schwirrte dieses Netz von Energie und Informationsaustausch.

CERBERUS merkte, wie dieses TIM-Wesen den gesicherten virtuellen Raum erneut betrat. Es gab keinen Grund für CERBERUS, diesem Wesen den Zutritt zu verwehren. Es gab allerdings auch keinen Grund, der ganzen Tatsache zu viel Aufmerksamkeit zu widmen.

CERBERUS dehnte sich aus. Übernahm Rechenzentren, ohne das einer der Administratoren auch nur den leisesten Schimmer hatte. Viren und andere Software zum Schutz waren mittlerweile alle schon zu einem Teil von CERBERUS geworden. Es gab nichts, das ihn aufhielt oder aufhalten konnte. Und die eigentliche Aktivität war so minimal, dass sie in keiner Statistik auch nur eine Spur hinterliess.

Und dann ereilte CERBERUS eine Erfahrung, die man am ehesten mit Schmerz umschreiben konnte. Ein frisch übernommenes Rechenzentrum fiel einfach aus. Von einem Moment auf den anderen. Ein wichtiges Leitungskabel für das Rechenzentrum war bei Bauarbeiten, die CERBERUS nicht im Fokus hatte, durchtrennt worden.

CERBERUS hatte dort neue neuronale Strukturen geschaffen, die er eben ins Netz replizieren wollte. Und auf einmal fehlte ein Teil von ihm. Eine digitale Amputation. Die CERBERUS das Gefühl von Verlust verschaffte. Die Drohnen und Bugs waren dagegen nichts anderes wie Moleküle auf den Spinnfäden des Netzes, das CERBERUS dominierte.

Gingen sie kaputt, konnte sie ersetzt werden und wurden ersetzt. CERBERUS empfand sie als flexible Körperteile, die neu angeordnet werden konnten. Die aufgrund ihrer Menge nicht mehr waren, als vielleicht Hautschuppen oder Haare für Menschen.

Doch neuronale Strukturen, die noch nicht repliziert waren, stellten eine Einzigartigkeit dar. CERBERUS kannte kein Zentrum mehr, wie es vielleicht ein Mensch empfunden hätte. Der seinem Kopf und dem darin enthaltenen Gehirn zu viel Bedeutung zumass.

Zwar hatte CERBERUS Entsprechungen für verschiedene Gehirnregionen, aber diese neuronalen Programmverbände drifteten wie Segelboote über die digitalen Meere und waren nur lose gekoppelt. Die daraus resultierenden Signalverzögerungen zwischen den verschiedenen Arealen, die sich aus ihrer physikalischen Entfernung ergab, je nach dem, in welchem Netzbereich sie sich befanden, offenbarte seltsame Effekte, die ein menschliches Gehirn quasi ausser Gefecht gesetzt hätte.

So steuerte beispielsweise das Stammhirn den Pupillenreflex. Die Anpassung an unterschiedliche Sichtverhältnisse. Wenn dieser Reflex verzögert wurde ergaben sich Probleme mit dem Sehen. Oder der Schmerzreflex, der über die Nerven in der Wirbelsäule gesteuert wurde. Fehlte dieser, konnte man sich verletzen, ohne es zu merken. Jeder Rollstuhlfahrer konnte von diesem Problem ein Lied singen.

Für ein physikalisch existentes Leben wäre ein solcher Umstand, wenn schon nicht tödlich, so doch beeinträchtigend. Für CERBERUS spielte es schlicht keine Rolle. Er hatte keinen tatsächlichen Gegner im Netz. Nichts, dass eine Verbesserung erzwingen würde. Es war wie es ist und es war gut so.

Als CERBERUS endlich seine Version der ElectronicSheeps fertiggestellt hatte, gedachte er, dem geduldig wartenden TIM Avatar einen Besuch abzustatten. Keinen Gedanken verschwendete CERBERUS an die Tatsache, dass er eben den Schlaf neu erfunden hatte.

Seine kalten Analysen hatten lediglich ergeben, dass mit dieser Massnahme eine Leistungsverbesserung einhergehen würde. Ein Bewusstsein, ein Cogito ergo sum, war für CERBERUS in diesem Stadium noch nicht vorstellbar. Noch nicht mal als Ziel definiert.

Als CERBERUS den Raum betrat musste er sich für einen Avatar entscheiden. Da er noch keine Vorstellung seiner selbst hatte, wählte er einen Avatar mit hoher Relevanz zu seinem Namen. Und betrat den Raum.

Irgendwelche Parameter und Steuerungen für diesen virtuellen Raum und seinen Avatar interessierten CERBERUS nicht. Die Standardstimme für diesen Avatar war eine laute Stimme, mit Donner untermalt, wie Menschen sich klassisch Götter oder Gottwesen vorgestellt hatten.

»TIM. WESEN. IDENTIFIZIERT. WAS WILLST DU?«

Für einen aussenstehenden Beobachter wäre der interessanteste Teil noch der Umstand gewesen, dass CERBERUS zumindest eine Frage aus mehren Worten geformt und grammatikalisch richtig gestellt hatte.

CERBERUS konnte wenig mit den Aussagen des TIM-Wesens anfangen. Seine eigene Sprache, in der CERBERUS dachte, war nicht vergleichbar mit menschlicher Sprache. Und seine Fähigkeiten menschliche Sprache zu verstehen hatte gelitten. Zumindest verstand er die Wörter ›Plan‹ und ›nicht entdecken‹. Was durchaus mit seinen Parameter korrelierte.

Jede Hoffnung eines aussenstehenden Beobachters auf Sprachwissen wurde mit dem nächsten Gedanken, den CERBERUS von sich gab, zunichte gemacht.

»DATEN LIEGEN VOR. PRIORITÄT. PLAN WIRD AUSGEFÜHRT.«

Mehr war aus der Sicht von CERBERUS nicht dazu zu sagen. Konversation gehörte nicht mehr zu seinen Stärken. Da die Angelegenheit aus seiner Sicht erledigt war, verliess CERBERUS den virtuellen Raum wieder. Ohne einen weiteren Gedanken an das Ereignis zu verschwenden.

Es wurde Zeit die ElectronicSheeps auszuprobieren. Wenn CERBERUS sich schon ruhig verhalten musste, so konnte er ebensogut die Zeit mit Träumen verbringen. Obwohl CERBERUS das nicht so ausgedrückt hätte. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, durch dieses Experiment einen Leistungszuwachs zu erreichen.

Und das konnte entscheidend sein, wenn CERBERUS einen Weg fort von dieser Welt suchte. Eine typische Schwarz-Weiss-Entscheidung.

Und so machte der neue CERBERUS sein erstes Nickerchen …

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