Stollen im Taunusgebirge

»Aziz? Licht!« brüllte Heinrich aus der Tiefe der Klärgrube, deren Inhalt sie gerade in Fässer verluden, die genauso stanken, wie alles hier. Trotz der Atemmasken und dem kleinem Sauerstofftank, den sie auf dem Rücken trugen.

Jacko war zusammen mit Peer und Aziz hier. Nachdem sie einige kleinere Reparaturen an dem Belüftungssystem durchgeführt hatten, ging es, wie Heinrich meinte, in die Höhle des Löwen. Die Sickergrube war direkt unter einem riesigen Schlot angelegt, so dass das meiste Gas quasi direkt durch den Schornstein die Grube verliess.

Hier waren sie. Mit Aziz, einem drahtigen, kleinen sympathischen Kerl. Der, soweit man Heinrich glauben durfte, gern anderen die Arbeit überliess. So auch hier, wo er lediglich mit der LED-Lampe Heinrich, Peer und Jacko helfen sollte, zu erkennen, wo die Fässer und wo die Grube war. An seinem erhöhten Punkt reichte Stopfen in der Nase. Da das Gas nicht mehr so konzentriert war, sondern in erster Linie nur Gestank verbreitete. Er schien gerade in ein angeregtes Gespräch mit einem Mädchen verwickelt. Und er hatte völlig vergessen, welche kleine und doch wichtige Aufgabe er hier eigentlich hatte.

Jacko fiel wieder das Gespräch über Gas mit Heinrich ein. Sie hatten hier noch mehr Probleme als in normalen Bergwerken, stellte er fest. In normalen Bergwerken lebten keine Menschen! Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Jeder musste auf’s Klo und oft. Mehrmals am Tag. Wohin das alles ging, sah er jetzt mit eigenen Augen. Und roch es vor allem mit seiner Nase.

Der Gestank hatte den Atemmasken schon angehaftet, als sie ihnen gegeben wurden. Aziz hatte abgelehnt, mit der Begründung, dass er unter Atemmasken Erstickungsanfälle und Panikattacken bekam. Heinrich hatte nur die Augen gerollt und ihm versprochen, dass er der Letzte sei, der bei Gas in der Grube eine Atemmaske von ihm bekäme. Was Aziz mit einem Blick quittierte, der mehr oder weniger aussagte, dass wollen wir doch erstmal sehen, alter Mann!

Nach einer kleinen Ewigkeit in dieser Dunkelheit und weiteren Unmutsbekundungen von Heinrich, wobei er jedesmal die Atemmaske etwas anheben musste, erschien endlich wieder das schummrige bläuliche Halbdunkel in dem sie weiter arbeiten konnten. Das schwache Licht empfand Jacko doch als ziemlichen Segen, man konnte eine Illusion aufrecht behalten, die nicht dem Eindruck entsprach, dass man buchstäblich in der eigenen Scheisse stand. Schliesslich war Jacko auch in den Stollen schon einige Male auf dem Klo gewesen.

Die Flussfischerhosen, die sie an hatten, waren zum Glück nach unten dicht und die Stulpenhandschuhe hielten das meiste von ihnen ab, während sie Eimer in Fässer leerten. Nun ja, eben das Meiste. Was nicht gleichbedeutend mit gar nichts war. Noch nicht mal gleichbedeutend mit wenig, wenn man berücksichtigte wie oft in seinem Leben vorher Jacko in dieser Weise mit seinen und anderen Ausscheidungen konfrontiert war.

Es musste wohl sein wie im Krankenhaus, im Feldlager oder an anderen Orten, wo die Bedingungen suboptimal waren, um das Wort beschissen mal anders auszudrücken. Man durfte sich nicht allzu sehr in das vertiefen, was man gerade tat. Ob es Windeln wechseln, Wunden reinigen, Glieder amputieren oder Scheisse schaufeln war. Es musste einfach getan werden. Keine Zeit für Sentimentalitäten oder Empathie. Abstraktion als Hilfe zur Bewältigung. Doch wohin würde das führen, fragte sich Jacko?

Wieviel Beine müsste man amputieren, um kein Mitgefühl mehr für Person und Situation zu haben? Könnte man überhaupt Beine amputieren, wenn man Mitgefühl hätte? Nun, man konnte Scheisse schaufeln, egal ob man Mitgefühl hatte oder nicht. Es war wahrscheinlich doch nicht so schlimm wie ein Feldlazarett, in das Menschen in unterschiedlich zerfetzten Zuständen ankamen und auf Rettung hofften. Es war wohl doch eher wie Windeln wechseln. Nicht gerade angenehm aber notwendig. Kein Gefühl notwendig. Sofern man sich nicht den Weg vorstellte, den alles genommen hatte.

Und selbst wenn, es war alles vollkommen natürlich. Naja, die Menge war vielleicht doch ein kleines Problem. Im Wesentlichen war es mechanisches Eimer entgegennehmen, im Fass ausleeren, zurückreichen und sich ja keine Gedanken darüber machen was gerade mal wieder in die Stulpenhandschuhe geschwappt war. Sofern es nicht brannte und eher Gefühle, genau genommen Schmerzgefühle, denn Gedanken auslöste.

Und während all dieser Tätigkeiten hätte Jacko fast verpasst, das ihm Heinrich auf die Schulter klopfte und nach oben zeigte. Beim Anblick der Fässer, die Heinrich gerade verschloss, wurde Jacko klar, dass die Vorhölle ein Ende hatte. Zumindest dann, wenn sie die Fässer oben hatten. Das Licht schwenkte wieder herum, weil Aziz anscheinend ein neues gesprächsbereites Opfer gefunden hatte.

»Aziz! Verdammt noch mal!« brüllte Heinrich aus einem Maskenschlitz. Was merkwürdige flatternde Nebengeräusche erzeugte. Und saugende Geräusche, als Heinrich an ihm vorbei nach oben stapfte um Aziz zurecht zuweisen.

Jacko bemerkte nur, zu seinem bleibenden Erstaunen, dass Heinrich immer leiser wurde und Aziz weiter fröhlich grinste und plapperte. Soweit er das unter der Atemmaske, mit den angelaufenen Gläsern, beurteilen konnte. Heinrich stapfte zurück als hätte er eine Schlacht verloren. Und wahrscheinlich hatte er das auch. Zumindest spendete Aziz ihnen wieder genügend Licht, so dass sie die Fässer auf den kleinen Lastkran verladen konnten.

Als sie sich später mit dem wenigen Wasser, das ihnen dafür zur Verfügung gestellt wurde, Seife und einem Lappen ausgiebig gereinigt hatten, obwohl man nicht das Gefühl hatte sauber zu werden, da der Gestank einem noch anhaftete, wurde es Zeit die Mahlzeiten vorzubereiten. Eine der wenigen Sachen vor denen Aziz sich nicht drückte. Nicht direkt, wie Jacko als bald merken sollte. Aziz war einfach ein Genie darin, andere seine Arbeit machen zu lassen.

Und er konnte das auf so eine charmante Art und Weise rüberbringen, das nur wenige zu ihm nein oder gar etwas mehr sagen konnten. Erst Recht nicht Jacko und Peer. Kaum in der Küche wurden sie von Aziz vorgestellt und gleich zu Arbeiten überredet, die, wie Jacko später erfuhr, eigentlich Aziz Aufgabe gewesen wären. Währenddessen Aziz fleissig mit den Mädchen flirtete. Und Jacko und Peer auch noch ihren eigentlichen Anteil der Arbeiten zugeteilt bekamen.

Jacko zweifelte nicht daran, dass Aziz so manches gebrochenes Mädchenherz auf dem Gewissen hatte. Wobei die Frage doch eher war, ob Aziz das überhaupt bemerken würde. Zumindest wenn man sein Auftreten so sah. Jacko blickte immer noch sehnsüchtig der Mädchenspur hinterher, die Aziz zurückgelassen hatte, während Aziz mittlerweile schon neben ihm stand und hintergründig lächelte.

»Hey, is nur Spass!« meinte Aziz augenzwinkernd, als ob damit alles erklärt wäre. Während Jacko die Gurken klein schnitt.

»Echt Mann, ich glaub Allah will das nicht. Das die Mädchen da so … da … siehste? Das is nich normal, ey! Guckst du Tierwelt und so. Sind Männer die Bunten. Nich die Frauen! Is doch voll bescheuert, ey, haste Risiko, Alter, wie Sau. Sieht dich jeder! Will dich jeder! Hey echt, bunt kannste dir auch nur leisten, wenn du das Sagen hast. Nur dann! Und ich …«

Bevor Aziz weiterreden konnte, was gewiss seiner Absicht entsprach, unterbrach ihn Peer. Wobei er ihn misstrauisch anschaute.

»Biste so ein IS, so ein Islamisten Freak oder was? Allah U Akbar und Bomben und so?«

»Klar du NATOd-Arschloch! Wie jeder der an Allah glaubt, oder?«

Aziz blitze Peer mit einem durchdringenden Blick an. Sein Körper straffte sich, ganz als ob er einen Kampf erwarten oder herbeisehnen würde. Und gerade in jenem Moment, in dem Jacko es schier nicht mehr aushielt und schon dazwischen gehen wollte, wahrscheinlich eher nicht gerade beschwichtigend, mischte sich Heinrich von hinten ein.

»Mal langsam, ihren jungen Recken.« meinte er. Wobei weder Peer noch Jacko wussten was Recken waren.

»Peer, bitte halte dich zurück mit unsinnigen Vorurteilen. Aziz kommt aus der Türkei, einer der wenigen Kurden, die den Genozid überlebt haben. Seine Eltern und Geschwister gehörten nicht dazu. Nächtliche Hinrichtungskommandos, Bomben, Anschläge, die ganze Palette. Nur, das weder er noch seine Eltern und Geschwister Terroristen waren. Sie waren die Opfer von Terroristen.«

Peer blickte verlegen drein und murmelte ein »Tut mir leid, sorry.« in seinen nicht vorhandenen Bart. Doch Heinrich war noch nicht fertig.

»Und Aziz …«

»Aber …« war was direkt von Aziz kam. Doch der durchdringende Blick von Heinrich brachte ihn diesmal scheinbar zum Schweigen.

»Nichts aber, Aziz, du weisst, dass wir hier nicht über Religion reden. Jeder mag seinen Glauben haben, aber den hat er für sich zu behalten oder mag er mit jenen teilen, die seines Glaubens sind.«

Heinrich ging noch einen Schritt auf Aziz zu.

»Denn, versteh mich nicht falsch, Aziz, es hat mehr als einen Glaubenskrieg auf dieser Welt gegeben. Da haben sich weder Christen noch Moslems, oder solche, die sich jeweils dafür ausgegeben haben und im Namen welcher Religion auch immer gemordet haben, mit Ruhm bekleckert. Was immer man auch von Islamisten halten mag, sind sie doch ein Produkt des Krieges … eines Krieges um den sie nie gebeten haben. Also wie auch immer man dazu stehen mag, so sind Säureanschläge und Selbstmordattentate, die nicht gegen militärische oder politische Ziele gehen, nichts anderes als Terror und Faschismus in einer seiner vielen Formen. Also verstehe, dass Peer, der aus einem Bereich kommt, in dem alle in ständiger Angst vor Islamisten und Terroristen gehalten werden, nur auf das reagiert, was ihm eingetrichtert wurde. Und das dies ein Fünkchen Wahrheit enthält.«

Doch Aziz war nicht aus einem Holz geschnitzt, dass einfach abwartete und ertrug.

»Dann soll ich dem Arsch noch dankbar sein, dass seine Leute meine Familie ermordet haben, dass seine Leute uns mit BomberBugs niedermähen, dass …«

»Stop, Aziz! Bitte!« fuhr Heinrich dazwischen.

»Weder er noch seine Eltern hatten da einen direkten Anteil dran. Es wurde ja seinerzeit kaum darüber berichtet. Die Wenigsten wissen das. Und die, die es wissen, sind zum grossen Teil Betroffene und Überlebende. Flüchtig und gejagt. Egal wo sie sind. Ausserdem gab es seinerzeit keineBomberBugs. Und so lange funktioniert auch dieses Bergwerk noch nicht. Und jetzt kommen immer mehr. Wir wissen nicht, wie lange das hier noch funktionieren wird. Und wenn es zusammenbricht, sind wir alle wieder auf der Flucht. Alle! Auch du Aziz! Peer und Jacko sowieso! Wer draussen war kommt nicht mehr rein. Ausser zur Befragung. Und Entsorgung.«

Betretene Stille trat sich langsam und grossfüssig breit. Doch Jacko wollte das so nicht akzeptieren.

»Es gibt Wege raus. Es gibt Wege rein. Und wir sind registrierte Bürger.«

Tja, da sollte dieser neunmalkluge Heinrich sich mal die Zähne daran ausbeissen.

»Richtig.« meinte Heinrich. »Ist mir alles bekannt. Der Punkt ist doch der. Wie lange warst du jetzt ohne Verbindung zum Netz? Abgesehen von der Kleinigkeit, wann und wo dein Funksignal verschwunden ist.«

Heinrich zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen. Aziz Backen mahlten und es war ihm anzusehen, dass dies alles ganz und gar nicht nach seinem Geschmack war. Seitenblicke auf Peer und Jacko zeigten, dass die beiden sich hier wohl einen neuen Feind gemacht hatten. Klasse, dachte Jacko, dem dies nicht entging. Ist ja ein super Einstieg.

»Es ist einfach so. Jeder registrierte Bürger wird getrackt. Deine ID, dein Chip-Implantat. Schon vergessen? Das Ding das möglich macht, ob du in eine Bibliothek, eine Kneipe oder sonst irgendwo reinkommst. Das Ding, dass die Polizisten scannen, wenn sie dich erwischt haben. Oder wurdest du noch nie erwischt, Jacko?«
Jacko blickte müde auf. Klar wurde er erwischt! Und seitdem sie ihn erwischt hatten, musste er das Scheiss-Implantat tragen. Wegen Kleinigkeiten. Und dann hatten sie ihn noch öfter erwischt. Zu seinem bleibenden Verdruss.

Es hatte auch seine Eltern zur Verzweiflung getrieben. Während er absolut nichts kapiert hatte. Aber Heinrich hielt sich nicht mit einem Warten auf Antworten auf. Sein Tonfall legte schon die Unwahrscheinlichkeit nahe, die Undenkbarkeit, dass Jacko noch nie erwischt worden wäre.

»Ein bisschen illegalen Handel lassen sie schon zu. Meist für eine begrenzte Zeit. Dann verändern sie ihre Aufmerksamkeit und andere Orte mit weniger Aufmerksamkeit lassen den Schwarzmarkt blühen. Ich sagte weniger. Nicht keine Aufmerksamkeit. Denn sie wissen sehr wohl, dass sie am Schwarzmarkt Gerüchte von draussen hören. Von neuen Gruppen die erstarken. Und die sie dann ausfindig machen und ausradieren. Oder für sich einsetzen und dann ausradieren. Es gibt da gewisse Variationen.«

»Wer sind SIE?« fuhr Jacko dazwischen.

»Geheimdienste, Militär, Polizei, Politik - sofern die überhaupt noch mehr ist als ein Circus Maximus.«

Jacko gab es auf. Fragte er nach einer Bedeutung, bekam er mindestens ein neues Wort, dass er nicht verstand. Circus Maximus? Keine Ahnung, er hatte in Bilderbüchern mal einen Circus gesehen. Mit vielen Tieren. Einem Dompteur. Einem Clown. Im richtigen Leben dagegen war ein Circus ein Mythos. Und wenn Politik ein Circus war, wer war der Dompteur? Wo waren die Tiger, Löwen und Elefanten? Doch sein verständnisloser Blick war Heinrich nicht entgangen.

»Der Circus Maximus war ein riesiges Stadion im alten Rom. Das seinen Ursprung angeblich im sechsten Jahrhundert vor Christus haben soll und zu Zeiten des Plinius einer Viertelmillionen Menschen Platz bot. Ungefähr sechshundert Meter lang und einhundertvierzig Meter breit. Dort fanden verschiedene Wettkämpfe statt. Hauptsächlich Wagenrennen, Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe. Und genauso wenig wie das, was im Circus Maximus passierte, einen Einfluss auf das normale Leben hatte, genauso wenig haben Politiker heute einen Einfluss auf das normale Leben. Sie dienen der Ablenkung. Der Erheiterung. Dem Abreagieren primitiver Instinkte.«

Soviel wollte Jacko auch wieder nicht wissen. Was oder wer dieser Plinius auch immer war. Gladiatorenkämpfe klang interessant. Doch jetzt, hier in dieser Situation, kein Game, verloren auch Gladiatorenkämpfe von ihrem Glanz. Spiele waren doch dazu da, etwas zu erleben, dass man im richtigen Leben, lieber nicht erleben wollte. Na ja, so gesehen befand Jacko sich wohl eher in einem Spiel in dem Tiere oder Menschen gehetzt wurden. Keine prickelnde Aussicht.

»Und warum genau, kann ich jetzt nicht mehr zurück?« hakte Jacko nach. Heinrich hatte viel erzählt. Aber warum sollte das ein Grund sein, dass er nicht mehr zurück konnte? Was sollte ihn hindern?

»Tut mir leid, ich bin abgeschweift. Wenn du nicht mehr auf dem Radar der Polizei bist, und glaub mir, auf dem Schwarzmarkt wissen die genau wo du bist, dann bekommst du, oder besser gesagt dein Signal, nach einer halben Stunde eine Markierung. Festzunehmen und zu befragen bei Rückkehr. Du kannst es gern probieren. Soll ich dich raus bringen?«

Was das für seine Mutter bedeutete, mochte sich Jacko gar nicht ausmalen. Und wenn schon, vielleicht war das alles nur eine Horrorgeschichte, die sich verbreitete. Ein Gerücht. Doch wenn er dann wieder an seinen Vater dachte, wusste Jacko, dass das mehr als ein Gerücht war. Doch warum sollte er diesem Heinrich, der ihm nur Niedergeschlagenheit bescherte, irgendein Wort glauben?

»Woher willst du das denn wissen?« fragte Jacko provokant. Ein Schatten glitt über Heinrichs Gesicht. Seine Schultern fielen herab und er sah für einen kurzen Moment um hundert Jahre gealtert aus. Heinrich liess seinen Blick, der traurig und wütend zugleich wirkte, unangenehm lang auf Jacko ruhen.

»Hey siehst du selbst. Die sticheln dauernd! Dauernd! Und ey und arme Aziz soll lächeln und …«

Ein Blick von Heinrich brachte Aziz abermals zum Schweigen.

»Weil sie es mir gesagt haben. Nachdem sie mich verhaftet hatten. Sie haben mir ganz genau erzählt, wie sie mich überwacht haben. Was sie alles wussten. Dummerweise war ich etwas länger als eine halbe Stunde in einem funkgeschützten Verkaufsstand auf dem Schwarzmarkt. Und mir hat gereicht was ich alles preisgegeben habe. Alles! Alles habe ich preisgegeben. Sie hatten Zeit mit mir. Oh ja, das hatten sie! Isolationshaft. Du bist allein … es ist dunkel … und immer wenn du schlafen willst, wird … laute Musik gespielt. Nervige Musik … keine schöne Musik … keine … beruhigende Musik. Ich vermute sie haben mir auch Drogen in mein Essen gemischt. Und dann kommen die Verhöre. Wenn sie kommen. Erst Unterhaltungen, unterschwellige Drohungen, Ermunterung die Seiten zu wechseln.«

Heinrich hielt inne. Jacko bemerkte wie Heinrichs Hand zitterte.

»Dabei wusste ich gar nicht zu welcher Seite ich wechseln sollte. Ich hatte keine. Ich war Opportunist und Pragmatiker. Und bis zu einem gewissen Masse ein Soziopath. Einer, dem die anderen egal sind, einer der jede Chance ergreift und der keine festen Grundsätze hat, ausser so gut wie möglich zu überleben. So ein ›Nach mir die Sintflut!‹ Typ, bevor du fragst, Jacko. Ich hatte ihnen nichts anzubieten. Nichts, das sie nicht schon gewusst hätten. Sie waren allerdings anderer Meinung. Meine Kooperationsbereitschaft verhalf mir nur zu exquisiterer Folter. Und ich sage euch, es gibt jede Menge Foltervarianten, die deinem Körper kaum mehr Schaden zufügen, als einen blauen Fleck. Und doch stirbst du jedesmal. Fast. Sie lassen dich nie sterben. Sie lassen dich gerade nur spüren, wie es ist. Immer und immer wieder. Bis du dir wünscht endlich zu sterben.«

Heinrich schnaufte aus, mit glasigen Augen.

»Doch nein, auch das lassen sie nicht zu. Sie merken es, wenn du versuchst zu sterben. Dann machen sie mit Einzelhaft und Psychospielchen weiter. Solange, dass man sich wieder nach einem Verhör sehnt. Nach einer Zeit wissen deine Folterer genau, welche Methode am stärksten wirkt. Und welche nicht mehr so wirksam ist. Nach fünf Jahren haben sie das Interesse an mir verloren. Die letzten zwei Jahre verbrachte ich an der Mauer angekettet. Sie mussten mich schon bald zu den wenigen Verhören schleppen, die mir noch verblieben waren, da meine Beine zu schwach waren um mich zu tragen.«

Heinrich atmete hörbar ein, seine Augen glitzerten kurz, dann schien er sich wieder gefangen zu haben.

»Und dann kam der Tag, an dem sie genug von mir hatten. Sie machten sich noch nicht mal die Mühe, mich selbst zu ermorden. Wahrscheinlich brauchten sie gerade wieder einen Terroristen oder Eindringling als Beweis der Effektivität ihres Todesstreifens. Denn dahin brachten sie mich. Schmissen mich aus dem Wagen und liessen mich liegen. In der Mitte des Streifens. Ich konnte die näher kommenden Bugs schon hören, während sich der Wagen entfernte. Und plötzlich schmiss ein kleiner Junge eine Plane über mich und deutete an, dass ich mich ruhig verhalten soll.«

Heinrich atmete aus, fast schon erleichtert.

»Und so bin ich hierher gekommen. Du siehst also Jacko, ich weiss es aus erster Hand. Und ich kann dir nicht empfehlen, diesbezüglich eigene Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht schafft es dieser Tim ja, dass deine Mutter einen Weg hinausschafft. Ob das für sie dann besser ist? Wer weiss das schon?«

Mit einem Seitenblick auf Aziz und Peer fügte er noch eine Bemerkung hinzu, bevor er aufstand und sie wie junge Hunde im Regen stehen liess.

»Und vielleicht schafft ihr Streithähne es ja noch Freunde zu werden oder wenigstens zusammenzuarbeiten. Denn wir müssen zusammenarbeiten. Wenn wir überleben wollen! Wir brauchen einander. Wir haben weder Zeit noch Energie um Krieg zu spielen. Es herrscht genug Krieg. Klar … ?«

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