Gesicherte Bezirke, Wiesbaden

Zum Wagen hetzen wäre zu viel gesagt gewesen. Mit Willy im Schlepptau kamen sie nur leidlich voran. Doch jeder bemühte sich ein hohes Tempo vorzulegen.

Der Alfa Romeo seines Onkels war beileibe kein grosses Familienauto. Zu zweit wunderbar. Mit mehr Leuten eher anstrengend. Und natürlich nur Vordertüren. Willy auf den Rücksitz zu verfrachten war unmöglich. Zumindest ohne Willys Hilfe.

Und von Willy hörte man nur ab und an leises Stöhnen. Also hievten sie ihn, so gut es ging, auf den Beifahrersitz, sich völlig bewusst, dass sie sofort geliefert wären, wenn irgendjemand sie anhalten würde.

Während sie sich abmühten, Willy anzugurten und einzusteigen, ertönte aus Herberts Smarty eine rauchige tiefe Stimme, die allen irgendwie bekannt vorkam.

»Verbindet das Smarty mit dem Car. Und beeilt euch bitte! Ich kann euch nur begrenzt schützen. Und das wird zunehmend schwieriger! Die NSA ist in heller Aufruhr.«

Kaum waren sie eingestiegen und hatten das Smarty auf die Konsole gesteckt, erwachte das Auto zum Leben. An Schlaf, so wie auf der Fahrt ins Krankenhaus, konnten weder Herbert noch Susanne denken. Auch Alex war hellwach, obwohl sich alle hundemüde fühlten und am liebsten in ein gemütliches Bett gekrochen wären.

»Hey …« warf Alex ein, indem er sich leicht vorbeugte »… war das nicht eben die Stimme von Tom Waits?«

Susanne nickte nur, war aber in Gedanken ganz woanders. Herbert, froh um die Ablenkung von ihrer eigentlichen Situation, nahm den kümmerlichen Faden eines Gesprächs auf.

»Klar, Mann, dachte mir noch. Hmmm, die Stimme kenn ich doch irgendwo her? Kann ja nur heissen, dass unser ominöser Helfer einen Avatar verwendet …«

Und da war Herbert schon wieder bei dem Thema, dass er eigentlich vermeiden wollte. Sie rollten mittlerweile die Ausfahrt des Parkhauses entlang und Herbert bekam richtig Muffensausen. Würden sie die ganze Zeit so langsam durch die Gegend zuckeln? Dann könnten sie ja gleich mit einem Schild winken ›Bitte verhaften!‹.

Plötzlich verdunkelten sich die Scheiben. Herbert hatte gar nicht gewusst, dass diese alte Karre soviel Tricks drauf hatte. Und wieder ertönte die Stimme von Tom Waits.
»Ihr holt eine Renate Brunner ab. Je länger ihr braucht, um sie zu überzeugen mitzukommen, desto problematischer wird es für euch, aus diesem Schlamassel mit heiler Haut herauszukommen.  Sagt ihr Grüsse von Jacko und wenn sie mitkäme würde sie ihn wiedersehen und wäre sicher vor dem Kassierer.«

Allesamt verstanden sie die Welt nicht mehr. Wie jetzt? Waren sie nicht allein auf der Flucht? Mussten sie jetzt diese Frau überzeugen, dass ihr Gefahr drohen würde? Ein wildes Stimmengewirr hob an. Es wurden so viele Fragen gleichzeitig in den Raum geworfen, dass es schon schwierig war, zu erkennen, dass es sich überhaupt um Fragen handelte.

»Stop!« fuhr ihnen Tom Waits in die Parade.

»Für Frage-Antwort-Spiele ist später noch Zeit genug. Macht was ich euch sagen oder versucht selbst euer Glück. Soll ich euch die Kontrolle über das Fahrzeug geben?«
Man hätte eine Stecknadel fallen hören, so still war es auf einmal. Begossene Pudel strahlten mehr Würde aus als Alex und Herbert in diesem Moment. Nur in Susanne regte sich Widerstand.

»Zeit ist knapp, wie?« Susanne beugte sich energisch vor und strich sich das Haar zurück. »Na dann drück ich mich mal knapp aus! Je mehr wir wissen, desto besser können wir diesen Extrajob machen, den wir nicht angefordert haben!«

»Das ist in den meisten Fällen richtig.« tönte es aus der Soundanlage des Autos. »Aber nicht in diesem Fall. Leider. Die Frau wohnt in der Hollerbornstrasse 50B, im vierten Stock. Nur einer geht raus und holt sie. Der nimmt das Smarty mit. Wichtig ist, dass derjenige genau den Anweisungen des Smarty folgt. Ich kann die Überwachung nicht manipulieren, aber ich weiss, wann sie wohin schauen! Und nur so nebenbei, ich habe weder euch noch Frau Brunner angefordert!«

Betretene Blicke und noch betreteneres Schweigen. Ausgerechnet in diese zwielichtige Gegend. Zumindest heutzutage. Zu nahe an dem Slumgürtel. Die Gegend um die Lutherstrasse war ja schon nicht ganz koscher. Aber in die Hollerborn? Das wäre ja fast so krass, wie das Gebiet um Teile der Anne-Frank-Strasse herum!

»Noch Fragen?« meinte ein locker wirkender Tom Waits.

»Also nur um sicher zu gehen. Wenn das Smarty Stop sagt, dann heisst das Stop. Oder Zurück oder was auch immer. Es mag demjenigen komisch vorkommen. Aber seid versichert, es ist alles andere als komisch. Und immer aufrecht gehen und nach unten schauen. Sowenig Fläche wie möglich bieten.«

Mittlerweile waren sie froh um die verdunkelten Fenster. Alex musste an ein Buch denken, dass er mal gelesen hatte. Per Anhalter durch die Galaxis oder so. Da gab es Sonnenbrillen, durch die man gar nichts mehr sah. Was den Vorteil hatte, dass man damit immer cool aussah. Wie cool jetzt diese Aktion würde, das wüssten die Götter. Zumindest war die Stimme cool, die ihnen diese schrägen Anweisungen gab.

Und irgendjemand würde gehen müssen. Das sickerte so langsam in ihren Denkmuskel. Alex war der Erste, der sich dazu äusserte.

»Eigentlich bin ich überhaupt nicht scharf darauf irgendeine unbekannte Frau zu überzeugen, zu uns in das beengte Auto zu steigen!«

»Das war ja klar!« blaffte Susanne, während sie Alex mit Blicken aufspiesste. »Die wirklich schwierigen Sachen überlässt man gern Anderen, gell? Aber wenn’s um’s Posen und Testosteron verspritzen geht, da sind wir dann ganz vorne dabei!«

»Susanne …« versuchte Herbert zu beschwichtigen »… das sollte eher jemand mit Fingerspitzengefühl machen, meinst du nicht?«

»Ach nee!« Alex streckte sein Kinn angriffslustig vor. »Jetzt habe ich also auch kein Fingerspitzengefühl. Na danke auch! Aber klar. Du, Herbert! Du hast das ja. So richtig. Echt …«

Der Rest war schimpfendes Gemurmel in dem man die Wort Arschlöcher, Idioten und Vollpfosten erahnen konnte. Währenddessen verkündete das Navi das noch fünf Minuten Fahrzeit verblieben. Tom Waits schien wieder ins Nirvana verschwunden zu sein.

Drei Minuten verbrachten Herbert und Susanne in andächtigem Schweigen, während Alex wütend auf sein Ebenbild in der verdunkelten Scheibe starrte. Herbert musste sich eingestehen, dass Alex nicht Unrecht hatte. Der geborene Diplomat war er wirklich nicht. Wenn er da nur an die Szene bei Tisch zurückdachte. Als er Alex vor versammelter Mannschaft die Mietrückstände um die Ohren gehauen hatte. Fingerspitzengefühl konnte man das nicht nennen. Diplomatisch erst recht nicht.

Für Susanne war das Malheur eigentlich klar. Warum hatte sie auch rumgiften müssen? Schliesslich war sie auch nicht scharf auf diesen Job. Am Ende hätten sie Alex noch dazu breitklopfen können. Mit ein bisschen Fingerspitzengefühl. Genaugenommen hatte sie ja gerade eher das Gegenteil bewiesen. Und trotzdem würde es wohl an ihr hängen bleiben.

Die Blicke von Herbert, die manchmal zwischen ihr und Alex hin und her schweiften, verrieten Susanne zumindest, dass auch Herbert nicht gedachte, derjenige zu sein, welcher.

»Bevor ihr jetzt auf die blöde Idee kommt, dass Frauen sowieso besser mit Frauen können - glaubt mir, das ist ein Mythos. Eine Urban Legend. Eine nette Fantasievorstellung …«

Alles was Susanne daraufhin erntete, waren treudoofe Dackelblicke. Und zwar von beiden. Alex wie Herbert. So fühlte sich eine Verschwörung an, dachte Susanne. Sie versuchte standhaft diesen Blicken ein wutfunkelndes Starren entgegenzusetzen, als das Navi just diesen Moment nutze, um zu verkünden:

»Fahrtziel erreicht.«

Auf Herberts Lippen formte sich ein schüchternes »Bitte …«, während Alex nur weiter treudoof schaute.

»Na gut, ich mach’s ja schon! Ausserdem sitze ich ja eh vorne.« Susanne schnappte sich das Smarty und wollte schon die Tür öffnen, als das Smarty blinkte und ›STOP‹ anzeigte.

Als Stop durch Jetzt ersetzt wurde machte sich Susanne auf den Weg, der wie es schien, ein kurzer werden würde. Bis das Smarty anfing, sie im Zickzack über den Parkplatz zu lotsen. Es fing langsam an, echt nervig zu werden. Das Diplomatie-Level von Susanne sank beständig auf diesem Weg zur Tür. Und war bei Null angelangt, als sich die Tür vor ihr öffnete. Wie als wenn sie ein registrierter Bewohner gewesen wäre.

Sofort war auch ein Aufzug parat, der schon wusste wo Susanne hinwollte. Durch das ganze Hin und Her des Weges, den das Smarty sie geführt hatte, war sie garnicht dazu gekommen, zu überlegen, was sie dieser guten Frau jetzt sagen sollte. Wie ihr im Lift siedend heiss einfiel. Die Tatsache, dass ihr immer noch nichts eingefallen war, machte es nicht besser.

Das Navi führte sie in eine Ecke des Lifts. Sie hoffte inständig, dass das wirklich funktionieren würde. Unwahrscheinlich dachte sie. Bei den vielen Kameras in den heutigen Aufzügen. Bei den vielen Kameras überall heutzutage!

Sie hörte wie der Lift zweimal die Tür öffnete, bis er ihr endlich den Befehl gab, in den Hausflur zu treten. Was für ein Kasperltheater, dachte sich Susanne, während sie sich gerade noch davon abhielt, ihre Haare zurückzustreifen. So wenig Fläche wie möglich! Und damit war natürlich Fläche zur Gesichts- und Personenerkennung gemeint.

Das die Tür zur Wohnung der Frau automatisch aufging, beunruhigte dann nicht nur Susanne. Renate Brunner war ebenfalls mehr als überrascht. Susanne bekam schon einen Moment später Angst, die arme Frau würde an einem Herzinfarkt oder aufgrund von Schock sterben.

Bleich taumelte Renate Brunner auf einen Stuhl zu, wobei sie sich, während dem Setzen, am Tisch festklammerte. Wohnungen waren heutzutage meist so klein, dass man immer schon direkt im Wohnzimmer oder Schlafzimmer stand, wenn man durch eine Tür eintrat.

»Ist es soweit?« stammelte sie.

Besser hätte es für Susanne nicht laufen können. Diese Frau schien den Tod zu erwarten. Kein freiwilliger Tod, wenn Susanne das richtig interpretierte.

»Nein, aber wenn sie nicht wollen, dass es bald soweit ist, dann sollten sie mit mir kommen. Ich soll ihnen Grüsse von Jacko bestellen. Er ist an einem sicheren Ort.«

Doch so leicht lief es dann doch nicht. Anstatt, wie Susanne erwartet hatte, ihre Habseligkeiten zu packen und froh zu sein gerettet zu werden, bekam diese Frau nur einen bitteren Zug um den Mund.

»Jetzt habt ihr also auch meinen Sohn? Alles nur damit ich ohne Aufhebens mitkomme? Veranstaltet ihr jetzt Wettbewerbe? Wer wen in Grausamkeit übertrifft?«

»Nein, es ist nicht …« war alles was Susanne einwenden konnte, bevor sie wieder unterbrochen wurde.

»Wer kann denn schon ein normales Türschloss, dass von innen verschlossen war, einfach so durch Zauberhand öffnen? Was habt ihr mit meinem Mann gemacht, ihr elendigen Bastarde? Warum bringt ihr es nicht gleich hier zu Ende? Abschaum!«

Das letzte Wort spuckte sie fast.

»Frau Brunner. Auch ich werde verfolgt. Und wir haben wenig Zeit. Zuwenig Zeit! Wenn sie nicht mitkommen wollen, gut, dann eben nicht. Aber wenn sie, wie es hiess, den Kassierer vermeiden wollen, dann würde ich ihnen dringend raten mitzukommen. Und wundern sie sich nicht, wenn wir einen komischen Weg nehmen. Angeblich soll dieser uns vor Überwachung schützen. Ehrlich gesagt, glaube ich das selbst nicht. Aber eine andere Wahl habe ich zur Zeit selbst nicht. Soviel ist mir klar.«

Aber so leicht war Renate Brunner nicht zu überzeugen.

»Wo ist mein Sohn? Was habt ihr mit meinem Sohn gemacht?«

»Ehrlich, Frau Brunner, ich weiss es nicht. Es hiess er wäre in Sicherheit und wir sollten Grüsse ausrichten.«

»Wer ist wir?« hakte Renate Brunner nach, während sie sich mit den immer noch zitternden Hände über die Haare strich.

»Wir sind ich, Alex, Herbert und Willy, allerdings bewusstlos und angeschossen. Notdürftig versorgt. Und wir, wenn sie dazuzählen wollen, sollten jetzt langsam gehen. Nur kleines Gepäck. Wir haben im Auto sowieso kaum Platz.«

Was sollte sie machen? Hierbleiben war wie in einer Todeszelle mit unbestimmtem Datum. Mitgehen würde bedeuten, das sie Eberhard, ihren Mann, ganz aufgeben müsste. Ihn nie wieder sehen würde. Wobei die Hoffnung ihn wiederzusehen sowieso mehr als gering war.

Aber vielleicht hätte sie die Chance ihren Sohn noch einmal zu sehen. Unter welchen Umständen auch immer. Warum sollte sie dieser jungen Frau vertrauen? Warum sollte sie nur irgendjemandem vertrauen? Eigentlich war das alles sowieso egal.

Resigniert und gottergeben stand Renate Brunner auf und meinte, ohne irgendwelche Sachen zu packen »Gehen wir!«

»Aufrecht gehen, nach unten schauen und mir alles nachmachen oder so machen wie ich es sage! Bitte.«

Susanne nahm das kurze Nicken eher aus den Augenwinkeln wahr, als bewusst. Tatsächlich war sie schon wieder mit dem Navi beschäftigt, dass jetzt beide Personen anzeigte. Und sie, je nach Situation, hintereinander oder nebeneinander, durch das unsichtbare Labyrinth aus Zeit und Raum lotste. Und dabei durchaus immer hektischer wurde. Am Ende rannten und stoppten sie im Sekundentakt. Sich in das Auto zu fünft reinzuquetschen stellte die nächste Herausforderung dar. Kaum waren die Türen geschlossen, ertönte schon wieder Tom Waits.

»Ich habe nur noch wenige Zeitfenster. Die Fahrt wird mehr als holprig. Schnallt euch an und drückt mir die Daumen!«

Womit der Alfa beschleunigte. Und das nicht gerade sanft. Und wem und warum sie die Daumen drücken sollten, war keinem der Insassen des Autos klar.

Zum Glück war auch die Frontscheibe verdunkelt, so spürten sie nur die schnellen Fahrmanöver, die ebenso, wie bei ihrem Weg aus dem Haus, aus Stop and Go Manövern bestanden. Allerdings ins halsbrecherischer Geschwindigkeit. Denn auch wenn man nichts direkt sah, Massen bewegten sich nunmal nach den Gesetzen der Trägheit wenn sie beschleunigt und gebremst wurden.

Eigentlich gab es bei aussen verdunkelten Scheiben immer die Option, die Kamerabilder auf der Frontscheibe zu sehen. Derjenige, der diesen Wagen steuerte, schien es jedoch für angebracht zu halten, ihnen gar nichts zu zeigen. Alles was ihnen blieb, war das Navi.

Gebannt verfolgten sie auf dem Navi wohin die Fahrt ging. Sofern sie nicht so durchgeschüttelt wurden, dass ihnen Hören und Sehen verging. Als ihnen die Richtung klar wurde, war es schon zu spät. Zu keiner Zeit war die Rede davon gewesen, dass sie die gesicherten Bezirke würden verlassen müssen. Doch das Navi zeigte bereits an, dass sie gerade eben die gesicherten Bezirke verlassen hatten.

Wie aus einem Hals schrieen alle außer Willy:

»WAS … ?«

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