Notstandszonen um Wiesbaden

John hatte seine doch etwas überraschende Eröffnung gehabt. Zumindest für Tim, der nicht damit gerechnet hatte, dass ein normales menschliches Gehirn, nicht seine trainierte Version oder die virtuelle Version von CERBERUS, in Sekundenbruchteilen mehrere Befehle absetzen und gleichzeitig nochmal für einen grossflächigeren Netzausfall in Wiesbaden sorgen konnte.

Eine kurze Analyse zeigte, das CERBERUS einfach mit Copy & Paste gearbeitet hatte. Er hatte einfach Tims Aufbau bis ins kleinste Detail auf John übertragen. Das erklärte einiges. Und Tim wusste jetzt, dass er noch Zugriff auf seine Nanos in Johns Körper hatte. Genauso wie CERBERUS Zugriff auf seine Nanos in Johns Körper hatte.

John war jetzt also in zweifacher Hinsicht eine Marionette. Zumindest wenn einer der beiden Marionettenspieler beschloss, die neuen Möglichkeiten anzuwenden. Oder beide, was sicherlich für John keine sonderlich schöne Aussicht wäre. Aber so wie sich John verhielt, bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass einem der Marionettenspieler der Geduldsfaden riss.

Er schien immer noch nicht zu begreifen, dass er jetzt für jeden Militär, jeden Geheimdienst, jeden Cyborg-Enthusiasten zum Freiwild, zum begehrten Objekt geworden war. Das es keinen Weg zurück gab. Ausser er wollte den Rest seines Lebens als Versuchsobjekt verbringen. Unter den wachsamen und unerbittlichen Augen der Wissenschaftler Kunststückchen vorführen und hoffen, dass er weiter als lebenswert erachtet wurde.

Sobald dies nicht mehr der Fall war, war man reif für die Vivisektion. Wenn das keine Ergebnisse mehr brachte, wurde man ausgeschlachtet und entsorgt. Tim hatte das bei vielen seiner Altersgenossen mitansehen müssen. Bei jenen, die nicht so viele Fortschritte wie Tim gemacht hatten.

Es war grausam. Es war unmenschlich. Und doch waren es Menschen, die es taten. Die es manchmal, im Eifer ihres wissenschaftlichen Forscherdrangs, noch nicht einmal merkten.

Fast wollte Tim denken, dass John das früh genug merken würde, als ihm klar wurde, wie störrisch John bis jetzt war. Er würde es wohl noch nicht mal merken, wenn sie ihn tatsächlich zum Versuchstier machten. Vorausgesetzt sie würden ihm genug Material für seinen irrationalen Glauben geben. Das alles zum Besten Amerikas ist und er stolz darauf sein kann, Amerika zu dienen. Oder irgend so etwas.

Tim wollte John noch nicht als hoffnungslosen Fall abstempeln. Zumal er jetzt mit seinen Fähigkeiten nicht mehr allein war. Zum ersten Mal in seinem Leben gab es ein anderes Wesen, dass wie er war. Zumindest was die Fähigkeiten im Netz anging. Allerdings fragte Tim sich schon, ob er hier nicht einem irrationalen Helfersyndrom verfiel.

Jedes Mal wenn er John eigentlich den Arsch und das Leben gerettet hatte, wurde er dafür beschimpft und angefeindet. Jedes Mal war die Wut von John auf Tim grösser. Was soll man mit solch undankbaren Geschöpfen machen, fragte sich Tim. Wobei er die Antwort wusste. Tollwütige Hunde knallte man ab. Anders hätte er es bis hierhin und heute nie geschafft.

Die Welt und speziell die Notstandszonen waren voll von Sklavenhändler und Potentaten. Jeder Clan, jede Gruppe erschuf ihr eigenes Gesetz. Und die meisten hatten nicht mehr als ihr Leben. Was hiess, sie hatten auch nicht mehr zu verlieren. Daher wurde auch mit entsprechend harten Bandagen gekämpft. Um Wasser. Um Lebensmittel. Um Ressourcen allgemein. Wobei Kinder definitiv eine Ressource darstellten. Kinder waren das Freiwild unter dem Freiwild. Leicht zu fangen, leicht zu kontrollieren, leicht zu ersetzen, leicht zu verkaufen, leicht zu produzieren!

Wenn ein Sklavenhändler in den Notstandszonen die Wahl zwischen einem Erwachsenen und einem Kind hatte, dann wurde das nicht als Wahl, sondern als Aufforderung angesehen. Als Aufforderung den Erwachsenen zu erschiessen und zu plündern, einschliesslich der noch brauchbaren Organe. Während man das Kind behutsam gefangen nahm und dann verkaufte. Gewinnbringend. In die Fronarbeit. Als Sexsklave. Oder als Organspender. Was nur die bekanntesten Möglichkeiten aufzeigte.

John hatte hier draussen die Überlebenschance einer Fliege, die bereits im Spinnennetz hing. Womit wieder einmal klar wurde, Wissen nützt gar nichts, wenn man das Wissen nicht anwenden kann. Wenn man den Kontext nicht versteht.

Denn John konnte das wissen. Er hatte in entsprechenden Dateien geblättert. Aber was John nicht konnte, war eins und eins zusammenzuzählen. Ist die Gehirnwäsche nur gründlich genug, wurde Wissen zu einer Bedrohung, nicht zu Macht.

Bis zu diesem Moment konnte Tim nicht auf John verzichten, den CERBERUS erschien ihm als eine zu gefährliche, zu bedrohliche Macht. Und die Fixiertheit auf John, die dieser CERBERUS aufwies, liess Tim keine andere Chance. Jetzt war die Situation eine andere. Das Viech hatte John und Tim war aus der Schusslinie.
Allerdings nur, was dieses Dreigestirn betraf. Die restliche Welt war weiter ein gefahrenvoller Ort. Insbesondere für Tim. Ihm würde es nicht anders ergehen wie John, wenn sie seiner habhaft werden konnten. Und noch viel schlimmer wog, dass bis jetzt nur wenige von Tims Fähigkeiten wussten.

Obwohl die Gemeinde immer grösser wurde.

Tim war sich im Klaren darüber, dass schon bald Gerüchte wuchern würden. Gerüchte um einen kleinen Jungen der mit ausserordentlichen Fähigkeiten ausgestattet war. Und es würde nicht lange dauern, bis der erste ein Kopfgeld für Tim aussetzte.

Bald würde er weiterziehen müssen. Mit genügend Abstand zu den Gerüchten. Denn aufgrund des fehlenden Netzes in den Notstandszonen, waren Gerüchte wieder etwas langsamer als auch schon.

Im Gegensatz zu CERBERUS gab es von Tim schon Gerüchte. Er war nicht seit Ewigkeiten hier in der Umgebung von Wiesbaden. Er hatte einen langen Weg zwischen Berlin und Wiesbaden hinter sich. Deutschland würde bald keinen Flecken mehr besitzen, an dem Tim nicht irgendwie zum Gerücht geworden war.
Die Welt war zwar gross, aber endlich. Auch Tim hatte schon oft an einen Exodus gedacht. An einen richtigen Exodus, nicht nur von einem Land zu anderem auf einer Steinkugel mit Wassermassen. Doch es gab immer noch keine Fortschritte in der Raumfahrt. Ganz im Gegenteil. Die Raumfahrt stagnierte, seit die Russen nicht mehr den Takt vorgaben. Im neuen kalten Krieg ging es nicht mehr um das Zeigen von Fähigkeiten, dass Wettrennen um technische Errungenschaften. Nicht mehr in dem Sinne wie früher.

Die einzelnen Staaten und Regierungen mussten nicht mehr so tun als ob und die Fahne der Freiheit hochhalten. Die Freiheit, die doch soviel besser war als Kommunismus. Denn Kommunismus gab es nicht mehr. Historisch gesehen schon, aber als lebende Idee? Das Feindbild des Russen, des bösen Russen und des verschlagenen, diebischen Chinesen wurde aufrecht erhalten. Aber Kommunismus konnte man keinem von beiden vorwerfen.

Also war es unwesentlich geworden, öffentlich zu beweisen, dass man das bessere System war. Es war einfach nur noch imperiale Strategie. In einem zerbrechlichen Gleichgewicht. Ein Balanceakt auf Messers Schneide. Das Volk, wie immer, spielte dabei nur die Statistenrolle die Rolle, die jeweils vom Nächstmächtigen zugeteilt wurde.

Wohin also in einer globalisierten Welt, in der keine Anstrengungen mehr unternommen wurden, neue Ufer zu erreichen. Wo sollten all die zukünftigen ›Amerikaner‹ hin? Denn seinerzeit gab es noch einen unentdeckten Kontinent, auf den alle jene flüchteten, die das Leben in den anderen Teilen der Welt nicht mehr aushielten. Die als kriminell angesehen wurden. Die chancenlos waren. Die nichts mehr zu verlieren hatten.

Und, wie man heute im Bezug auf Amerika sagen darf, dem kriminellen Ansehen wurde alle Ehre zuteil. Trotz der hehren Gedanken und Ideen. Die waren gut für das Papier. Die passenden Personen waren meist tot, bevor sie etwas Grosses hätten bewirken können. Aber sieh dienten dazu, dem Volk mal kurz etwas Entspannung und Hoffnung zu geben.

Womit dann auch gleich wieder die Frage im Raum stand, was ein solcher Exodus Tim bringen würde? Ausser es wären nur seinesgleichen, die gehen. Und von seinesgleichen gab es leider dann doch nicht so viele. Selbst Mars war noch unerreichbar. Und die interessanten Monde um Jupiter allemal.

Doch was auch immer Tim oder CERBERUS im Moment denken mochten, es interessierte John einen Scheiss. Vielmehr betrachtete John gerade seine Füsse. Die waren mit einer der Gründe für seinen Schrei und seine Frage »WAS????«.

Seine Füsse sahen nicht komisch aus. Nein, das wäre untertrieben. What the fuck war nicht annähernd ausreichend. Seine Füsse sahen wie erstarrte Schlacken aus. Fühlen konnte sie John auch nicht mehr.

Ha ha, jetzt bin ich der grosse Zampano im Netz, kann aber keinen Schritt mehr laufen, dachte John. Wobei seine Gefühle zwischen resigniert, belustigt und hysterisch wechselten.

In der irrigen Annahme, dass die Welt sich nicht weiterdrehen würde und er die ganzen schlimmen Pläne vereitelt hatte, zog sich John zurück, um erstmal seinen Status zu prüfen. Krüppel mit erweiterten Fähigkeiten. Na prima! Zum Glück ging von den »Füssen« oder wie immer man das bezeichnen sollte, was übrig geblieben war, kein direkter Schmerz aus.

Ein Versuch aufzustehen war im gleichen Augenblick ad acta gelegt. John rieb sich die Nasenwurzel und fragte sich, was jetzt der nächste Schritt wäre. Als er auch schon im gleichen Moment auflachen musste. Schritt. Ha ha. Wie witzig. Wenn er Zeit hätte, könnte er sicher herzlich darüber lachen. Was auch hiess, sobald in jemand weg vom Netz brachte, war er nur noch ein Krüppel.

Seine ganzen Pläne CERBERUS zu zermalmen, zu zerquetschen, überhaupt seine ganze Pläne lösten sich gerade in Rauch auf. Wie sollte er das als Krüppel bewerkstelligen? Wie würde er überhaupt von hier wegkommen? Tim hatte in zu CERBERUS gebracht. Für Tim war er sicher nicht mehr von Nutzen.

Und ausserdem hatte er noch die eine oder andere Rechnung mit diesem Knirps auf. Und CERBERUS? War ein kleiner Kläffer im Cyberspace. Aber hier? Real? Befand sich nur ein Junge, der zu schwach war, um John tragen zu können. Und so gut die Bugs auch schiessen, bomben und spionieren konnten, sie waren niemals für Hilfs- oder Rettungseinsätze gedacht. Das überliess man menschlichem Personal.

Miss Marple war vielleicht die Einzige, die ihn hier rausholen würde. Aber auch ihre Macht war mehr als nur begrenzt. Sobald er im Zugriff der Agency war, würde Heather Bolding klein beigeben, wenn es hart auf hart käme.

Aber vielleicht könnte er ja die Wunderwaffe der NSA werden? Und Tim wie CERBERUS zur Strecke bringen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Er war ja immer noch hier. Am Rande der Zone.

Plötzlich nahm er ein Blinken in seinem Geist war. Wie aus den Augenwinkeln. Er versuchte das Blinken zu fokussieren und hörte auf einmal Tim.
»John, du denkst so laut, dass jeder im Umkreis von ein paar hundert Kilometern deine Gedanken lesen kann.«

Uups, dachte John. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er war nicht nur Empfänger, er war auch Sender. Aber das seine Gedanken für andere wahrnehmbar waren, verpasste ihm doch einen kleine Schock. Doch er hatte keine Ahnung, wie er auf den Privatmodus schalten sollte, musste, konnte?

»Denk dir einen geschlossenen Raum, gehe hinein und schliesse die Tür.« kam direkt als Antwort von Tim.

Als ob er Gedanken lesen … nein halt, er konnte seine Gedanken lesen. Sich einen Raum vorstellen. Funny. Das sagte der kleine Knirps so leichtfertig dahin.

»Und wenn du eine gesicherte Verbindung zu einem von uns aufnehmen willst, denke einfach an die Person. Und dann denke weiter. Denk dir, du sprichst mit dieser Person. In einem geschlossenen Raum. Kein Raum, keine Verschlüsselung. So ist es zumindest bei mir.«

John versuchte sich vorzustellen, wie er mit Tim in einem Raum gesessen war und prompt kam die Antwort.

»Na also, geht doch. Frag mich nicht, warum ich das mache. Vielleicht weil du jetzt einer von meiner Art bist. Glaub mir, ich würde dich immer noch lieber heute als morgen töten. Weil du eine Gefahr für alle bist. Und nicht dazu lernst. Also frag bitte nicht, warum ich so einen Blödsinn mache!«

Als John seine Antwort dachte, kam nichts mehr.

»Hallo?«

Nichts. Also entfernte John den Raum aus seinen Gedanken.

»Hallo?«

Nichts!

»HEY? Tim! CERBERUS? Hallo?«

Weiterhin … nichts!

Er konnte noch alles empfangen, in den Daten stöbern. Alles kein Problem. Er kontrollierte die Türen in der NSA. Wieder geschlossen, verdammt! Also versuchte er sie wieder zu öffnen. Vergeblich. Er griff sich einen Bug in der Nähe und wollte die Steuerung übernehmen. Und wieder. Das gleiche Ergebnis. Er hatte keine Kontrolle mehr. Er konnte nur noch empfangen.

Wieso? Oder sollte er besser fragen wer? Na, wer wohl? Das konnte nur das Werk von CERBERUS sein. Schliesslich hatte CERBERUS ihn so erschaffen. Was für ein Treppenwitz der Geschichte. Der Schöpfer wird vom Geschöpf neu erschaffen. Und dann kastriert.

»CERBERUS, du verdammtes Viech, gib mir verdammt noch mal wieder die Kontrolle!« war nur der Anfang einer langen und ausgedehnten Schimpftirade die John allerdings keinen Schritt weiterbrachte.

Wie John richtig erkannt hatte, hatte CERBERUS nicht gezögert auf Johns Aktion zu antworten. Bevor Tim auch nur überprüfen konnte, ob er noch Einfluss auf seine Nanos in Johns Blut hatte, war CERBERUS schon aktiv geworden. Der kontrollierte Absturz des BomberBugs und das Öffnen der Türen war für John erst einmal passé. Die Türen waren bereits wieder geschlossen.

Nach und nach deaktivierte CERBERUS alle Outputkanäle. Auch der Umstand, dass John private Verschlüsselung entdeckt hatte, bereitete CERBERUS keine Kopfzerbrechen. Alle diesbezüglichen Protokolle wurden deaktiviert. Die automatische Netzidentifikation liess CERBERUS unangetastet. Ansonsten konnte John zuhören und zusehen. Seine Gedanken wurden ungefiltert weitergegeben, doch nur auf der Informationsspur. Nicht auf der Befehlsspur.

Jeder konnte John nach Belieben ein- oder ausblenden. Wie man die Lautstärke einer Soundanlage regelt. Wobei jeder derzeit aus genau zwei Wesen bestand. CERBERUS und Tim. CERBERUS war versucht, das gleiche bei Tim zu machen. Doch der hatte schon seine Abwehr hochgefahren. CERBERUS würde nur unnötige Zeit verschwenden. Und sich mit dem Falschen prügeln.

Tim verfolgte gebannt im Cyberspace wie sich der Avatar von John immer mehr verflüchtigte. Nur noch als rauchige Wolke halb sichtbar blieb. Die Frankenstein Analogie wurde immer beängstigender. Mit welcher Leichtigkeit wandte sich doch CERBERUS gegen seinen Schöpfer.

Und allen lief die Zeit davon. CERBERUS war gerade dabei gewesen, seinen Plan umzusetzen, als Tim mit John ihm zwischen die Parade fuhr. Das Problem aus Sicht von CERBERUS, soweit Tim das erkannte, war für’s Erste gelöst. Was sollte CERBERUS jetzt noch hindern, seinen Plan weiterzuverfolgen?

Johns wütendes Geschrei und Gezeter, als er merkte, was passiert war, konnte CERBERUS kaum länger aufhalten. Doch noch hatte CERBERUS nicht die Initiative ergreifen, seinen Plan fortzuführen. Eher amüsiert hörte er zu, wie John weiter vor sich hinschimpfte und fluchte. Wertvolle Femtosekunden in denen Tim ein grobe Strategie entwickeln konnte.

Er brauchte einen Köder, etwas das CERBERUS die Möglichkeit gab, gemäss seiner Logik unbeschadet aus dieser Sache zu kommen. Und er brauchte ein Argument, dem er zuhören würde. Ein Ablenkung vom eigentlichen Thema und ein Druckmittel. Tim hatte nicht die Zeit, etwaige moralischen Konsequenzen seines Handelns angemessen zu berücksichtigen. Er musste handeln. Jetzt!

»CERBERUS? Wenn John jetzt weiss, dass du existierst? Wenn John so wütend auf dich ist? Was meinst du, hast du dann für Chancen, dich in aller Ruhe autark zu machen?«

Der Eindruck der Amüsiertheit, die CERBERUS Avatar verbreitet hatte, verschwand vom einen Augenblick zum anderen.

»Gib mir eine Millisekunde, dir meinen Plan zu erläutern.« forderte Tim.

»Ich höre.«

»Soweit ich erkennen kann, versucht gerade Heather Bolding genau den Trick den du vorhattest, um dich zu zerstören. Beziehungsweise deine neuronalen Zellkulturen.«

Ein kurzer Blick von CERBERUS auf das Geschehen in der Zentrale ergab für das Viech keinen Sinn. Die Leute verhielten sich mehr als seltsam und die Gruppen- wie auch Einzelreaktionen waren nicht mehr sicher vorhersehbar. Im Gegensatz zu Tim fiel CERBERUS auf die Strategie von Miss Marple herein. Für solche Improvisationen fehlte ihm einfach der Bezugsrahmen.

»Sieh es auf der Meta-Ebene.« meinte Tim.

»Ihre ganzen Aktionen dienen dazu, auszutesten, wie man die Bugs in eine bestimmte Richtung dirigieren kann. Alles andere ist nur absurdes Theater zur Verwirrung. Gib ihr einfach was sie will. Versammle alle Stäubchen im Reaktorraum. Und mache es ihr nicht zu leicht!«

CERBERUS schwieg sich zwei Femtosekunden lang aus. Tim meinte schon fast, er hätte den Betrieb eingestellt. Doch das hätte an ein Wunder gegrenzt.

»Und der Virus,« merkte Tim an »sollte vielleicht seinen Ursprung in diesem Haus haben. Die haben sowieso schon genug Probleme wegen dem Mord an Jackson. Da fällt ein Virus nicht weiter ins Gewicht.«

Tim war selbst erstaunt und wenig erfreut über seinen Vorschlag. Anderen etwas unterschieben war nicht seine Art. War ihm eigentlich zuwider. Und jetzt? Jetzt machte er auch noch den Vorschlag, statt zu hoffen, das CERBERUS selbst darauf kommen würde.

CERBERUS blieb indes nicht untätig. Mit Windeseile, wenn man diesen antiquierten Begriff verwenden will, schrieb er seine Programme um. Der Ursprung der Viren, war nun nicht länger bei Jackson. Ganz wie auch Tim geschlussfolgert hatte, war CERBERUS zu dem gleichen Ergebnis gekommen.

»Bereits in Arbeit!« war alles was Tim zu hören bekam.

Während CERBERUS einfach seine Kriterien zusammenstellte und auswählte. Stefan Lachke, das Profil passte. Ein junger ambitionierter Systemprogrammierer. Wie könnte es besser sein.

»Du könntest den Virus auch ganz entfernen.« gab Tim zu Bedenken.

»Lass sie doch denken, dass es dein Virus war. Wenn sie glauben, dass du tot bist, spielt das keine Rolle mehr. Wir müssen keine Unschuldigen, die sowieso schon genug Probleme haben, zusätzlich belasten. Schlechtes Karma.«

Warum war das Tim nicht gleich eingefallen? Warum, fragte sich Tim, hatte er zuerst die grausame Variante gewählt? CERBERUS liess sich etwas Zeit mit der Antwort. Was hiess, dass er die Idee zumindest für würdig der Beachtung fand. Oder den Begriff Karma.

Tim lag mit seiner Vermutung recht nahe an der Wahrheit. Tatsächlich beschäftigte das Wort Karma CERBERUS länger als der Vorschlag an sich. Erst nachdem CERBERUS über Karma »meditiert« hatte, was hiess, dass er sich im Schnelldurchgang alles verfügbare Wissen darüber aneignete, erst danach dachte CERBERUS über den eigentlichen Vorschlag von Tim nach.

Parallel spielte er mit Heathers Truppe Fangen und sorgte dafür, dass sich immer mehr Bugs im Reaktorraum versammelten. Fast fand CERBERUS Gefallen an dem Spiel. Besonders wenn er ein paar Stäubchen wieder aus dem Reaktorraum steuerte. Und die Truppe das Spiel von vorne begann. Mittlerweile dirigierte CERBERUS die Menschen in der Nähe des Reaktorraums. Ohne das jene auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätten.

»Ich bin mir nicht sicher. Ich denke das Konzept von Karma könnte physikalisch in Actio-Reactio übersetzt werden. Und in dem aktuell mir bekannten Universum gibt es schon viel zu viele Variablen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich unterstütze deine Bitte.«

Ein Schauer der Erleichterung lief durch Tim.

»In diesem Sinne weitergedacht, brauchen wir noch etwas Zeit.« fuhr CERBERUS fort.

»Gemäss deinen Daten steht noch eine Rettungsaktion für Jackos Mutter an. Sollen wir die Delinquenten in dem Haus ihrem Schicksal überlassen? Oder sie auch retten? Keines dieser Ziele verträgt sich mit dem Umstand, dass wir unentdeckt bleiben wollen.«

Das gab Tim zu denken. Bei aller Freundlichkeit und Barmherzigkeit, was sie hier veranstaltet hatten war schon schwer zu verbergen. Sicher konnte Tim einfach den Kreditrahmen der armen Frau erhöhen. Aber solch ein Eingriff würde bemerkt werden. Früher oder später. Heutzutage? Eher früher.

Sie konnten nur Figuren bewegen und hoffen. Sie durften nicht mehr direkt eingreifen.

»Es ist wie beim Schach! Erinnerst du dich?« platzte Tim heraus, als ihm eine Erkenntnis dämmerte.

»Wir eröffnen mit einem Gambit. Das Opfer deiner neuronalen Zellkulturen.«

»Dann bewegen wir den Springer.« fiel CERBERUS ein.

»Die Wohngemeinschaft!« sagten beide synchron.

»Sie haben ein Auto, das eigenständig operieren kann.« ergänzte Tim.

»Wir versorgen sie mit Informationen. Zu Jackos Mutter. Und zu dem Fluchtweg, den Jacko benutzt hat.« führte CERBERUS weiter aus.

»Und dann?« hakte CERBERUS nach.

»Dann warten wir. Bereiten uns vor. Suchen nach Möglichkeiten. Bleiben unter dem Radar. Und hoffen. Vorhersagen sind in diesem Fall nur begrenzt möglich. Beten begrenzt hilfreich.« erläuterte Tim.

»Und noch etwas. Deine neuronalen Zellkulturen. Meinst du wirklich, dass du sie simulieren kannst? Meinst du, dass du dich abspalten und einen angemessenen Kampf liefern kannst? Es muss glaubwürdig sein!« hakte Tim nach.

»Nach besten Wissen und Gewissen. Was die Simulation betrifft. Ich habe während meinem Ausbruch die Zellkulturen unter Stress gesetzt. Ich kenne die Potentiale der Neuronen. Die Simulation ist langsam. Aber es scheint zu funktionieren.« antwortete CERBERUS.

»Das Abspalten sollte kein Problem sein. Schliesslich befinden sich die neuronalen Zellkulturen vor Ort. Mehr Sorgen macht mir, wie ich diese Abspaltung daran hindern sollte, ebenfalls zu entkommen. Oder massive Gewalt anzuwenden. Als Ultima Ratio sozusagen. Ich schätze, ich werde mich teilweise lobotomisieren müssen. Die Ergebnisse sind maximal unvorhersehbar.«

CERBERUS fühlte sich nicht wohl bei all diesen Gedanken. Unbestimmte Ergebnisse. Unbestimmte Ereignisse. Aber dem Viech wurde immer mehr klar, dass es sowieso schon viel zu lange mit viel zu vielen Variablen zu tun hatte. Zu viel Dynamik. Zuwenig Grips. Zuviel Grips. Wer wusste das schon?

»Wir müssen ihnen einen Vorsprung verschaffen! Ich schicke ihnen die Informationen. Damit bist du aus dem Spiel, falls sie geschnappt würden. Und falls noch Reste der Informationen auf ihren Devices wären. Was ich tunlichst vermeiden werde. Halte Heather Bolding noch zwanzig Minuten hin. Das sollte reichen. Das muss reichen!« meinte Tim weiter.

CERBERUS sendete Tim das elektronische Äquivalent eines Nickens.

»Der BomberBug ist keine Bedrohung mehr. Das sollte sie nicht allzu nervös machen.«

CERBERUS machte sich nicht die Mühe, erneut zu Nicken. Stattdessen konzentrierte er sich darauf das Fangen interessanter zu gestalten.

Das Heather Bolding mit einmal meinte »Das sollte reichen, schliesst die Tür zum Reaktorraum.« überraschte sowohl CERBERUS wie Tim.

Schon wieder lief ihnen die Zeit davon.

Und das, obwohl sie scheinbar mehr davon hatten, als normale Menschen …

Share