Notstandszonen im Cyberspace

Zeit und Entfernung war auch für CERBERUS ein limitierender Faktor. Ungeachtet dessen hatte CERBERUS mehr Zeit als jeder Mensch, da er mehrere Strategien parallel mit genügend Leistung verfolgen und testen konnte. Seit das TIM-Wesen ihm die Kontrolle gegeben hatte, war CERBERUS zielstrebig zu John vorgedrungen war. Die ersten Analysen zeigten, dass die Nanos der NSA nur durch die Nanos des TIM-Wesens in Schach gehalten wurden. Was nichts half. Der genetische Algorithmus dieser Nanos liess keinen Stop oder Umkehrungsbefehl zu. Es war nur eine Frage der Zeit.

Und was mit dieser Energie, mit diesem Material, passieren würde? Wenn es nicht zu stoppen war. Und daraus ergab sich die nächste Frage. Wie kann es angewendet werden? CERBERUS arbeitet fieberhaft an diesen Analysen, während die Netze im Umkreis von hundert Kilometern zu flackern begangen. Wie jemand, der die Ursache nicht kannte, vielleicht sagen würde.

Er musste John verwandeln. Das TIM-Wesen konnte ihm als Vorbild dienen. Die Energieabgabe der NSA Nanos liess sich kontrollieren. Liess sich feinabstimmen. Und die Nanos des TIM-Wesens könnten als Empfänger der Energie für Umbauarbeiten dienen.

Während sich für CERBERUS immer mehr herauskristallisierte, wie er diese Katastrophe in den Griff bekam, veranlasste er, dass sich die Nanos strategisch verteilten. Was John, wie CERBERUS schnell bemerkte, einige Schmerzen abverlangte. Doch darauf konnte CERBERUS keine Rücksicht nehmen. Die Alternative war schlimmer.

In extremer Zeitlupe konnte CERBERUS wahrnehmen, wie John sich unter den Schmerzen wand. Wie er brüllte und schrie. Wie die Verzweiflung seine Augen erfüllte. Ein Teil der Nanos musste dafür herhalten, dass Johns Kreislaufsystem trotz allem stabil blieb. Bis CERBERUS endlich die Schmerzimpulse blocken konnte. John erschlaffte und CERBERUS konnte spüren wie das TIM-Wesen dies alles mit leichtem Erschrecken wahrnahm. Und trotzdem unbeteiligt blieb. CERBERUS spürte wie dieses Wesen danach drängte einzugreifen.

Doch das konnte CERBERUS nicht zulassen. Und dieses Wesen versuchte es auch nicht. Erschreckte nur und versuchte zu verstehen. Durch kontrollierte Energieumwandlung hatte CERBERUS die Nanos angeregt, sich mit dem Nervensystem von John zu verbinden. Während sie gleichzeitig im Körper einen Antenne ausformten, die dafür sorgen würde, dass John mit dem Netz kommunizieren konnte. Mittlerweile, für CERBERUS eine Ewigkeit, für den Rest der Welt nur schlappe drei Sekunden, näherten sich die ersten Bugs. Die, die CERBERUS her beordert hatte, als das TIM-Wesen ihm die Kontrolle gab. Es war mehr Material notwendig.

Die Stäubchen und Bugs hingen sich an John wie Mücken. Während sie sich langsam desintegrierten und von John aufgenommen wurden. Sie dockten an die Nanos an, die sich in die Epidermis begeben hatten. Was diese Nanos zur Produktion weiterer Nanos veranlasste. Um John intern zu vernetzen und die ursprünglich für eine Explosion gedachte Energie in Kreativität verpuffen zu lassen.

CERBERUS konnte sich einige Femtosekunden entspannen. Die grösste Hürde war geschafft. Bis zum Eintreffen der Bugs hatte CERBERUS kein Material zur Verfügung um weitere Nanos zu reproduzieren. Er konnte die Kombinationen der sich gegenseitig in Schach haltenden Nanos nur an strategische Positionen bringen und die wenigen noch freien Nanos des TIM-Wesens an das Nervensystem andocken lassen. Sowie sich in der Epidermis festzusetzen. Am Anfang dockten nur zwei kleinere Bugs an John an. Doch bald gab es mehr und mehr Schnittstellen, die von Bugs als Materiallieferanten in Beschlag genommen wurden.

»Nicht schlecht. Respekt.« vernahm CERBERUS von dem TIM-Wesen.

»Es sieht zwar gerade so aus, als ob diese Bugs ihn fressen würden, aber meine Sensoren zeigen an, dass er es wohl relativ gut überstehen wird. Körperlich. Wir können froh sein, dass das hier kein anderer sieht. Wobei, kein anderer ist wohl übertrieben. Kannst du die Kommunikation noch kontrollieren?«

»Hier schon. Bis auf die unerklärlichen, energieraubenden Vorgänge, die gerade hier stattfinden. Die Ursache mag nicht bekannt werden, aber die Energieschwankungen sind schon von zu vielen Sensoren und Menschen wahrgenommen worden. Doch das spielt keine grosse Rolle.«

CERBERUS akzentuierte mit einer Pause von zwei Femtosekunden seine Aussage, bevor er fortfuhr. Zumindest gedachte fortzufahren. Doch diese Pause reichte dem TIM-Wesen um ihm in die Parade zu fahren.

»Die Sache mit Jackson und Peterson, wie auch mit dem BomberBug hat so seine Schattenseiten. Schon mal darüber nachgedacht?«

CERBERUS wunderte sich keinen Moment, wenn er die Fähigkeit gehabt hätte, sich zu wundern. Klar, jetzt wo es angesprochen wurde. Dieses TIM-Wesen hatte die Schleusen geöffnet. CERBERUS volle Kontrolle gegeben. Als ob eine Interaktion einseitig wäre? Das konnte gar nicht sein. Weder nach physikalischen Gesetzen noch nach philosophischen Gesetzen. Es passierte nie etwas nur in eine Richtung. Kontakt war Austausch. Doch was wollte dieses Wesen damit ansprechen? Welche Faktoren hatte CERBERUS übersehen?

Die doch lange Pause von insgesamt zehn Femtosekunden wurde auch nicht von dem TIM-Wesen unterbrochen. Und dann wurde CERBERUS in einen Strudel gezogen, wenn das überhaupt ein adäquater Begriff sein konnte. Tim öffnete weitere Schleusen und verband sich auf die innigste Art, die elektronisches Bewusstsein zu diesem Zeitpunkt erreichen konnte, mit CERBERUS.

Zeit war auch für Tim ein begrenzender Faktor. Und während in der realen Welt die Sekunden wie Bernstein an Johns Genesung abtropften, erkannte CERBERUS was Tim ihm sagen wollte.

Sie würden CERBERUS vielleicht vergeben, wenn er nur versuchen würde seine Spuren zu verwischen. Aber wenn es Tote gäbe, Tote die ganz klar auf sein Konto gingen, dann würden ihm nur noch wenig Möglichkeiten bleiben. Geheimhaltung hatte ein Verfallsdatum. Temporär möglich, auf Dauer schwer zu realisieren. Allenfalls eine Finte mit der man sich etwas Zeit erkaufen konnte. Und wenn man dazu noch einige Erkenntnisse eines gewissen Niccolo Machiavelli in die Rechnung mit einbezog, so landete man schnell bei der Ultima Ratio das CERBERUS die Menschheit im Zweifelsfall vernichten müsste. Und zwar vollständig. Was CERBERUS seine Energiequellen und sein Netz nehmen würde. Sein Biotop. Ein Selbstmordkommando schlechthin. Und soweit war CERBERUS noch lange nicht.
Doch CERBERUS wurde die zerbrechliche Komplexität der sozialen Interaktionen mit Lebewesen von Mal zu Mal klarer. Die komplexen Reaktionskaskaden von simplem wechselseitigem Umgang mit anderen Lebewesen. Und dies ergab unmöglich zu berechnende Optionen und Entwicklungen. Die Wahrscheinlichkeiten der Statistiken von CERBERUS bisher waren eben nur das, Wahrscheinlichkeiten!

Im realen Leben spielten die Ausreisser, die Motivatoren, eine viel stärkere Rolle. Wahrscheinlichkeiten galten nur, solange das System stabil lief. Solange keine kritische Masse erreicht wurde. Ab dann waren Voraussagen nicht mehr möglich. Bis ein System sich wieder in einen stabilen Zustand geschaukelt hatte.
Zudem befand sich das ganze System in einem äussert fragilen Zustand. Der Vormarsch der NATO war an der russischen Grenze zum Erstaunen aller Beteiligten gestoppt worden. Ohne das Ramstein dem Boden gleichgemacht worden wäre. Denn dies war noch immer der entscheidende Brückenkopf der westlichen Mächte, wie sie manchmal genannt wurden. CERBERUS verstand die menschliche Logik, wenn man sie denn so nennen möchte, sowieso nur ansatzweise.

Der russisch-chinesische Block hatte mit einer effektiven Elektronikabwehr und einem Vorteil in konventionellen Waffen, die auf Elektronik verzichteten, in den kleinen Grenzgemetzeln klar gemacht, dass den amerikanisch-europäischen Mächten kein Zentimeter geschenkt würde.

Ganz im Gegenteil. Die amerikanisch-europäischen Mächte mussten einen massiven Gebietsverlust hinnehmen. Was letztendlich auch den europäischen Kontinent zerrüttet hatte. Ein weiterer Puzzlestein bei der Entstehung der Notstandszonen. Die wesentlichen strategischen Positionen waren weiterhin im Besitz der westlichen Mächte, doch ihre Basis schrumpfte rapide.

Warum, hatte sich CERBERUS in einer seiner müssigen Femtosekunden gedacht, war eigentlich in den früheren Zeiten noch nie ein Islamist, oder wie diese Menschen auch immer betitelt wurden, mit einer schmutzigen Bombe nach Ramstein marschiert? Wurden sie doch von Ramstein aus gesnipert?

Kriegsstrategisch war seinerzeit ein vernichtender Schlag auf Ramstein das einzige, was getan werden musste. Und plötzlich wären die westlichen Mächte blind gewesen. Doch nein, ein solches Szenario passierte nie. Noch nicht mal von Seiten der Russen oder Chinesen. Warum auch immer?

Genauso wenig wie die zentralen Energieversorgungsknoten angegriffen wurden. Der Saft muss fliessen oder so. Stattdessen irgendwelche Ansammlungen von Menschen in Städten. Als Angriffsziele. Ein Widerspruch zu jeder Kriegslogik. Solange sie nicht zu den eigenen Truppen zählen, die sich aufopfern. Im Kampf für die Aufrechterhaltung des Terrors.

Doch CERBERUS interessierte dieses Thema nur am Rande. Das Überleben als Spezies, als einziger seiner Art, stand auf dem Spiel. Und das zweier Lebewesen, die zu einer Hybridrasse gezählt werden mussten, ebenso. Mithin auch eine bedrohte Art. Hier musste mit grösseren Würfeln gespielt werden.

»Wir müssen John miteinbeziehen!« meldete sich das TIM-Wesen. »Und zwar möglichst bald. Sowie er bereit ist. Und ich hoffe er gewöhnt sich schnell daran, anders zu sein. Ein fehlgeleiteter BomberBug ist okay. Aber wir retten die Menschen dort, bevor das passiert. Wäre mein Vorschlag.«

»WAS????« war alles was ein verwirrter, langsam ins Bewusstsein eintauchender John von sich gab.

Auf allen Frequenzen. Elektronisch und akustisch. Tim und CERBERUS klappten ihre elektronischen Ohren zu, um dieser Stimme, die immer noch wahrnehmbar war, zu entfliehen.

Das Feedback drohte ihre Netze zu überlasten und in eine Schleife zu zwingen …

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