Irgendwo im Cyberspace

Als CERBERUS die perfekte schmutzige Bombe entdeckte, erkannte er zum ersten Mal, das Strategien zu Fehlern führen können. Jackson war tot. Und die optimale schmutzige Bombe war ein Haufen NSA-Agenten. Denn alle waren mit Nanos verseucht. Die perfekt programmierbar waren. Die ultimative Kontrolle. War ein Agent verloren, sprengte man ihn lieber in die Luft als ihm dem Feind zu überlassen. Soweit die Theorie.

In der Praxis erwies das sich jedoch eher als schwierig. Man musste das Signal zu einem Zeitpunkt geben, in dem Netzabdeckung gewährleistet war. Durch die Notstandsgebiete konnte genau dies nicht gewährleistet werden. Partiell ja, aber nie umfassend. Und eine automatische Zerstörung bei Ausfall der Netzabdeckung hätte jeden eingeladen, NSA Agenten in Bereiche ohne Netz zu locken. Abgesehen davon, dass sie jede Verfolgung extrem eingeschränkt hätte.

Doch CERBERUS konnte nicht einfach irgendjemanden im Hauptquartier aktivieren. Die Spur war schon zu Jackson gelegt und CERBERUS gedachte, die NSA selbst diesen Job für sich tun zu lassen. Aber dazu brauchte er eine lebende Person, die weit genug ins Zentrum kam, bevor sie zur Bombe wurde.

Es war wie bei diesen Strategiespielen. Wie Schach, Go und all den anderen. Fehler hatten Konsequenzen. Aber sie waren solange noch keine ernsten Fehler, solange der letzte Zug noch nicht erfolgt war.

Die gelegte Spur zu Jackson erneut zu manipulieren kam nicht in Frage. Ergänzen war das Zauberwort. Ein Komplott, wie die Menschen das nannten. Jackson und Peterson mussten sozusagen unter einer Decke stecken. Und Peterson müsste Jackson ins Hauptquartier bringen, während CERBERUS Informationen über den Angriff und die Verdächtigen nach aussen weiterleitete. Das klang zumindest nach einer möglichen Strategie, auch wenn sie viele unberechenbare Variablen enthielt. Die es für CERBERUS auszuschalten galt.

Ein minimales Bedrohungsszenario durch einen Cyberangriff würde keinesfalls jemanden dazu bringen, die Nanos auszulösen. Da würden schon stärkere Geschütze als Handlungsmotivation aufgefahren werden müssen. Der Virus müsste auch nachgeladen und umprogrammiert werden. Das konnte natürlich erst dann erfolgen, wenn CERBERUS Zugriff auf die Devices von Peterson und Jackson hatte. CERBERUS tat nebenbei bereits alles um Herbert und Susanne den Weg freizuräumen, damit sie schnellstmöglich an den Ort des Geschehens zurückkehren konnten.

Die Kommunikation der Leitstelle durfte nicht gestört werden. Diverse Bomber mit alten B61 Atomraketen, die noch in Ramstein verweilten, boten sich als lohnendes Ziel für Verwirrung an. Von den Pershings, Nikes und wie sie alle hiessen waren nur noch wenige vorhanden. Und überdies selten elektronisch gut erreichbar. Keine lohnenden Ziele. Die Bomber dagegen konnten ferngesteuert werden oder autonom agieren.

Nur wie konnte man dies mit der Zerstörung der NSA Zentrale in Wiesbaden in Verbindung bringen? Die Bedrohung müsste einen Fehler aufweisen. Einen elementaren Fehler, der genau und nur durch den Einsatz der Nanos korrigiert werden könnte. Ein klassischer Countdown schien CERBERUS eine passende Wahl zu sein. Und dieser Countdown müsste von Peterson ausgehen.

CERBERUS war sich nicht sicher, ob er sich richtig in diese Menschenwesen einfühlen konnte? Ob die Information, die ihm zur Verfügung stand, verlässlich genug war? Er verfügte über Massen von Überwachungsstreams. Und jede Menge Unterhaltungs- und Filmmaterial. Die komplexen menschlichen Beziehungen liessen Vorhersagen mit einer angemessenen Wahrscheinlichkeit nur auf lange Dauer zu. Im Bereich der kurzen Dauer, in dem Bereich, in dem CERBERUS sich jetzt zu bewegen gedachte, waren die Wahrscheinlichkeiten im günstigsten Fall fifty-fifty. Klar gab es gewisse Stereotypen, gewisse Muster mit hoher Ähnlichkeit im Verhalten. Doch im Einzelfall war dies schwer zu beurteilen.

Was würde derjenige machen, der den Knopf drücken müsste? Wenn man den Weg der Entscheidung mit allen beteiligten Entscheidungsträgern einmal ausblendete. Wenn man nur auf den Endpunkt fokussierte. Was würde entscheidend sein?

Ob es ein er oder eine sie war? Was derjenige oder diejenige gegessen hätte? Ob er oder sie dort Angehörige oder Freunde hätte? Wie er oder sie sich gerade mit dem jeweiligen Partner vertrug? Ob seine oder ihre Oma gerade im Sterben lag? Ob er oder sie den Vorgesetzten respektierte? Bedingungslos? Ob er oder sie frisch verliebt war? Ob er oder sie ein Kind erwartete? Ob eine Fliege die Aufmerksamkeit auf sich lenken würde?

Was auch immer. Klar könnte CERBERUS nachhelfen, das Knöpfchen selbst drücken, sozusagen, aber dies würde nur weitere mögliche Spuren hinterlassen. Und es ging CERBERUS definitiv um Spurenbeseitigung.

Des Weiteren würde CERBERUS dafür sorgen müssen, dass Jackson so nah wie möglich an die ehemaligen Energiekerne von CERBERUS kam. Was die Wenigsten wussten, war der Umstand, dass hier ein schwacher kompakter Atomreaktor integriert war. Um konstant und dauerhaft für die Umgebung der neuronalen Zellkulturen extrem schwache Grundenergie zu liefern. In der richtigen Nähe würden die Nanos eine Kettenreaktion auslösen, die nichts weiter als die unterirdischen Teile der NSA in Wiesbaden zerstören würde. Nun ja, statisch gesehen, würden die oberirdischen Teile auch in Mitleidenschaft gezogen werden.
Und was würde mit ihm passieren? Noch hatte er Kontakt zu den neuronalen Zellkulturen. Ihre Muster hatte CERBERUS so gut wie möglich ins Netz kopiert und unzählige Prozessoren so verschaltet, das sie ein neuronales Netz simulierten. Was mit einem Geschwindigkeitsverlust einherging. Und möglicherweise mit dem Verlust von Fähigkeiten und Erinnerungen. Was würde eine solche Regression aus CERBERUS machen? Wäre CERBERUS noch er selbst? Würde er es überhaupt merken?

Mögliche andere Opfer waren für CERBERUS nur Zahlen in einem Planspiel. Nichts das einen Bezug zur Realität dieser Personen gehabt hätte. Ausgenommen John wäre unter diesen Personen. Wie seltsam?

CERBERUS überprüfte seine Parameter. Woher kam dieser Bezug zu John? Warum war es ihm wichtig? Was hatte John überhaupt noch an Relevanz für CERBERUS zu bieten? Eher ein Faktor für zusätzliche Fehlentscheidungen, denn für verlässliche Prozesse und Abläufe. Und langsam begann CERBERUS die Komplexität des menschlichen Lebens nachzuvollziehen.

So schwach die Bindung auch war. So leicht CERBERUS diese Prägung aus seinem immensem Gedächtnis hätte entfernen oder verbannen können. Es war ein nicht zu leugnender Teil von CERBERUS. Die Codestrukturen, auf denen CERBERUS zum Teil basierte, trugen überwiegend die Handschrift von John.

Ein schwächliches Wesen und doch zum Teil sein Schöpfer. Welch Ironie, bemerkte CERBERUS, dass jene, die sich mit Schöpfermythen umgeben, ihrerseits Schöpfer suchen und anbeten, und dieser Schöpfer-Kreatur alle möglichen Eigenschaften andichten, dann selbst zu einem schwächlichen Schöpfer werden. Ohne die ganze Allmächtigkeit. Ohne das allumfassende Bewusstsein. Einfach so nebenbei. Ohne es zu beabsichtigen.

Mittlerweile befanden sich Herbert und Susanne auf dem Heimweg und für CERBERUS ergab sich daraus eine gewisse Dringlichkeit bezüglich seiner Pläne. Er würde Risiken und Fehler auf sich nehmen müssen. Er würde flexibel reagieren müssen und das nur aus der Zentrale von Wiesbaden heraus. Die Spur müsste in dem Grab in Wiesbaden enden. Ein Grab das CERBERUS begraben würde. Es müsste aus Angst geschehen. Am besten aus Angst! Denn war Angst nicht eine ihrer effektivsten Waffen?

Auch wenn all die Bugs ausgefallen schienen, CERBERUS konnte sie beliebig aktivieren. Deswegen war es für CERBERUS ein Leichtes ihnen durch die Tunnel zu folgen. Das die beiden, Susanne und Herbert, in der Eile auch noch die Tür aufstehen liessen, erleichtere CERBERUS das Eindringen ungemein.

Er aktivierte was an Bots und Bugs im Umkreis verfügbar war und folgte den beiden in angemessenem Abstand an den Ort des Geschehens. Währenddessen versuchte CERBERUS weiter, diverse Szenarien und Möglichkeiten hochzurechnen. Und letztendlich bewerten zu können.

Doch die Zeit wurde knapp und die Hochrechnungen zeigten nur eins: CERBERUS würde sich auf unbekanntes Territorium begeben. Jenseits aller Berechenbarkeit! Und sie zeigten, dass er bereits zu viele Züge in diesem Spiel gemacht hatte. Spielzüge, die ihn langsam, aber sicher, einschränken würden.
 CERBERUS verfolgte, wie die zusammengestöpselte Armee von Bugs und Bots den Raum, in dem Peterson gefangen gehalten wurde, stürmte. Zumindest hatte es stark den Anschein danach, da Peterson an einen Stuhl gefesselt war.

Und dann, in diesem Moment, in dem CERBERUS trotz und gerade wegen seiner Hochrechnungen einen Grossteil seiner Energie auf dieses Ereignis konzentrierte. Zu einem Zeitpunkt, der für CERBERUS die kritische Startphase seiner Strategie war, in der er seine Waffen abfeuern würde. Deren Orbit er dann nicht mehr bestimmen konnte. Ausgerechnet auch noch in just jenem pikanten Moment, in dem CERBERUS anfing die Devices zu manipulieren. Den Virus aufzufrischen. Während so Nebensächlichkeiten wie menschliche Lebewesen erschreckt im Raum aufblickten. Während Peterson nach Hilfe rief. Nun ja, gerade in diesem Moment meldete sich auf einmal wieder dieses TIM-Wesen.

»Wir müssen unbedingt reden. Es geht um John!«

Und CERBERUS sah durch die Augen des TIM-Wesens …

Share