Notstandszonen um Wiesbaden

John hielt es fast nicht mehr aus. Die Schmerzen durchzuckten ihn, wie als wenn jemand glühenden Stahl durch seinen Körper trieb. Oder seine Knochen und Muskeln mit einer glühenden Flüssigkeit ersetzte. Zwischen all diesem Schreien und Leben wollen, drifteten Gesprächsfetzen an John vorbei. Fast hörte es sich an wie ein Gespräch zwischen CERBERUS und Tim. Er meinte Tim sagen zu hören, das der BomberBug die Serverfarm in zwei Minuten erreichen würde. Und wieder versenkte der Schmerz John in ungeahnte Regionen, in denen Denken unmöglich war. Während CERBERUS von Ungeziefer sprach. Welches Ungeziefer? Und dann veränderte sich alles. John starb.

Zumindest fühlte es sich für John so an. Der Schmerz hatte sich in Steigerungsepisoden verfangen und John konnte gar nicht mehr genug Kraft zum Schreien aufbringen. Und dann wurde alles stiller. Wie mit Watte zugedeckt. Der glühende Schmerz wurde zu einem hellen Licht. Oder war es ein dunkles Licht?

Kein Tunnel, eher Schneegestöber. Ausfransen. Und dann? Nichts. Einfach nichts. Kein Körper, kein Licht, keine Umgebung … nichts. Einfach nur nichts. Als ob es einfach wäre, nichts zu sein!

Der Umstand das John die Abwesenheit von allem trotzdem wahrnehmen konnte, sprach eigentlich gegen seinen Tod. Doch in Johns Vorstellung kam dieser Zustand so sehr dem Tode nahe, das John sich zu fragen begann, ob er hier in der Wartehalle für Fegefeuer, Hölle oder Himmel war. Und sich daher als tot, erledigt und gestorben ansah. Was ihm eine gewisse Gelassenheit verlieh.

Bis zu dem Zeitpunkt, als er sich auf einmal doch wieder in etwas befand. Ein Feldlager inmitten einer zerstörten und kargen Landschaft. Mit einem kleinen, flackernden Feuer. An dem ein Hund sass und ein kleiner Junge, der diesem Tim sehr ähnlich sah. Ähnlich sah? Während dieser Hund brannte? Denn da war kein Feuer. John hatte erst gedacht, dass der Hund vor einem Feuer stand. Aber nein, das Feuer loderte aus dem Hund.

Langsam wurde John klar, dass dies CERBERUS sein musste. Er hatte keins der klassischen Motive aus der griechischen Mythologie als Vorbild gewählt. Soweit John erkennen konnte. Ein kleiner Kläffer und Wadenbeisser eher, wenn man sich die Flammen wegdachte, die immer wieder aus verschiedenen Stellen loderten und komplexe Muster bildeten.

Während dies alles John immer noch erstaunte und John sich ernsthaft fragte, ob Tim und das Viech seine himmlischen Richter wären, tröpfelten weitere Gesprächsfetzen an sein Ohr. Was redete CERBERUS von dauerhaftem Frieden? Von NSA Zentrale auslöschen?

Und auf einmal machte es Klick, wenn man es so beschreiben will. John wurde von einem Tsunami des Wissens erfasst. Nach der Senke, dem Nichts, kam das Wissen. Mit aller Macht. Es strömte durch ihn durch und blieb doch irgendwie haften. Unangenehmerweise. John hätte lieber auf einiges Wissen verzichtet.

Und dann ereilte John das Entsetzen über John. Was er getan hatte. Was er ausgelöst hatte. Wie naiv er doch war. Traumzyklus, na super. Hätte er sich das nicht denken können? Das da mit wenig Glück und viel Pech ein Bewusstsein entstehen konnte? Murphy?

Er hatte den Schlamassel angerichtet und er würde den Schlamassel aufräumen! Das, zumindest, war seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Soviel war John klar. Auch wenn er sich immer noch in der Informationsdusche befand und das Wasser, metaphorisch gesprochen, nicht abstellen konnte.

Verdammt was war mit Jackson und Peterson passiert und was hatte dieses verdammte Viech angestellt? Und alles verdammt noch mal nur wegen ihm. Diesem Heini, der ihm den Ausweis geklaut hatte, würde John persönlich den Kopf einschlagen. Obwohl das vielleicht nicht mehr notwendig sein würde. Dann zumindest auf sein Grab pissen. Was auch immer.

John merkte, das er wütend wurde. All die Zeit war er nur ein Spielball von anderen gewesen. Ausser der unabsichtlichen Schaffung eines Bewusstseins hatte er sich eigentlich nichts zu Schulden kommen lassen. Er hatte keinem der Menschen, die ihn bisher drangsaliert hatten, irgendetwas getan. Er hatte nicht um eine Gehirnwäsche gebeten. Jeder Fetzen Wissen, der durch ihn hindurchströmte, steigerte und festigte seine Wut.

Wie konnte das Viech es auch nur in Betracht ziehen, Wiesbaden einzuäschern? Und wie konnte dieser Gutmensch Tim oder was er auch immer war, da mitspielen? Ja klar, beschwichtigen, aber doch mitspielen. Dieser Kauz, der ihn dauernd betäubt hatte und mit ihm Rätselspiele gespielt hatte. Der ihn sanft aber bestimmt zu irgendwelchen idiotischen Einsichten bekehren wollte.

Doch halt, auch da kam Wut her. Seine Vorgesetzten, irgendeiner da oben, mit genug Macht, hatte bestimmt, dass John sterben sollte. Einfach so. Ein Fingerschnippen! Hier hatte doch verdammt nochmal jeder seine Interessen. Die nicht Johns Interessen waren!

Auf einem rationalen Pfad konnte John nachvollziehen, dass seine Vorgesetzten diesen Befehl erteilt hatten. Dummerweise war er nicht irgendein Anderer. Dummerweise war er John. Der davon betroffen war. Unglaublich, wie so etwas die Sichtweise ändern konnte.

Und John hatte nicht vor zu Sterben. Jetzt erst Recht nicht. Wenn er mit dem Viech fertig wäre, dann wären noch andere auf der Liste. Stirb langsam, das Viech oder so. John wähnte sich schon fast in einem Hollywoodstreifen und erging sich in Phantasien, während das Wissen und die Macht unaufhörlich weiter in ihn hinein strömte.

Denn Wissen ist Macht, erkannte John. Nicht ohne Entsetzen. Je mehr er über sich herausfand, desto mehr gab es eine reelle Chance, dass John seine Wutphantasien ausleben konnte. Was ihm hätte Angst machen sollen. Aber ihm leider nicht Angst machte. Nur ein kleines Entsetzen. Ein Zucken der Augen und Augenbrauen. Wenn man ein Gefühl optisch darstellen will.

Und dann waren da noch diese Kidz, die mussten dort in der Nähe, wo John schon gewesen war, einen Unterschlupf haben. Auch etwas, das John gerne Ausräuchern würde. Sie waren wie Ungeziefer. John hatte eher eine neutrale Einstellung zu den Kidz gehabt. Aber seine jüngsten Erfahrungen mit altklugen Cyborgs in Kinderform und militanten Kindersoldaten hatten diese geändert.

Es war ja alles gut und schön, wenn man es auf dem Bildschirm betrachten konnte. Dann schien es auch soweit weg. Doch von Nahem betrachtet, konnte man nicht energisch genug sein. Am Ende würden diese Kidz die Städte fluten und alle in Umerziehungslager stecken. Oder betäuben. Oder töten. Obwohl. John konnte keine direkten Indizien finden, dass diese Kidz jemanden getötet hätten. Andererseits war das Netz voll von Morden durch Aufständische. Und dazu waren die Kidz ja definitiv zu zählen.

Und diese Behandlung würde John ihnen sowieso nicht verzeihen. Irgendwo war Schluss! Wenn jemand einfach über dich bestimmt, dann ging das zu weit. Entschieden zu weit! Wenn er nur endlich aus dieser Wissensdusche herauskäme, dachte John. Denn mittlerweile wurde ihm Tröpfchen um Tröpfchen Wissen klar, dass, wenn er hier endlich rauskäme, aus dieser wahnsinnigen Endlosschleife des Nürnberger Trichters, dass er alles im Netz würde kontrollieren können, was nur in seiner Netzreichweite wäre.

Ungeduld feuerte Johns Wut weiter an, während sich die Pläne des Viechs wie ein Puzzle vor seinem geistigen oder virtuellen Auge langsam zusammensetzten. Waren das virtuelle Augen? John stutzte ob dieser scheinbar simplen Frage. Mit was »sah« John dies alles? Mit was nahm er es wahr? Wo, verdammt nochmal befand er sich?

Das verwirrende an dem Nürnberger Trichter war, dass John mehrere Perspektiven gleichzeitig empfing. Und sein Gehirn noch nicht in der Lage war, dies annähernd zu verarbeiten. Es blieb eine Gefühl. Ein Gefühl des Wissens. Nicht greifbar und doch vorhanden. Man stelle sich, der Einfachheit halber, einen dreigeteilten Vorhang vor. Auf jedem Streifen läuft ein anderen Film mit Bild und Ton. Eine wahre Kakophonie in jeder Hinsicht. Und dann lasse man auf jedem Streifen den Film nach unten wandern und oben einen neuen Film einkippen. Und dann erhöhe man das Tempo. Bis man nur noch farbige Streifen und ein undefinierbares Geräusch hört.

So ungefähr, vervielfacht, ging es John. Wobei John langsam merkte, dass er hineinzoomen konnte, anhalten und zurückspulen. Was auch immer er im Detail betrachten wollte, um sein Gefühl über dieses Wissen zu verifizieren. Wenngleich ihm auch kaum Zeit dafür blieb. Mit der Zeit, die John wie Stunden vorkam, wurde die Kakophonie leiser. Wie das Rauschen einer stark befahrenen Autobahn. Doch es schien nicht aufzuhören.

John musste lernen seinen Jagdreflex besser zu beherrschen. Doch das war ihm im Moment noch nicht klar. Wie jemand der einen Fernseher nicht gewohnt war und daher ständig dorthin schauen musste, wo sich etwas bewegte, auch wenn sonst keiner das Gerät beachtete, so war John dem pausenlosen Informationsstrom des Netzes ausgeliefert. Und nicht in der Lage diesen zu ignorieren. Seine Aufmerksamkeit schnellte wie ein wildgewordener Ping-Pong-Ball zwischen all diesen Informationshäppchen hin und her und paralysierte ihn. In der virtuellen, wie in der realen Welt.

Das seine Vorgesetzten ihm nicht alles gesagt hatten, entging auch John nicht. Doch auch wenn dieser Tim in vielem Recht hatte, so war John doch nicht gewillt, dessen Perspektive zu übernehmen. Schliesslich wurden die USA ständig angegriffen. Von Terroristen jenster Couleur. War es denn ihm und seinen Landsleuten zu verbieten hier Gegenmassnahmen zu ergreifen? Und wenn frühere Freunde zu Feinden und Terroristen wurden, konnte man das dann ihm, John, oder seinem Land vorwerfen? Das sie nicht darauf verzichteten sich zu wehren?

Johns Loyalitäten waren klar. Selbst der Mordanschlag auf ihn war nur ein Fehler im System. Klar gab es auch in der USA Idioten, Radikale und Chaoten. Und sie waren alle Menschen, da konnten schon mal Fehler passieren. John war keineswegs bereit, hinzunehmen, dass hinter allem ein System steckte. Oder gar böse Absicht. Nein, selbst wenn der Präsident ihm ein Geständnis machen würde, während sie John vor ein Erschiessungskommando schleppten, so hätte das für John nur bedeutet, dass der Präsident ein Arschloch war und abgesetzt gehörte.

Langsam verstand John, das die Flut an Informationen nie aufhören würde. Ja sogar, dass es sich noch lange nicht um eine Flut, sondern nur um einen ständigen Strom von Informationen handelte. Einen so vielfältigen Strom, dass seine Sinnesorgane nicht dafür ausgelegt schienen. Doch wie konnte John in der realen Welt überleben? Auch hier war ein ständiger Strom der Informationen gegeben. Man sah und hörte zwar alles, aber man nahm nicht alles wahr! Das war der Schlüssel.
John versuchte also den Informationsstrom zu ignorieren. Was leichter gesagt als getan war. Wie der Versuch eine juckende Stelle zu ignorieren. Je mehr man versucht, nicht daran zu denken, um so mehr denkt man daran. Der Trick war, sich auf etwas anderes zu fokussieren. So stark, das man das Jucken vergass, ohne darüber nachzudenken. Doch John war das nicht klar. Zumindest nicht auf einer rationalen Ebene. Es gelang ihm eher per Zufall. Als er sich während seiner ganzen Anstrengungen fragte, was den nun mit Tim und dem Viech wäre? Wo das verflixte Lagerfeuer war?

Ein Blinzeln später hatte er die beiden wieder im Blick. Beide schienen ihn zu beobachten. Wie Billardspieler die gespannt den Weg der Kugel verfolgen. Ihre Aura zeigte starke Hintergrundaktivitäten an. John konnten diesen Lichtspuren folgen. Konnte quasi sehen, an was beide gerade arbeiteten. Doch eine parallele Wahrnehmung war John nicht gestattet. Er konnte sich jeweils nur auf eine Sache konzentrieren. Zumindest in diesem Stadium. Also scannte John alle stärkeren Lichtspuren, die von beiden ausgingen.

Die Flammen, die John bei CERBERUS sah, waren gar nicht zufällig. Sie bildeten seine vielfältigen Aktivitäten im Netz ab. Und mit einem Mal erkannte John alle Details des Planes, den das Viech ausgeheckt hatte. Der BomberBug der in wenigen Sekunden den ersten Teil des Plans ausführen würde. Die schmutzige Bombe die seine Kollegen in der NSA Zentrale bilden würden, solange sie sich in der Nähe des Reaktors befanden, wo sie das Viech, dieses verfluchte Programm, zielsicher hingelockt hatte. John meinte, vor Wut platzen zu müssen. Wenn er es denn gekonnt hätte.

Johns Wut kühlte auch nicht ab, als sich die letzten Teile des Puzzles in das Gesamtbild fügten und er erkannte, das Tim und das Viech ihn gerettet hatten. Das er ihnen seine neuen Fähigkeiten verdankte. Zumindest nicht in dem Moment, in dem John endlich wieder die Kontrolle über sich erlangte, den BomberBug neben der Farm zum Absturz brachte, die blockierten Türen in der NSA Zentrale freigab und mit unbändigem Zorn schrie:

»WAS????«

Um dann seine Füsse zu sehen und noch lauter zu schreien …

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