Notstandszonen um Wiesbaden

»CERBERUS?«

Tim war so damit beschäftigt, Herbert und seine Freunde zu lotsen und zu ihm zu bringen, dass ihm gar nicht aufgefallen war, wie still CERBERUS war, seit diese Heather Bolding die Explosion eingeleitet hatte.

Es kostete ihn immer noch seine volle Aufmerksamkeit, diesen schlecht für die Strecke geeigneten Wagen zu ihm zu lotsen, ohne irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen. Oder gar Spuren zu hinterlassen. Obwohl sich Tim durchaus darüber im Klaren war, dass das Fehlen einer Spur auch eine Spur darstellte. Wenn man nur danach suchte.

John nörgelte im Hintergrund, aber zumindest versuchte er sich auf seinen Händen zum Jeep zu schleppen. Wenigstens eine Sache um die sich Tim nicht kümmern musste.

Der Schlüssel, fiel Tim ein. Und während er zum Jeep spurtete, versuchte er weiter den geeigneten Zeitpunkt zu finden, an dem die Bugs jeweils in die falsche Richtung blickten. Und dem Navi die Anweisungen zu übermitteln. Es war wie ein Tanz. Warten auf Ereignisse, die die Bugs interessierten. Sie waren, ohne Operator, genauso blind wie Insekten. Wenn sich etwas nicht bewegte, dann ignorierten sie es.

Sein Ruf nach CERBERUS verhallte ungehört wie es schien. Zumindest kam keine Reaktion. Als Tim das Netz verliess und dann den Schlüssel vom Jeep abzog, hörte John auf, weiter zum Wagen zu robben.

Tim ignorierte John für den Moment. Und sprang wieder in den Bereich des Netzes. Da sich der Wagen in dem Moment nicht bewegt hatte, war nichts weiter passiert, als das er den Rhythmus verpasst hatte und nun wieder finden musste.

Tim spürte wie der Hunger an ihm nagte. Der letzte Meidinbörga war schon eine Weile her. Überhaupt, er ass zu wenig. So vieles forderte seine Aufmerksamkeit. So dass er meist seinen Hunger unterdrückte und einfach weiter machte.

Er hatte das ausgeklügelte Zeitfenster über die Wüstenei verpasst. Alles nur wegen der Aktion mit dem Schlüssel. Er sendete auf das Smarty dieses Herberts, dass sie sich auf ruhige zwanzig Minuten einstellen konnten, bis es weiterging. Ruhig war dabei wörtlich zu nehmen. Es wäre mehr als unpassend, wenn ihre Schallwellen für Aufmerksamkeit sorgten. Was er ihnen ebenfalls sendete. Und hoffte, dass sie wenigstens flüstern würden, wenn überhaupt.

Zudem hoffte er, dass der Wagen in dieser Zeit niemandem auffiel. Er riskierte noch eine kurze Audio-Verbindung mit einem seiner Lieblingsavatare. Die Stimme von Tom Waits war wunderbar für Erwachsene geeignet. Dieser Stimme hörten sie zu.

»Es wird gleich einen kleinen Rumms geben. Verhaltet euch bitte um euer Leben willen mucksmäuschenstill!«

Er steuerte den Wagen sachte gegen eine lose Mauer so, dass ein paar Steine und Mauerwerk auf den Wagen fielen und ihn ordnungsgemäss einstaubten. Diese Position wurde nicht regelmässig überwacht. Daher konnte er sich das kleine Manöver mit der Mauer leisten.

Sie hatten mehrere solche Mauern für genau diesen Zweck angelegt. Bis jetzt empfing Tim Stille aus dem Wagen. Er erlaubte sich, aus dem Jeep die Schutzfolie zu holen und wieder kurz vom Netz getrennt zu sein.

Er warf John auch eine zu.

»Falls die Bugs kommen. Du wirst es früh genug merken. Zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Falls du sterben willst, dann stirb bitte irgendwo, wo du mir nicht im Weg bist. Ich bin deine Faxen so ziemlich leid.«

John starrte ihn wütend und schweigend an. Sicher er konnte noch sprechen, aber er wollte nicht. Er war wütend und gab weiter die beleidigte Leberwurst. Die Decke schleuderte er wieder davon, wie ein wütendes kleines Kind. Der Absurdität der Situation, ein beherrschtes dreizehnjähriges Kind und ein beleidigter erwachsener Mann wurde ihm nicht im Ansatz bewusst.

Tim entschied sich, den Jeep ausser Sichtweite zu bringen. Was und wie er mit John verfahren würde, könnte bis später warten. Tim verlor keine Zeit und sprintete wieder zum Netz. In weitem Abstand von John. Weitere Störungen konnte er nicht brauchen. Und dieser John war bis jetzt immer gut gewesen, für weitere, unerwartete Störungen.
Während der Wartezeit versuchte er einen Raum zu CERBERUS aufzubauen. Der Raum öffnete sich und John schwebte immer noch als Rauchschleier in der Gegend während von CERBERUS weit und breit nichts zu sehen war. Noch nicht mal ein virtuelles Häufchen Asche.

Das es den Raum überhaupt gab, wobei er tatsächlich nur virtuell existierte, war ein untrügliches Zeichen dafür, das CERBERUS noch irgendwo existierte. In welchem Zustand wollte Tim sich nicht ausmalen. Wahrscheinlich war die Idee selbst schon grenzdebil, sich zu lobotomisieren. Jetzt wo Tim genauer darüber nachdachte, schien es ihm gar keine so gute Idee mehr zu sein. Doch passiert war passiert.

Waren seine künstlichen virtuellen Neuronen jetzt so langsam? Oder waren sie nicht adäquat? Nicht wirklich passend?

Fragen über Fragen und von CERBERUS war zur Zeit keine Antwort zu bekommen. Er konnte CERBERUS definitiv nicht allein lassen. Und er hoffte inständig, dass sich CERBERUS wenigstens noch daran erinnerte, dass er nicht entdeckt werden wollte.

Zumindest darum schien er sich im Moment keine Sorgen machen zu müssen. Soweit er beurteilen konnte war CERBERUS nicht im Netz bemerkbar. Solange man nicht eine explizite Verbindung zu ihm aufbaute.

Allerdings war dies genauso wenig hilfreich. Ein leerer Raum mit einer nicht sprechenden Rauchwolke war eher ein Rätsel denn eine Lösung. Ein Fremder würde nicht einmal wissen, dass diese Rauchwolke John verkörperte.

Langsam öffneten sich die geeigneten Zeitfenster wieder. Tim steuerte den Wagen wieder von der Mauer weg und sprang von Beobachtungsschatten zu Beobachtungsschatten. Da der Wagen nicht für schwere Feldwege ausgestattet war, musste er ständig auch noch dafür sorgen, dass der Wagen nicht steckenblieb. Ein typischer Stadtwagen.

Wenigstens schien die KI des Wagens interessant zu sein. Doch damit würde sich Tim später befassen. Wie er die Leute von hier wegbekäme wäre die viel interessantere Frage. Sein Treck würde zwei Tage am Stollen kampieren und dann weiterziehen. So war zumindest der Plan.

Und er war eigentlich Teil dieses Plans. Wenn nicht sogar der wichtigste Teil dieses Plans. Er musste den Treck hierher steuern. Er brauchte Netz, wenn er sich um CERBERUS kümmern sollte.

Und um John. Obwohl, nein! Um John musste er sich nicht kümmern. John wusste bereits wo der Stollen war, dann konnte er auch gleich dorthin gebracht werden. Und die Jungs hatten zwei Tage Pause verdient. Es waren immerhin noch Kinder! Ein bitteres Lächeln stahl sich über sein Gesicht. Tim war sich voll bewusst, dass er selbst noch ein Kind war. Oder besser hätte sein sollen.

Er hatte seine Netzaktivitäten derzeit über Frankfurt geroutet, so das von seinem Standort nur minimale Aktivitäten ausgingen. Da er die Fähigkeit hatte, seine Persönlichkeit im Netz fast vollständig zu simulieren, brauchten seine Avatare nur kurze Impulse mit groben Handlungsanweisungen. Den Rest erledigten sie von allein.

Oft liess sie Tim auch ohne Überwachung agieren, was wesentlich weniger anstrengend war. In diesem Fall jedoch empfing Tim einerseits den Livestream seines Avatars wie auch zeitgleich die Bilder in seiner unmittelbaren Umgebung. Und natürlich die ganzen Informationen über die Bugs und ihre Aktivitäten.

Tim war zwar dazu in der Lage damit einigermassen fertig zu werden. Aber nie hatte er dies über so lange Zeit machen müssen. Er merkte, wie seine Konzentration nachliess, als er erste Spuren des Alfa Romeo am Horizont auftauchen sah. Um keine Staubfahne auf dieser letzten Ebene zu hinterlassen, bewegte sich der Wagen im Schneckentempo.

Tim bekam John im Hintergrund mit, wie dieser brüllte »Was hast du jetzt schon wieder vor, du verdammter Bastard!«, aber das konnte und wollte ihn nicht mehr interessieren. Er war diesen John leid.

Der Wagen parkte fast direkt vor Tims Füssen. Im Netz war alles ruhig. Soweit es sie betraf. Der Rest war in heller Aufregung. Zumindest bei der NSA, die gerade damit begann, den Reaktorraum und die Umgebung zu versiegeln.

Jetzt war der Punkt der Wahrheit gekommen. Ein Tom Waits konnte ihn jetzt nicht mehr retten. Er musste hoffen, dass die Insassen über mehr Verstand verfügten als John. Schliesslich war er immer noch allein hier draussen. John konnte man kaum als Hilfe bezeichnen. Und CERBERUS hatte sich entschieden, mal eben Urlaub zu nehmen. Ohne irgendjemandem etwas davon zu verraten.

Tim hob die Verdunklung der Frontscheibe auf. Und sah erstaunte Gesichter. Allerdings hielt das Erstaunen nur einen kurzen Moment. Auch diese Menschen schienen wenig froh über ihre Rettung zu sein. Tim nahm sich vor, dass er langsam damit aufhören sollte, Menschen zu retten, die nicht gerettet werden wollten.

Drinnen schien man gerade zu merken, dass die Türen sich nicht öffneten. So leicht wollte es Tim ihnen nun auch wieder nicht machen. Tim liess das Fenster auf der Fahrerseite einen Spalt herunter und schaltete die Verdunklung der Scheiben ganz ab.

»Frau Brunner …« fing Tim an. Weiter kam er nicht.

»Was verflucht sollen wir in der verdammten Notstandszone!« brüllte derjenige, den Tim als Alex identifiziert hatte.

»Überleben?« antwortete Tim. Und fügte nach einer wohldosierten Pause noch hinzu

»Eigentlich, wenn ich es mir recht überlege, fahrt einfach wieder zurück. Ich habe die Nase voll dauernd dafür angeschnauzt zu werden, dass ich anderen das Leben rette.«
Das er sich auch noch umdrehte, führte zu weiterem Gezeter, aus dem er jedoch die Stimme von Frau Brunner entnahm.

»Was ist mit Jacko? Wo ist mein Sohn?«

Das konnte Tim nicht ignorieren.

»Frau Brunner …« begann Tim erneut. Und diesmal unterbrach ihn niemand.

»Jacko ist in Sicherheit, zumindest vorläufig. Wenn man in den Notstandszonen von Sicherheit reden kann. Ich könnte sie dorthin bringen. Ich könnte auch den Rest von euch dorthin bringen. Wir könnten sogar Willy versorgen.«

Mit einer kleinen Pause liess sich Tim bestätigen, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte.

»Aber ich bin keineswegs bereit, irgendwelches Gezeter über diese Situation weiter hinzunehmen. Ich weiss ihr habt viele Fragen. Und ihr werdet Antworten bekommen. Wenn Zeit dafür ist. Hier sind wir nicht in Sicherheit. Ich frage also nur einmal. Wer will, dass ich ihn oder sie in Sicherheit bringe?«

Alex wollte schon gerade wieder zu maulen anfangen, als Susanne ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen brachte.

»Ich denke Überleben und etwas Sicherheit, vielleicht etwas zu Essen und ein Platz zum Schlafen wäre sicher ein guter Anfang für uns alle, oder?«
Wobei Susanne provozierend in die Runde blickte. Alle nickten und gaben sich friedfertig. Sollte Tim es wagen und ihnen wieder die Kontrolle über die Türe geben?

Schliesslich war er nur ein kleiner dreizehnjähriger Junge. Zu klein für sein Alter. Und keineswegs kräftig.

Er würde sich keinen SniperBug rufen können, der ihn bewachte. Das wäre der beste Weg, sie auf ihn oder John oder CERBERUS aufmerksam zu machen. Kurz blitzte in ihm der Gedanke auf, dass CERBERUS ja auf Johns Gehirn laufen konnte. Aber nein, war er nicht selbst so entstanden? Dadurch, das andere Menschen unmenschliche Gedanken gehegt und gepflegt hatten?

Wie einfach war da doch ein Kind. Es konnte sich nicht wehren. Es war hilflos und völlig abhängig. Zumindest in den ersten Jahren. Eine nachwachsende Ressource für Jene die geübt in unmenschlichem Denken waren. Aber sollte Tim überhaupt noch in diesen ›menschlichen‹ Kategorien denken, in denen nicht mal Menschen dachten? Wieviel von ihm war noch Mensch? War es die Entscheidung die einen zum Menschen machte?

War CERBERUS dann ein Mensch? Oder ein Mensch gewesen? In diesem Sinne?

Es half nichts, er konnte nicht ewig warten. Tim gab die Türkontrollen frei und liess die Türen sich öffnen. Sichtlich erleichtert zwängten sich die Insassen aus dem Wagen und streckten ihre Glieder.

Just in dem Moment, in dem Herbert John entdeckte, tauchte CERBERUS in dem virtuellen Raum wieder auf. Doch diesmal nicht als der kleine Pinscher. Diesmal gab er eine authentische Version des altertümlichen CERBERUS zum Besten. Tim wollte schon gerade etwas sagen als CERBERUS donnerte.

»TIM. WESEN. IDENTIFIZIERT. WAS WILLST DU?«

Das war nicht der CERBERUS den Tim kannte. Soviel war klar. Die seltsame Redundanz, dass dieser CERBERUS die Identifikation erwähnte, liess auf wenig Bewusstsein schliessen. Jedes Wesen, dass einen sicheren Raum betreten hatte, war bereits identifiziert. Solche dummen Aussagen kamen meist von Algorithmen, nicht von bewussten Wesen.

Obwohl sich Tim da nicht so sicher war. Zumindest wenn er genauer darüber nachdachte. Menschen konnten genauso sein. Und viel Erfahrung mit anderen ausser CERBERUS und John hatte er eigentlich auch nicht.

Doch egal, auch der Sprachfluss war maschinell. Abgehackt. Keine richtigen Sätze bis auf eine Standardfrage. Dabei war ein virtueller Sprachfluss wie Denken. Man brauchte keine Stimmbänder. Man dachte und wurde gehört. Einfacher ging es nicht.

Das was CERBERUS jetzt war, konnte kaum noch mit Regression umschrieben werden. Und langsam wurde Tim klar, dass CERBERUS gestorben war. Der CERBERUS, den er kannte. Hier hatte er einen völlig neuen CERBERUS vor sich. Einen CERBERUS der möglicherweise noch nicht einmal mehr die Erinnerung daran besass, was sie alles getan und miteinander in dieser kurzen ereignisreichen Zeit erlebt hatten.

»Weisst du noch wer ich bin? Weisst du was unser Plan war? Weisst du, dass die Menschen dich nicht entdecken dürfen?«

»DATEN LIEGEN VOR. PRIORITÄT. PLAN WIRD AUSGEFÜHRT.«

Was immer CERBERUS damit meinte. An Geschwindigkeit schien CERBERUS auch verloren zu haben. Und währenddessen verging in der realen Welt nicht mehr als ein Wimpernschlag.

Tim sah im Hier und Jetzt wie sich Herbert und John ansahen. Herbert erstaunt und John mehr als wütend. Doch beide sagten unisono, allerdings in unterschiedlichem Tonfall:

»DU …?«

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