Paulinen Klinik, Wiesbaden

Herbert blickte verwirrt um sich. Bis ihm langsam klar wurde, dass sein Auto ihn in nervendem Ton daran erinnerte, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Susanne war wohl auch kurz weggetreten gewesen, denn ihr Blick war nicht minder verwirrt. Was durchaus erklärbar ist, wenn man berücksichtigt, das die Fahrt nur etwas mehr als zehn Minuten gedauert hatte, aber beide so erschöpft waren, dass sie eine ganze Woche hätten durchschlafen können.

Sie standen direkt auf dem Besucherparkplatz, von dem aus man wenig von dem ursprünglichen Klinikgebäude sah. Ein im typischen Rot-Weiss gehaltener Bau, dessen rote Ziegel die Kontraste betonte. Ein beispielhaftes Gebäude des Historismus, genauer gesagt der Neo-Renaissance jener Zeit, der für funktionale Gebäude meist eine Form des englischen Tudorstils vorsah. Ausgestattet mit den typischen Rundbögen, den unverputzten Ziegeln und üppig bemalten sakralen Bleiglasfenstern.

Doch davon war hier nur die andere oder andere Kante des Gebäudes zu sehen und ein Teil der schwarz gedeckten Dächer. Im Wesentlichen sah man von hier die ganzen Neubauten des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts. Gefühllose, funktionale Betonklötze ohne Atmosphäre. Quadratisch, praktisch … aber eben nicht wirklich gut. Auch wenn die Innenräume einen die Fassade manchmal vergessen liessen.

Sie steuerten schnurstracks den nächsten Eingang an. Wobei Susanne noch in zwei kleinere Gespräche mit Kollegen verwickelt wurde, die ihr äusseres Erscheinungsbild besorgt zur Kenntnis nahmen und sich darüber aufregten, dass die Technik zur Zeit verrückt spielen würde. Doch glücklicherweise liess der Krankenhausbetrieb genau deswegen niemandem im Moment viel Zeit und so waren diese Begegnungen mit ein paar kurzen Sätzen abgefrühstückt, bevor, so hoffte Herbert, jemand Verdacht schöpfen könnte oder unangenehmen Fragen stellte.

Herbert hatte schon nach kurzem die Orientierung verloren, als Susanne ihn durch diverse unterirdische Gänge lotste. Als sie dann endlich vor dem Labor standen, wurde ihnen langsam bewusst, was Susannes Kollegen damit meinten, dass die Technik zur Zeit verrückt spielte. Susanne bekam keinen Zugang. Die Tür öffnete sich nicht so automatisch wie sie es sonst immer tat. Weder gab die Eingangskontrolle ein grünes, noch ein rotes Licht von sich. Sie schien völlig ausser Funktion.

Und ausgerechnet in diesem Moment hörten sie Schritte hinter sich. Herbert wäre am Liebsten im Boden versunken oder hätte sich gern unsichtbar gemacht. Susanne wurde langsam doch etwas nervös. Bis jetzt war das Labor leer gewesen. Kein Mensch weit und breit. Absolut ideal für ihr Vorhaben.

Bis auf die Sache mit dem Zugang.

Doch nun würden Erklärungen notwendig werden. Und keine Erklärung, die sie geben konnten, war auf längere Sicht haltbar. Zudem würden sie mehr Spuren hinterlassen, als ihnen lieb war. Je mehr Menschen sich an sie erinnerten, desto schlimmer. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre. Mit der NSA im Nacken. Einem toten Agenten. Und Willy, den nur noch ein seidener Faden vom Tod trennte. Abgesehen davon, dass ihnen gerade, wie ständig, die Zeit davonlief.

»Hallo Susanne.« hörte Herbert. Wobei er versuchte ein neutrales unaufgeregtes Gesicht einigermassen beizubehalten. Zumindest klang alles noch höflich und normal.

»Schon mal die Türklinke versucht?« meinte der Kollege fröhlich.

»Die automatischen Zugangskontrollen sind in den sensiblen Bereichen abgeschaltet worden. Da uns die Technik für ’nen Moment ausgesperrt hat. Hat zwei Patienten das Leben gekostet. So ein verdammter Unfug. Und jetzt muss man halt die Tür wieder selber aufmachen. Sei froh, dass du das alles nicht mitbekommen hast. Ich muss dann mal weiter.«

Sprach’s und verschwand wie er gekommen war. Herbert blickte erst betreten auf den hellen Klinikboden, schaute dann auf zu Susanne und beide mussten sich ein prustendes Lachen verkneifen, als Susanne die Tür aufdrückte und sie das Labor betraten.

Die Blutprobe war recht schnell analysiert. Das Instrument arbeitete auch ohne Netz. Während diverse Computer nur eingefrorene Bildschirme anzeigten. Auf seinem kleine Display wurden nach kurzer Zeit die Werte angezeigt: A+ mit Kell negativ. Relativ typisch für Deutschland. Es schien ein Segen zu sein, dass manche Maschinen noch mit uralter Software liefen und mit dem Netz nicht viel mehr anfangen konnten, als ein paar Eingaben für Aufträge entgegenzunehmen und ein paar Ausgaben der Resultate ins Netz zu verschicken.

Also ab in den Kühlraum wo die Blutkonserven lagerten, dachte Herbert. Doch Susanne machte ihm klar, dass sie, wenn sie schon da wären, gleich auch entsprechendes Material, wie Schläuche, Injektionsnadeln und als das kleine Zubehör mitnehmen sollten, dass sie eben in Herberts Haus nicht hatten. Von Desinfektionsmitteln ganz zu schweigen.

Als sie sich auf dem Weg zum Lager wieder in den normalen Krankenhausgängen aufhielten, fiel ihnen auf, dass eine ungewöhnliche Hektik herrschte, die ihnen mehr als gelegen kam. Es schwirrte wie in einem Bienenstock. Keiner sass irgendwo vor einem Computer oder benutzte sein Smarty oder Tablet. Verschieden wurde nach Kugelschreibern verlangt, während Bedienstete mit Zetteln von A nach B rannten. Findige Mitarbeiter hatten Papier aus dem Druckerraum geholt und es an verschieden Stellen offen im Gang positioniert. Wobei an einigen Stellen der Papiervorrat schon langsam zur Neige ging.

Im Lager schnappte sich Susanne einen frisch aufgefüllten Notfallkoffer, packte eine weitere Ambulanztasche voll und drückte alles Herbert in die Hand, während sie sich noch eine Kühlbox schnappte. Praktischerweise befanden sich im Lager auch Krankenhaus-Kittel, mit denen sich Herbert und Susanne ausstaffierten.

Derart ausgerüstet begaben sie sich wieder in das Chaos der Krankenhausgänge. Entgegen Herberts immer noch bangen Erwartungen stellte niemand Fragen. Vereinzelt nickten Menschen, die Herbert nicht kannte, Susanne anerkennend zu, wahrscheinlich dem Irrglauben verfallen, sie würde hier ausser Plan Notdienst leisten. Wobei der eine oder andere aufmerksame Blick Herbert galt. Was in Herbert den Wunsch, hier so schnell wie möglich wieder rauszukommen, nur noch weiter verstärkte.

Und obwohl bisher nicht mehr als zehn Minuten vergangen waren, dehnte sich die Zeit in diesen kalten Krankenhausgängen, mit ihren reinlichen eintönigen Farben, wie Sirup. Sie eilten an den Bereichen für Familien vorbei, die in scheinbar freundlicheren Orange-Tönen gehalten waren. Wie überall mussten sie für den Kühlraum die Tür auf herkömmliche Art öffnen. Während Susanne die Kühlbox füllte, bibberte Herbert an der Tür und hoffte, dass nicht noch jemand gerade die Idee hätte, Blutkonserven zu holen. Eine Hoffnung die sich nicht erfüllte.

Wie Herbert genau in dem Moment feststellte, in dem sich der kältezitternde Gedanke in ihm hochgekämpft hatte. Er war definitiv nicht geeignet dafür, so jemandem wie Buddha in die Fussstapfen zu folgen. Geduld und Gelassenheit, ein Königreich dafür, wenn er nur etwas davon gehabt hätte. Dabei hatte ihm der ganze Weg bis hierher gezeigt, dass seine Nervosität und Angst völlig umsonst gewesen war.

»Hi Susanne, was für ein Wahnsinnstag, oder?« war alles, was der Kollege meinte, als er eintrat, ohne Herbert auch nur eines Blickes zu würdigen. Denn sein Blick wurde definitiv wie ein Magnet von Susannes Hinterteil angezogen, dass sie ihm unbewusst entgegenreckte, während sie die Kühlbox füllte.

»Ach Hans …«, meinte Susanne ohne sich umzudrehen.

»… ich kann dir gar nicht sagen, wie Recht du damit hast!«

Womit sie die Kühlbox zumachte und Hans ein »Bis später …« mit kokettem Augenaufschlag zuhauchte. Kaum waren sie draussen und ausser Hörweite von Hans meinte Susanne beiläufig zu Herbert »Er hat mir auf den Arsch gestarrt, oder?«

Sie wartete das Nicken von Herbert gar nicht erst ab.

»Das macht er immer. Ich spüre das. Und ich weiss nicht, ob ich das mag. Es hat sowas Heimliches, Verstohlenes. So voyeurmässig, wenn du weisst was ich meine. Ich glaube da ist mir der ehrliche offensichtliche Bauarbeiterstil doch lieber. Auch wenn das gleich unerquicklich sein kann. Aber die verstecken das nicht. Keine heimlichen Blicke. Die dann weggleiten, wenn man sie anschaut. Und ihre Verlegenheit spürt. Ausserdem ist er verheiratet. Ist möglicherweise auch etwas gemein, oder? Dass ich immer etwas anmache, ihn kokett anblicke und so?«

Herbert kam sich dabei ziemlich blöd vor. Denn wenn er es genau nahm, gehörte er wohl auch eher zu dieser Sorte.

»Ähem, ja, er hat dir auf den Hintern gestarrt.« war alles was ihm dazu einfiel.

Susanne wählte einen Seitengang, der sie um die Pforte herumführte. Direkt durch die Pforte in Kitteln herumzuspazieren hätte wohl auch für Susanne etwas zu seltsam gewirkt. Die Kittel liessen sie in der Nähe des Ausgangs an einer Garderobe zurück und Herbert, beseelt von dem vielen unglaublichen Glück, dass sie bis jetzt hatten, schnappte sich kurzerhand noch einen Infusionsständer der herrenlos im Gang herumstand. Susanne quittierte das nur mit einem leichten Zucken der rechten Augenbraue.

Der kritischste Moment würde das Beladen des Autos werden, dachte sich Herbert gerade wieder. Schliesslich hatten sie weder ein Schild »Arzt im Dienst«, noch sah das Auto nach einem Ambulanzwagen aus. Oder gar nach einem Auto, dass ein Arzt fahren würde. Allenfalls ein Assistenzarzt.

Doch Herberts Bangen und innerliches Zittern wurde auch diesmal wieder enttäuscht. Nicht ein Kollege liess sich blicken. Nicht eine Person, die auch nur in ihre Nähe kam. Herbert fragte sich ernsthaft ob das Glück im weiterhin hold bliebe, wenn er keine Angst mehr hätte, sondern gelassen durchs Leben schreiten würde?

Kam nicht Hochmut vor dem Fall? Und war es nicht irgendwie hochmütig anzunehmen, dass alles gut würde? Aber nein, Gelassenheit war ja nicht die Erwartung von etwas Gutem. Es war die Fähigkeit, die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen, ohne ihnen oder sich selbst Gram zu sein.

Herbert stellte das Navi auf Heimkehr und wunderte sich ein bisschen, dass das Auto noch selbstständig fuhr. Wenn überall die Technik ausfiel, warum dann nicht auch in diesem Wagen. Nun, es war kein Google oder Apple Car. Es war ein alter stinknormaler Alfa Romeo, der nachträglich aufgerüstet wurde. Zu Zeiten, als die ersten selbstfahrenden Autos auf der Strasse zu finden waren. Vor SpyBugs und NetUs. Wahrscheinlich war das der Grund. Hatte sein Onkel nicht mal erwähnt, dass dieser Wagen mit einer autonomen KI ausgestattet war? Herbert war sich nicht sicher, aber doch froh, dass dieser Wagen den Weg nach Hause fand.

Nachdem jetzt die Müdigkeit in den Hintergrund gespült war, bemerkte Herbert, dass so einiges im Argen lag. Die elektronischen Verkehrsanzeigen waren ausgefallen. Jede Menge Apple und Google Cars standen verlassen am Strassenrand. Überhaupt schien auf der Strasse kaum etwas los zu sein. Der Konrad-Adenauer-Ring wirkte so verlassen wie in einem dieser Endzeitfilme. Nur die Häuserkulisse war im Gegensatz zu diesen Filmen intakt. Und von den elektronischen Anzeigen hingen keine Fetzen, Sträucher oder sonst etwas. Sie waren nur einfach alle entweder aus oder eingefroren. Sein Smarty meldete zwar Netz, aber das war auch alles. So nutzlos wie ein Stück Plastik.

Als sie endlich wieder in Herberts Küche waren, stellten sie fest, das in der knappen halben Stunde, die sie weg gewesen waren, sich nicht allzu viel verändert hatte. Immerhin war die Leiche weg, obwohl der Geruch noch in der Luft hing.

Alex stritt sich wie immer mit irgendjemandem. Und Willy atmete mehr als nur flach. Seine Augenlider flatterten und Herbert erging sich in ernsten Sorgen. Insbesondere ob seiner Nutzlosigkeit, wie genau jetzt, während Susanne Willy, ohne Herberts Hilfe, eine Infusion setzte. Er hatte keine Ahnung wie man so etwas machte. Infusionen setzen, Leben retten, Kranke versorgen. Das war immer weit weg von ihm gewesen. Etwas das man in Filmen sieht oder in Büchern liest. Wenn überhaupt.

Zumindest wurde er beim Anblick von Blut nicht ohnmächtig. Obwohl er sich doch immer seltsam fühlte, wenn es mehr Blut war als ein paar Tropfen durch einen Kratzer. Nur langsam drang die Stimme von diesem NSA Typen, Peterson hiess er wohl, zu ihm durch.

»Und? Was wollt ihr jetzt machen? Mich auch noch umbringen? Wäre wohl das Beste, ob ein oder zwei Morde, da ist kein grosser Unterschied. Sie werden euch so oder so drankriegen. Da könnt ihr Gift drauf nehmen. Selbst in den Notstandsgebieten werden ihr vor uns nicht sicher sein. Ich persönlich werde mich darum kümmern, dass verspreche …«

Zu mehr kam er nicht, da Alex ihm die Faust ins Gesicht rammte.

»Schon klar, erst ab zehntausend oder mehr Morden bekommt man eine Medaille, du Freak!«

»Lass ihn, verdammt nochmal Alex. Es ist doch alles schon schlimm genug.« ging Herbert dazwischen.

Noch während Herbert zum nächsten Satz ansetzte, sah er, wie Alex einen komischen Blick bekam und auf etwas starrte, das hinter Herbert zu geschehen schien.
»Hat jemand die Kellertür aufgelassen?« fragte Alex kreidebleich. Herbert wirbelte herum und sah eine riesige Wolke von Stäubchen, NetUs, die eine Kette durch die offenen Türen bildete, während sie blinkten wie verrückt. Das Smarty von dem NSA Typen fing an zu surren, während Peterson, der die Situation viel schneller erfasst hatte, bereits lautstark um Hilfe und Verstärkung schrie.

»Sie haben Jackson umgebracht, diese Schweine!« war das Letzte was er herausbrachte, bevor ihn Alex wieder ins Reich der Träume schickte und ihn anschliessend knebelte.

»Scheisse!« entfuhr es Herbert. »Was nun … ?«

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