Stollen im Taunusgebirge

»Ich hoffe doch schwer …« bemerkte Heinrich während er auf einem Meidinbörga kaute »… das wir hier länger als nur ein paar Monate bleiben können …«

Was seitens Jacko und Peer doch düstere Blicke hervorrief. Sie waren doch gerade erst angekommen? Und schon hiess es, das man wieder weiter müsste?

»Mach dir keine Sorgen, Jacko.« antwortete Heinrich auf Jackos Blick. Dann zog er die Stirn kraus und blickte etwas verkniffen.

»Entschuldige einen schwarzseherischen alten Herren, der sich nach nichts mehr sehnt, als einfach irgendwo mal angekommen zu sein. Und dessen Erfahrungen zu ständigen Befürchtungen führen, das gerade gewonnene Paradies wieder zu verlieren.«

Das war jetzt nichts, was Jacko beruhigen konnte. Sein ganzes Leben bestand aus einer ewigen Rechthaberei von Schwarzsehern. Er war jetzt lediglich auf einem neuen Level angekommen. Wie in diesen Scheissspielen. Immer wenn man dachte, es konnte nicht schlimmer kommen, kam man nur auf ein neues Level und es wurde noch schlimmer.

Hier sassen sie nun. Trotz der Rivalitäten mit Aziz. Irgendwie hatte es sich fast gut angefühlt. Bis Heinrich mit seinen Befürchtungen anfing. Aber vielleicht sollte Jacko dies einfach nur ertragen. Einfach nur akzeptieren, dass es hier so Menschen wie Heinrich gab. Von denen nur Schwarzseherei zu erwarten wäre.

Wahrscheinlich gab es die überall wurde Jacko klar. Währenddessen schwadronierte Heinrich schon munter weiter.

»… eigentlich war es alles schon lang erkennbar. Lange vor den Notstandszonen. Lange vor 9/11. Lange vor meiner Geburt.«

Heinrichs Blick fiel auf Jacko. Irgendwie meinte Jacko ein Bedauern zu erkennen. Ob wegen der unbedachten Äusserung oder ihrem Wahrheitsgehalt konnte Jacko nicht ausmachen.

»All die Kriege …« fuhr Heinrich fort, ohne sichtbar Atem zu schöpfen »… es ging ja direkt weiter. Nach dem zweiten Weltkrieg. Indonesien, Griechenland, Indochina-Frankreich, Indien-Pakistan, Palästina, Korea, Algerien, Zypern, die Sueskrise, Ungarn, Kuba, Spanien-Marokko, Vietnam, Tibet, Namibia, Guatemala, Eritrea, UN-Katanga, Schweinebucht, Angola, Indien-China, Algerien-Marokko, Kolumbien, Tschad, der Sechstagekrieg und da sind wir erst bei meiner Geburt, also im Jahr 67.«

Alle am Tisch machten grosse Augen. Keiner konnte mit den Begriffen die Heinrich aufgezählt hatte, irgendetwas anfangen. Keiner von ihnen hat auch nur den Hauch einer Ahnung, was diese Begriffe bedeuteten. Aber zumindest schien klar, dass es irgendwelche Kriege bezeichnete. Wo auch immer die stattgefunden haben mochten.

Doch woher wusste Heinrich das eigentlich, dachte sich Jacko, wenn er doch bis dahin noch gar nicht geboren war?

»Den Biafra-Krieg in Nigeria habe ich fast vergessen, auch in meinem Geburtsjahr. Und dann war dann noch Che Guevara, den haben sie wohl erschossen an dem Tag, an dem ich geboren wurde …«

Heinrichs Redefluss verstummte kurz. Scheinbar wurde ihm selbst klar, dass ihn keiner hier verstand.

»Kriege, es waren einfach Kriege. Ständig. Überall auf der Welt. Ohne Unterlass. Und ständig mussten Menschen flüchten. Oder sterben. Also genau wie heute.« schloss Heinrich mit einem verschmitzten Schmunzeln.

»Ach? Wie ich das weiss?« hakte Heinrich nochmal ein und fuchtelte mit den Händen, während er die immer noch grossen Augen am Tisch zur Kenntnis nahm.

»Ich war mal Historiker. Ja klar, sagt euch auch nichts. Ich habe die Geschichte studiert. Die Geschichte der Menschheit? Ab dem neunzehnten Jahrhundert. Vor allem. Versteht ihr nicht? Nee?«

Wie sollte in der heutigen Welt auch nur irgendjemand ansatzweise verstehen, dass man Zeit haben konnte, so etwas komisches wie Geschichte zu studieren? Die Jungs aus der Stadt hatten ihr Governpedia. Dort fanden sie alles, was sie wissen mussten. Oder wissen durften. Je nachdem wie man die Sache sah.

Und die Kidz? Die hatten ganz andere Sorgen. Geschichte bestand hier aus kleinen Heldensagen. Und Alltäglichem. Aus der Weitergabe von nützlichem Wissen mit begrenzter Haltbarkeit. Der Rest? Unwichtig.

Heinrich widmete sich wieder seinem Essen und Jacko fühlte sich mehr als fehl am Platz. Dabei hatte es so gut angefangen. Fast hätte Jacko den Fehler begangen, sich hier zuhause zu fühlen. Die anderen am Tisch ahmten Heinrich nach und interessierten sich ebenfalls für ihr Essen. Ausser Aziz.

»Willste damit sagen, dass du Schuld an dem ganzen Schlamassel bist, oder was? Darf ich mich bei dir bedanken oder was soll der Scheiss?«

Heinrich hob müde seinen Blick. Wahrscheinlich hatte dieser Knirps auch noch Recht. Wahrscheinlich war Heinrich nur auf Absolution aus. Sicher konnte er nichts dafür, was vor seiner Geburt passiert war. Aber danach ging es ja weiter.

Die Kriege wurden immer asymmetrischer und so lange es nicht vor der Wohnungstür passierte, war man nur leidlich interessiert. Damals, als es noch keine Notstandszonen gab. Man regte sich vielleicht auf, wenn ein totes Flüchtlingskind an den Strand geschwemmt wurde. Aber das war es auch.

Und er war hier genauso schuldig geworden. Durch Nichtstun. Denn Schweigen, wie Heinrich mittlerweile wusste, war immer Zustimmung. Auch wenn man sich mit einem angewiderten Blick abwendete. Mittlerweile war Heinrich klar, dass er hätte auf die Strasse gehen müssen, sich hätte wehren müssen, als noch die Zeit dafür war. Als es noch Möglichkeiten gab sich, das Schicksal zu verhindern, das sie jetzt ereilt hatte.

Und Heinrich gedachte, diesen Fehler nie zu wiederholen.

»Ich hätte da eine verquere Logik.« antwortete Heinrich, wobei er Aziz fixierte »Wenn wir schon nicht mehr verantwortlich gemacht werden können, für alles Gute und Schlechte, was wir unseren Nachfahren hinterlassen, dann wäre es doch nur mehr als gerecht, wenn wir für all dies verantwortlich wären, was unsere Vorfahren angestellt haben. Das Gute wie das Schlechte. Denn zumindest haben wir eindeutig auch von dem Guten profitiert. Es wäre so eine Art Generationenvertrag. Insofern hast du durchaus Recht, Aziz.«

»Ich hab hier von nix profitiert, hey! Echt. Hab immer nur draufgezahlt. Immer weniger als vorher gehabt. Du vielleicht, Heinrich. Du hast bestimmt mal gut gelebt. Aber mach mich nicht verantwortlich, für irgendwas, das ich nich getan habe, klar?« erwiderte Aziz mit einem provokanten Blick.

Es war hoffnungslos, dachte Heinrich. Dabei hätte man aus der Geschichte so viel lernen können. Konnte man lernen. Aber alles, was aus der Geschichte gelernt wurde, war die noch bessere Anwendung von Kriegstaktiken und deren Weiterentwicklung.

Langsam fragte sich Heinrich, ob Historiker nicht ein militärischer Beruf war? Es wurden ja sowieso nur die Siege aufgelistet. Die Position und Geschichte derer, die Niederlagen erlitten, war schon bald vergessen. Eine nicht fortgeschriebene Episode.

Möglicherweise, dachte Heinrich weiter, machte es man dem Militär mit dem Studium und dem Aufschreiben der Geschichte ja nur um so leichter, neue Taktiken und Grausamkeiten zu entwickeln? Oder altbekannte Grausamkeiten weiterzuentwickeln.

»Nun, du lebst hier, Aziz.« meinte Heinrich scharf. So leicht wollte er es diesem widerspenstigen Jungen auch nicht machen. Wenngleich sein Schicksal ihm jedes Recht gab, ein wütender junger Mensch zu sein. Seine Eltern waren den Säuberungsaktionen der Türken zum Opfer gefallen, als diese ihr Gebiet in das ehemalige Syrien ausdehnten und gnadenlos alle Kurden verfolgten. Aziz wurde einfach übersehen.

Ein türkischer Moslem, der sich in Rojava niederliess, fand den verängstigten Jungen. Der damals ungefähr drei Jahre alt war. Er hatte sich in einer Kiste versteckt gehabt und konnte beobachten, wie seine Eltern hingerichtet wurden.

Als die Truppen abgezogen waren, trieb er sich in den Häusern und Kellern herum bis die Siedler kamen. Seinen wirklichen Namen wusste Aziz nicht. Seinen Namen bekam er von dem türkischen Moslem, der sich seiner annahm. Bis Aziz hörte, dass die Festung Europa nicht mehr existierte und sich auf den Weg nach Europa machte. Mit dem Segen seiner Stiefeltern. Und in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Den das ehemalige Syrien blieb weiter ein Kriegsschauplatz.

»Willst du nach oben? Allein? Mit nur dem was du besitzt?«

Aziz schaute Heinrich weiter an. Mit einer Bitterkeit, die Heinrich fast hätte wanken lassen.

»Erzähl mir nichts von wegen nicht profitieren. Hast du das Essen besorgt? Zubereitet? Irgendetwas dafür getan ausser den Mädchen schöne Augen zuzuwerfen und andere deine Arbeit machen lassen? Ich kann gern Tim fragen, ob er dich in eine andere Zone mitnimmt. Wenn du der Meinung bist, dass du hier nicht profitierst!«

Aziz war mittlerweile doch etwas bleich geworden.

»Und das Essen kannst du dann auch weglegen. Dann sei bitte auch so konsequent. Ansonsten geh mir nicht mit deinen blöden Opfergeschichten auf den Wecker, klar?«

Jacko merkte zwei Dinge. Zum einen schien Aziz das völlig klar zu sein. Er hatte den Bogen einfach überspannt. Sein betretenes Schweigen sprach Bände. Zum anderen wurde Jacko klar, dass man Heinrich wohl nicht unterschätzen sollte. Wenn das, was er gesagt hatte, nicht in seiner Macht gestanden hätte, dann hätte Aziz bestimmt nicht klein beigegeben.

Fast tat Aziz Jacko ein wenig leid. Fast. Und dann wurde es auf einmal hektisch.

»Neuankömmlinge!« hallte es durch die Gänge.

Alle verliessen den Tisch. Nicht ohne sich für den Weg noch mit Proviant zu versorgen. Und machten sich auf zu dem Eingang in den Stollen. Den Eingang, den auch Jacko und Peer genommen hatten.

Jacko und Peer blickten sich fragend an und brauchten einen Moment, ehe sie sich dem allgemeinen Gewusel anschlossen. Einfach dem Herdentrieb folgten.

Sie hatten keine Ahnung, wer durch diesen Eingang kommen würde …

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