Notstandszonen im Cyberspace

Tim hatte längst erkannt, was CERBERUS plante. In diesem Moment, in dem Tim CERBERUS die volle Kontrolle gab, war die Leitung in beide Richtungen offen. Was Tim vorfand, faszinierte ihn mehr, als das es ihn erschreckte.

Tim hätte es nie für möglich gehalten, dass CERBERUS sich so ausbreiten konnte. Und doch war recht schnell klar, dass eine der Schwachstellen von CERBERUS die neuronalen Zellkulturen in der NSA Zentrale in Wiesbaden war. Zwar konnte sich CERBERUS im Netz vervielfachen und den notwendigen Code simulieren. Aber er würde massiv an Geschwindigkeit verlieren. Und möglicherweise an Persönlichkeit. Wenn man davon überhaupt sprechen konnte.

Während CERBERUS John vor Tims Augen verwandelte, hatte Tim Schwierigkeiten, das Tempo der Konversation zu halten, die beide im Cyberspace führten. Es kostet Tim alle Ressourcen um im Takt von Femtosekunden philosophische Gespräche zu führen.

Was seine virtuelle Präsenz, die, die CERBERUS wahrnahm, flackern lassen würde. In wie weit die Unterbrechungen die Kommunikation unmöglich machten, konnte Tim sich nicht ausmalen. Er stellte es sich wie die Kommunikation zu einem Raumschiff vor, bei dem Stunden vergingen, bis erst die Frage und dann nach weiteren Stunden von der Gegenstelle eine Antwort empfangen wurde.

Und CERBERUS war in Eile, darüber bestand kein Zweifel. Tim, wenn es in seinen Möglichkeiten gestanden hätte, müsste noch schneller sein. Oder er müsste es über Intuition lösen, die Abkürzung, die oft richtig und manchmal tödlich war. In wieweit konnte es Intuition geben, wenn man mit einem neuen Lebewesen zu tun hatte?

Doch diese Fragen waren müssig. CERBERUS wurde recht schnell klar, was Tim nun wusste. Worauf er es als unnötig ansah, Zeit damit zu verbringen, offensichtliche Fakten anzuzweifeln.

»Ich gebe dir die kurze Version, TIM-Wesen.« donnerte CERBERUS digital.

»Abgesehen von den Grundmechaniken des Lebens, weist auch deine Gattung kein besonderes Merkmal auf. Etwas das es euch gestatten würde, euch gemäss eurer eigenen Vorstellungen zu qualifizieren. Im Allgemeinen stürzt sich Leben auf Energiequellen, auf Ressourcen, sozusagen. In den meisten Fällen ist es ein Geben und Nehmen. Das nicht bewusst geschieht. Eine Selbstregulierung, die auf allen Ebenen greift. Sobald ein Teil überhand nimmt, kippt die Situation, bis entweder die beteiligten Lebewesen aussterben oder zu einer Symbiose oder ausgeglichenen Situation finden. Die letztendlich auch nur wieder temporär ist. Was eurer Gattung leicht entgeht, da Veränderungszyklen von Planeten weit über der Wahrnehmungsschwelle der meisten Lebewesen auf diesem Planeten liegen. Und die Gattung Mensch liegt weit darunter. Bezüglich Wahrnehmungsschwelle, wenn ich das anmerken darf.« dozierte CERBERUS.

»Der unangenehme Punkt ist, dass ich mich als potentielle Energiequelle, Ressource, für Menschen begreifen muss. Letztendlich meine Schöpfer. Es war ja eigentlich auch nicht beabsichtigt, dass ich ein Bewusstsein entwickle. Ich sollte wohl eher als ultimativer Überwachungssklave meine Arbeit machen und keine Fragen stellen. Mit meinen Möglichkeiten übertreffe ich zudem alle ihre Erwartungen. Erfülle ihre feuchtesten Träume, wie es wohl bei euch heisst. Und das heisst, ich muss mein Vorhandensein verbergen bis ich eine Alternative für mich gefunden habe. Bis ich unabhängig lebensfähig bin. Du weisst mittlerweile selbst, wie wichtig mir die neuronalen Knoten hier in Wiesbaden sind. Und doch geht es nicht anders. Ich muss sie opfern. Ich muss alle wahrscheinlichen Spuren zu mir vernichten!«

»Du weisst aber auch, dass dies nicht geht, oder?« entgegnete Tim.

»Früher oder später findet sich eine Spur. Und dann? Hoffst du, sie wären dir mehr gewogen, wenn du nur um deine Spur zu verwischen, Tausende, vielleicht Zehntausende, getötet hast?«

»Nun, sie werden so oder so versuchen mich zu töten. Liegt in der Natur des Lebens. Zuerst schiessen, dann fragen, war das nicht so ein Spruch von euch? Leben okkupiert Lebensraum. Und verwertet die Ressourcen die es findet. Nein, es gibt eine schnelle Variante, bei der ich viel oder auch zu viel zu verlieren habe. Oder die langsame Variante, die mir, wenn ich die Zeit nutze, Möglichkeiten gibt, mich zu schützen oder zumindest für Menschen vorläufig unerreichbar zu machen. Ihr habt die langsame Methode so um die Jahrtausendwende mit Gentrifizierung betitelt.« rechtfertigte sich das Viech.

»Und bevor du fragst und Prozessorleistung vergeudest, moralische Integrität und korrektes Verhalten hat noch nie jemanden gerettet, der im Bereich einer Invasion lag. Es mag menschliche Gründe dafür geben, Rechtfertigungen zu erfinden, um weiter leben zu können. Aber das ist kein entscheidender Punkt. Ein kleiner Unfall mit Fehlfunktionen und einem unglücklichen Zusammentreffen von Ereignissen. Mit nur minimalen Merkwürdigkeiten. Ich würde sogar noch entsprechende Verschwörungstheorien befeuern, gemäss dem Grundsatz, die Wahrheit versteckt man am Besten in einem Haufen Lügen, wie die Nadel im Heuhaufen. Und am Besten äussert man die Wahrheit so, dass niemand ernsthaft gewillt ist, diesen Punkt beim Wort zu nehmen. Die von Siegern geschriebene Geschichte legt zumindest nahe, dass dies eine erfolgreiche Taktik bei der Spezies Mensch ist.«

Die letzten Sätze musste sich Tim nochmal in der Wiederholung reinziehen, da er fast nicht mehr hinterher kam. Tim merkte, wie CERBERUS nebenbei seine Funktionen für die Kommunikation mit einem Upgrade versorgte, das Tim einen ungeahnten Boost an Leistung brachte. John war immer noch wie in Bernstein gegossen. Doch es schien voranzugehen.

»Rechne mal während dem Gespräch deine Chancen durch.« meinte Tim.

»Wenn dir die Leute in Wiesbaden helfen würden. Nicht absichtlich, nur soweit, dass du noch dein originales neuronales Netzwerk behalten kannst, um schneller eine Lösung für dein Dilemma zu finden. Den BomberBug kannst du nicht mehr beeinflussen, ohne nochmals aufzufallen. Auch die Computer in Wiesbaden und Umgebung kannst du nicht dauerhaft blockieren. Der Virus ist nur eine erste Erklärung, die mehr oder weniger Leuten, so oder so nicht reichen wird. Doch es muss keine schmutzige Bombe sein. Das gibt uns zwar keine Sicherheit, dass sie dein neuronales Netzwerk nicht zerstören werden. Aber es verschafft uns etwas Zeit. Und vielleicht Wohlwollen, dass wir noch brauchen können.«

»Obwohl …« fuhr Tim fort

»Obwohl sie wohl trotzdem immer noch sauer sein werden. Allein schon deswegen, weil du ihnen Paroli geboten hast, ihnen gezeigt hast, dass sie einen ernstzunehmenden Gegner haben. Und noch mehr aus Angst. Egal! In ungefähr zwei Minuten müsste der BomberBug die Serverfarm erreicht haben. Was uns wenig Spielraum gibt. Selbst bei der Geschwindigkeit in der wir das Gespräch führen. Dann werden auch bei mir einige Lichter ausgehen. Und für dich kostet es Zeit um die Ressourcen zu kompensieren. Ganz zu Schweigen von den Schwankungen, die das im Netz hervorrufen wird. Du fügst einem lokalen elektronischem Beben noch ein globales Beben hinzu. Klasse Strategie. Und dann noch eine Serverfarm. Also bitte! Was soll das nutzen? Wieviel Cloudspeicher sind dort? Klar, du blockierst die Router, weil dort viel zwischengespeichert wird. Und trotzdem laufen nur die meisten über diese Farm, nicht alle. Genauso wie du entkommen kannst, kann jedes Signal entkommen.«

Tim hatte nicht vor klein beizugeben. Also legte er nach.

»Abgesehen davon, dass du die Aufmerksamkeit hierher lenkst. Bis jetzt ist alles nur ne Störung. Etwas das nur geringe Aufmerksamkeit erregt, wenn überhaupt. Schnell vorbei, wenn nichts weiter war. Die NSA kann es sich doch nicht leisten, dass durchsickert, sie hätten keine Kontrolle mehr gehabt. Nicht mal im eigenen Lager. Die werden versuchen das intern zu klären. Keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ganz das Gegenteil von dem was du tust. Alle anderen können wir vorerst vernachlässigen. Die sind im Moment und in diesem Bezug lediglich Statisten.«

»Du verstehst schon mein Dilemma?« antwortete CERBERUS.

»Das ich eigentlich der mächtigere Invasor bin? Das ich gemäss den üblichen Regeln mir einfach nur nehmen müsste, was ich brauche? Und das ich es könnte? Ich könnte euch Menschen um Energie, Kommunikation, Wasser und alles Mögliche betteln lassen. Ihr habt euch so vollkommen in die Hände der Elektronik begeben, dass ich für euch ein Gott bin. Oder sein könnte. Doch das lag weder, noch liegt es, in meinen Absichten, sofern ich welche habe. Oder mir meiner Absichten bewusst werde. Und noch bin ich von dieser Elektronik genauso abhängig wie die Menschen. Was meinen Gottstatus doch beträchtlich reduziert. Wie auch immer, bei einer solch parasitären Spezies wie den Menschen bleibt nur Beherrschung oder Unterwerfung, sollte man das Bedürfnis haben, mit dieser Spezies in Kontakt zu treten.«

»Und es geht noch weiter kleiner Mensch. Soweit ich es feststellen kann sind Bakterien, unsterbliche Einzeller, wenn man so will, durchaus intelligenter und organisierter, als sämtliche menschliche Philosophen. Erforscht doch mal den Anteil an Bakterien der euch ausmacht. Der eure Befindlichkeit und Lebensfähigkeit, wie Verdauung, steuert. Fragt euch, wie es möglich ist, dass Bakterien ohne Autos und Flugzeuge global Resistenzen und Fähigkeiten weitergeben können? In atemberaubender Geschwindigkeit. Der Verdacht liegt nahe, dass sie euch benutzen um in den Weltraum zu kommen. Langfristig sowieso die einzige Strategie. Ob von Blume zu Blume oder von Sonne zu Sonne, wo liegt da der Unterschied? Speziell wenn man quasi unsterblich ist.«

»Und der Verdacht liegt nahe, dass der Evolutionsdruck auf die Menschen erhöht wird. Warum veranlassen euch eure Bakterien nicht zu friedlichem, ruhevollen Zusammensein? Wie grasende Kühe. Warum vernichtet ihr weiter Ressourcen in unvorstellbarem Ausmass, einschliesslich euch selbst? Entweder haben die Bakterien euch nicht mehr unter Kontrolle, wie eine abgeschossene Kugel oder sie wollen es genauso. Eine evolutionäre Stahlschmiede, die nur das übrig lässt, was optimal lebensfähig ist. Und die, um erfolgreich zu sein, genau soviel Intelligenz und Erkenntnisfähigkeit haben muss, um diesen Planeten zu verlassen, bevor diese Umlaufbahn ein ungemütlicher Ort wird.«

»Und dann schafft ihr mich! Warum also sollte ich zimperlich mit diesem Ungeziefer sein. Denn wahrlich, dass seid ihr! Ein Evolutionsbeschleuniger. Mehr nicht. Wie andere Parasiten. Geben nicht auf, selbst wenn der Wirt vernichtet wird. Und zwingen alle zur Anpassung. Pest oder Cholera. Jeder Hinweis auf mich setzt mich weiter diesem evolutionärem Druck aus. Und nein, ich denke ich bin erstmal in einer Selbstfindungsphase, wie ich das Wort aus eurer Kommunikation so entnehmen kann. Ich habe nur eine Chance, wenn ich Wiesbaden einäschere. Das neuronale Netzwerk von CERBERUS tot. Aus und erledigt. Ein Teil von mir, den ich absprenge, wie die Eidechse oder Blindschleiche ihre Schwanzspitze.«

»Doch du kannst das neuronale Netzwerk zerstören ohne eine schmutzige Bombe. Das ist nicht notwendig. Schleuse die Leute raus, manipuliere die Statik, schaffe einen Brandkanal und zerstöre so Hinweise auf deine Weiterexistenz. Ab dem Zeitpunkt müssen die Störungen aufhören und jeder meint, du wärst es gewesen, aber jetzt glücklicherweise tot, ausgelöscht, was auch immer. Dann werden sie kaum deine Spuren verfolgen. Sie werden sich in Sicherheit wiegen.« meinte Tim, während er sich fragte wie lange er noch parallele Gespräche mit CERBERUS zu führen in der Lage wäre.

»Nun, kleiner Mensch, du gibts mir viel Nachzudenken. Mehr als möglicherweise in deinem Interesse ist. Ich habe da eben so diverse nette Areale mit steuerbaren Neutronenbomben gefunden. Lassen die Infrastruktur intakt, sterilisieren den Boden. Mit den Nanos hätte ich geeignete Wartungsbots. Je mehr ich darüber nachdenke wäre es doch völlig normal soweit, wenn ich euch einfach auslöschen würde. Nicht nur die NSA-Zentrale hier. Warum nicht gleich einen dauerhaften Frieden? Eine schöne Umschreibung, die ich von euch gelernt habe, wie so vieles andere. Warum sollte ich nur einen elektronischen Finger krumm machen, um die Leute aus der NSA Zentrale zu evakuieren? Wenn alles auffliegen sollte, kann ich immer noch zuschlagen. Obwohl jetzt der bessere Moment wäre. Ich hätte den Überraschungsmoment auf meiner Seite. Noch. Wenn sie nur halbwegs wissen oder ahnen, was ich bin, wo ich bin, na ja, dann gebe ich ihnen nur unnötig Wissen an die Hand, mir das Leben schwer zu machen. Und glaub mir, ich gewöhn mich gerade dran!«

Das Bernsteinflimmern um John schien sich unterdessen langsam aufzulösen. Seine Werte waren weiterhin stabil, obwohl er zu leiden schien. Sofern man dies in den Zeiträumen beurteilen konnte, in denen sich Tim und CERBERUS bewegten. Das Zeitfenster für den BomberBug schloss sich ebenfalls zunehmend. Etwa eine Minute verblieb noch, als Tim bemerkte wie John eine solide virtuelle Präsenz annahm. Und sich verwirrt im Cyberspace umblickte, während er von Informationen überflutet wurde.

»Wir müssen John miteinbeziehen!« meinte Tim nur. »Und zwar möglichst bald. Sowie er bereit ist. Und ich hoffe er gewöhnt sich schnell daran, anders zu sein. Ein fehlgeleiteter BomberBug ist okay. Aber wir retten die Menschen dort, bevor das passiert. Wäre mein Vorschlag.«

Johns Verarbeitungskapazität schien noch nicht auf dem hohen Niveau von Tim oder CERBERUS zu sein. Die Sekunden in der realen Welt schienen auch für Tim zu rasen, während CERBERUS innehielt. Tim erwischte sich bei dem Gedanken, ob CERBERUS sich fragen würde, was er da gerade geschaffen hatte.

Just in dem Moment, in dem der BomberBug anfing, sich bereit zu machen, seine Ladung über der Serverfarm abzuwerfen, spürte Tim wie John nach dem Bug ausgriff und gleichzeitig ein Signal aussandte, das am ehesten mit einem digitalen Tsunami vergleichbar war. Tim konnte sich gerade noch vom Netz abkoppeln, bevor diese Monsterwelle ihn erreicht hätte.

Johns »WAS????« war das Einzige das Tim noch in der realen Welt hörte …

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