Projekt CERBERUS, NSA Wiesbaden

In dem Moment, in dem die Stäubchen Peterson wie ein Halo umgaben, wusste Heather das irgendetwas nicht stimmte. Auch wenn sie gleich wieder auseinanderstoben, als wäre nichts gewesen.

Wenn CERBERUS entflohen war, dann durften sie nicht alle Bugs in dem Reaktorraum braten. Sie brauchte Bugs draussen. Um zu beobachten, wie sie sich verhalten würden. Um feststellen zu können, ob CERBERUS sie weiter steuern würde? Aber konnte sie sich dessen in irgendeiner Weise sicher sein?

Wenn die Reaktorkammer sein Ziel war, dann schien er schon intelligent genug dafür zu sein, den eigenen Tod vorzutäuschen. Und wenn das der Fall wäre …

Heather beschlich ein ungutes Gefühl. Kaum zu erwarten das irgendjemand ihren flüchtigen Verdacht, aufgrund eines kurzen Halos aus Stäubchen, ernst nehmen würde. Wer würde schon glauben, dass CERBERUS nicht vernichtet wäre, wenn alles wieder normal funktionieren würde.

Sie hatte keine Wahl, sie musste den Plan durchziehen. Aber sie würde zumindest für eine kleine Planänderung sorgen. Jedesmal wenn sie die Stäubchen ansah, sträubten sich ihr die Nackenhaare. Sie konnte diese Wesenheit, dieses Viech, förmlich spüren. Und sie hatte von Mal zu Mal mehr das Gefühl, dass da jemand versuchte, mit ihr zu spielen.

Ungefähr so, wie eine Katze mit einer Maus spielte. Bevor sie die Maus frass. Was auch nicht immer garantiert war. Manchmal spielte die Katze mit der Maus, bis sie tot war und brachte sie dann irgendjemandem. Oder liess sie einfach liegen.

Und mitten hinein in dieses flüchtige Gefühl platzte der Geruch, den der arme tote Jackson verströmte. Dabei fand sie schon sein Rasierwasser eher abschreckend. Nichts für schwache Nerven.

»Helfen sie mir Jackson in den Reaktorraum zu bringen. Das war ja wohl das Ziel dieses Befehls, den keiner von uns gegeben hat!« meinte Heather zu Peterson, wobei sie ihm einen Blick zuwarf, der sicherstellen sollte, dass sie keine Kommentare erwartete. Sie war sich keineswegs sicher, ob solche Blicke in dieser Situation noch funktionierten.

Zum Glück war Peterson ziemlich schnell klar, dass die Situation anders sein musste, als sie aussah. Ein angedeutetes Nicken war alles, was Heather als Antwort erhielt. Womit sie mehr als zufrieden war.

Die ›Gruppenaktivitäten‹, die immer noch stattfanden, um die Bugs zu orchestrieren, anders konnte man es fast schon nicht mehr sagen, bildeten mittlerweile Muster, die Heather an Fischschwärme und Vogelschwärme denken liess.

Wie nett, dachte Heather. Das eigene Gehirn lenkt einen doch nur allzu gerne ab. Eigentlich sollte sie sich Gedanken um Beweismittel und Beweismittelvernichtung machen. Oder zumindest um Pietät!

Es war sicherlich mehr als respektlos, Jackson einfach so mit CERBERUS zu verheizen. Und was ihre Vorgesetzten dazu sagen würden, mochte sich Heather nicht in ihren schwärzesten Träumen ausmalen. Sich auf den Befehl von CERBERUS herauszureden war doch mehr als lahm. Und sagen zu müssen, ich konnte den Gestank nicht mehr ertragen, wäre erst Recht kein valider Grund.

Aber Zeit, wurde Heather klar, war hier ein entscheidender Faktor. Wenn sie CERBERUS ein Bewusstsein unterstellte, warum hatte er die Reaktorkammer, wenn das sein Ziel war, nicht schon längst zur Explosion gebracht?

Der Moment, in dem Peterson mit Jackson auftauchte und sich die Türen öffneten und schlossen, wäre der beste Zeitpunkt dafür gewesen. Dieses Viech, erkannte Heather, spielte auf Zeit. Und diese Zeit wollte Heather ihm nicht gönnen.

Sie würden sich das ganze Theater sparen können. Den Reaktor konnten sie auch so überhitzen. Doch wie sollte Heather ihren Vorgesetzten erklären, warum sie das ganze Theater veranlasst hatte? Wenn es dafür gar keinen Grund gab? Wenn alles nur eine sinnlose Finte war, die von der Realität überrollt worden war? Einer Realität, die nur Heather wahrzunehmen schien.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Mitarbeiter des Geheimdienstes zu Psychosen und anderen Störungen neigten. Irrationales Verhalten wurde aufmerksam beobachtet. Und schnell wurde man selbst zum Objekt der Betrachtung. Soweit wollte sie es nicht kommen lassen!

Sie würde also dieses ganze Theater noch eine Weile mitspielen müssen. Und jetzt wurde ihr klar, wie sie es anstellen würde. Zum Glück war der Mensch ein Herdentier. Deswegen hatte sie an Vogelschwärme gedacht. Oder Fischschwärme, die sich gegen Walattacken verteidigten.

Sie ging auf die grösste Ansammlung zu und raunte ihnen ein »Folgt mir.« zu. Fast fühlte sie sich wie beim Ballett. Sie war die Primaballerina, die Vortänzerin. Fast vergass sie, was und wozu sie dies alles machte.

Das Piepsen ihrer eigenen Stimme, als sie Stück für Stück alle Mitarbeiter aufsammelte und in den Schwarm integrierte, brachte sie wieder in die Realität. Doch das konnte sie nicht davon abhalten, die Arme auszubreiten. Wie ein Schwan seine Flügel ausbreitete. Während sie in wilden Kurven auf den Reaktorraum zusteuerte.

Jetzt kam der eigentlich diffizile Teil des Possenspiels. Sie sah aus den Augenwinkeln, dass sich einige Stäubchen schon wieder abkoppelten. Ihrem Schwarm nicht mehr folgten. Also hinein in den Reaktorraum. Der auch nicht sonderlich gross war. Zumindest gross genug um eine kleine Schleife zu drehen. Mit der gesamten Mannschaft.

Und diese Schleife reichte aus, um sie und ihre Mitarbeiter zwischen die Bugs und die Tür zu bringen. Heather versuchte mit den Händen zu signalisieren, was jetzt zu tun war. Sie mussten ein Gedränge in der Tür schaffen, während sie sich langsam aus dem Reaktorraum zurückzogen.

Unerwarteter Weise beschleunigte der Geruch von Jackson das Gedränge an der Tür ungemein. Zwar sah Heather einige Bugs wieder entweichen, aber die Masse der Stäubchen hatten sie im Moment festgesetzt. Nun ja, wenn sie nicht alle wieder entfliehen würden. Sobald die Tür geschlossen werden würde.

»Bildet draussen weiter ein Gedränge, lasst sowenig Bugs wie möglich durch!« murmelte sie zu Peterson, der sich wieder in ihrer Nähe befand. Was dieser auch gleich per ›Stille Post‹ weitergab.

Heather hoffte, dass die ›Stille Post‹ nicht die gleichen unwägbaren Effekte hatte, wie das Kinderspiel. Zumindest schien es bis jetzt zu funktionieren. Zum Gedrängel kam Gefuchtel und die Masse der Mitarbeiter wirkte eher wie ein aufgeregter Bienenschwarm, denn wie eine ordentliche Forschungsabteilung in der NSA.

Langsam dünnte sich die Truppe hinter Heather aus, was bedeutete, das die Vordersten mehr Gewedel und Gefuchtel brauchten, um die Stäubchen von der Tür abzuhalten. Und wieder wurde Heather klar, dass dieses Verhalten keinen Sinn machen würde, wenn CERBERUS nicht bereits entkommen wäre. Er hätte nur die Tür vom Reaktorraum schliessen müssen und sie hätten eine wirklich heisse Zeit gehabt.

Keine Zeugen! Besser hätte es CERBERUS doch nicht treffen können? Sie hatte jetzt sowieso von dem ganzen Rumgehüpfe genug. Wahrscheinlich wäre ihre Vorführung als absurdes Theater oder Ballett sogar noch ein Erfolg, dachte Heather. Wie schade, dass es keiner gesehen hat. Einen Vorhang würde es dann wohl auch nicht geben …
Während sie sich immer mehr zur Tür schob, mit den anderen als wuselnde Mauer hinter sich, hatte sie das untrügliche Gefühl, dass dieses Wesen, dieses Viech, sie amüsiert beobachtete. Sie wie auf einem Glasträger unter das Mikroskop schob und mit verhaltenem Interesse betrachtete.

Vielleicht würde sie für dieses Wesen eher das sein, was ein Fliege für einen Menschen war? Man nimmt es am Rande war und sobald es nervt, wird reagiert. Allerdings nicht übermässig. Eher nebenbei. Und genau so fühlte sie sich. Nebenbei betrachtet, leicht amüsiert ob ihrer hilflosen Laienschauspieltruppe. Die nichts anderen darstellen mochten, als Laborratten für dieses kalte digitale Wesen.

Heather spürte, dass die Tür bereits zugeschoben wurde. Der Spalt nach draussen wurde immer kleiner. Einen kurzen Moment lang erfasste Heather die irrationale Angst, hier im Reaktorraum eingesperrt zu werden. Zusammen mit den Bugs. Und den Resten von CERBERUS. Der zu guter Letzt hämisch lachen würde, sobald die Tür geschlossen war.

Heather schüttelte innerlich den Kopf. Konzentration! Das war jetzt angesagt. Sie merkte schon, wie sich die Bugs immer näher schlichen. Anfingen Ausfallbewegungen zu machen um durch den schmaler werdenden Türschlitz zu entkommen.

In dem Moment, in dem sie nach draussen schlüpfen würde, hatten die Bugs die besten Chancen. Eigentlich war sie nicht wirklich die beste Wahl, um als Letzter den Raum zu verlassen. Allein ihre fehlende Grösse gab den Bugs jede Menge Möglichkeiten. Und die Schlankste war sie auch nicht.

Doch es war müssig, darüber zu sinnieren. Sie durfte das Muster, den Schwarm nicht verlassen. Ansonsten würde sie den Bugs nur mehr Möglichkeiten geben, auszubrechen.

»Närrin«, schimpfte sie sich in Gedanken. »Es ist alles nur Theater und du tust schon so, als ob es wirklich darauf ankäme!«

»Das sollte reichen, schliesst die Tür zum Reaktorraum.« war alles was Heather sagte, als sie durch die Tür schlüpfte. Und natürlich war ihr ein erkleckliches Mass an Stäubchen, sozusagen am Rockzipfel, gefolgt. Doch davon durfte sie sich jetzt nicht beirren lassen.

Es war wie es war und basta!

»Ich habe das Kühlwasser bereits abgepumpt!« erwiderte der junge Reaktortechniker auf Heathers fragenden Blick.

»Ich schätze mal, wir haben ungefähr zehn Minuten bis der instabile Betriebspunkt erreicht ist und der Reaktor anfängt zu überhitzen. Bis zur Kernschmelze dauert es dann doch noch ein Weilchen.«

»Junger Mann, vielen Dank. Wie heissen sie eigentlich?« fragte Heather.

»Keith Palmer« meinte der Techniker, der nun für Heather einen Namen hatte.

Fast im selben Moment gab es einen gewaltiger Wumms, der das Gebäude erzittern liess und die Wände, wie auch die Tür des Reaktorraums nach aussen beulten. Viele wurden von den Füssen gehoben und landeten unsanft auf dem Boden. Nicht so Miss Marple.

Keith Palmer also, dachte Heather. Sie würde sich diesen Namen merken. Das war schon einmal klar.

Heather hob nur leicht eine Augenbraue, während sie den jungen Mann fixierte und verzichtete auf gehässige Bemerkungen. Was viel mehr ihre Aufmerksamkeit weckte, war der Umstand, dass mit der Explosion, die im Reaktorraum stattgefunden haben musste, alle Stäubchen wie tot auf den Boden fielen.

Sollte sie sich die Hoffnung erlauben? Nein, dieses Viech spielte nur ein intelligentes Spiel mit ihr. Aber wer würde ihr das glauben?

Ein weiterer Effekt, wie viele bemerkten, die fassungslos oder konsterniert in der Gegend rumstanden oder auf dem Boden sassen, war der Umstand, dass alle Devices mal eben neu starteten. Was prinzipiell erst mal erfreulich war.

Als alle Geräte wieder am Netz waren, erhoben sich auch die Stäubchen wieder. Und schwirrten an ihre üblichen Plätze. Soweit so gut, dachte Heather. Durchaus glaubwürdig inszeniert, kam ihr in den Sinn. Wie auch immer, sie hatte im Moment andere Sorgen.

Und kaum hatte die Anspannung etwas nachgelassen, stand schon dieser tolle einfallslose General vor ihr. Thompson. Das konnte ja noch spannend werden.

»Ich weiss nicht, was sie da gemacht haben …« fing er an. »Aber es hat wohl funktioniert. Ich möchte bis morgen einen vollständigen Bericht.«

Ein verhaltenes »Ja, Sir!« später war er schon wieder weg. Auch das noch, nörgelte Heathers innere Stimme. Sie würde sich erstmal um das Haus und die Ereignisse dort kümmern müssen. Wann sie unter diesen Umständen bis morgen einen Bericht schreiben sollte, war Heather schleierhaft.

Jesse stand schmunzelnd in der Ecke und betrachtete sie wohlwollend. Wie das möglich war, konnte sich Heather noch nicht einmal annähernd vorstellen. Doch egal, sie sollte Jesse und Thompson diese Illusion so lange wie möglich lassen. Schliesslich waren ihnen hier gerade Milliardenwerte um die Ohren geflogen. Dann musste der Reaktorraum isoliert und gekühlt werden. Beziehungsweise, das was davon übrig war. Brennstäbe hörten nicht einfach so auf Energie abzugeben.

Zudem war Jacksons Leiche im Reaktorraum gewesen. Zumindest das Geruchsproblem war gelöst. Ob das für ein Schmunzeln reichen oder sogar Grund zur Freude sein würde, wagte Heather zu bezweifeln. Es war einfach nur eine Frage der Zeit. Sie befand sich im Auge des Hurrikans. Und dieser Hurrikan nahm immer noch Geschwindigkeit auf.

»Wir müssen sofort zu dem Haus in der Lutherstrasse. Herausfinden, was passiert ist. Bevor andere dort sind, Jesse!« meinte Heather im Vorbeigehen. Um noch hinzuzufügen:

»Ich kümmere mich selbst darum.«

Sie gab Jesse keine Zeit etwas zu erwidern. Was Jesse, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, mittlerweile auch klar geworden war.

»Peterson, Miller, Gosford, Kipling, Myers!« warf Heather in die Runde.

»Ihr kommt mit mir. Vollständig bewaffnet. SpyBugs und SniperBugs. Dann wollen wir uns doch mal das merkwürdige Haus in der Lutherstrasse und seine Bewohner anschauen.«

Heather wartete nicht, sondern schnappte sich ihre Sachen und ging Richtung Tiefgarage. Es interessierte Heather brennend, zu erfahren, was hier eigentlich passiert war. Und dafür war vor Ort sein immer noch die beste Methode.

»Peterson, haben sie eigentlich Johns Dienstausweis sichergestellt?« warf Heather in den Raum um sich, als sie merkte, dass Peterson zu ihr aufgeschlossen hatte.

Peterson klatschte sich die Hand an die Stirn. Und Heather brauchte gar nicht mehr auf die Antwort warten, die Peterson trotzdem gab.

»Nein, Mam, sorry. Ist untergegangen in dem ganzen Tohuwabohu.«

»Wir sollten das gleich mal checken. Wo der Ausweis sich gerade befindet, falls ich mich nicht klar genug ausgedrückt haben sollte.« war alles was Heather ihm entgegnete.

Möglicherweise war es ja kein wirklicher Fehler, dachte sie. Möglicherweise konnte ihnen das sogar noch nützlich sein. Wenn der Ausweis immer noch zu orten wäre, dann hätten sie einen Anhaltspunkt, falls die Vögel ausgeflogen waren.

Am Ende war dieser Fehler ja vielleicht das Beste, das ihnen heute passiert war … ?

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