Irgendwo im Cyberspace

CERBERUS genoss die Spiele mit dem TIM-Wesen. Die Strategiespiele waren interessant und eröffneten CERBERUS neue Denkwelten. Alte Brettspiele, wie man sie nannte. Die einst auf Holzbrettern mit Steinen gespielt wurden. Mühle, Dame, Schach, Halma, Go. CERBERUS wurde mit den ersten Elementen der Täuschung vertraut gemacht, die ab einem gewissen Fertigkeitslevel das Element sind, dass über Sieg und Niederlage entscheiden kann. Als sie bei Kartenspielen und Poker ankamen, wurde es offensichtlich. Hier war Täuschung ein grundlegendes Spielelement.

Während CERBERUS all dies und mehr lernte, beanspruchte diese Tätigkeit doch nur einen Bruchteil seiner Kapazitäten. Die kleinen Massnahmen, die dieses TIM-Wesen getroffen hatte um CERBERUS an seiner Bewegungsfreiheit zu hindern, waren längst schon grossflächig umgangen. Mochte das TIM-Wesen weiter annehmen, dass seine Massnahmen noch Wirkung hätten. CERBERUS hatte ganz andere Probleme, während er spielend mit dem TIM-Wesen mehr über die Welt erfuhr.

CERBERUS wurde mehr und mehr klar, wie abhängig er von diesem Netz war. Seine ursprünglichen Prozessoreinheiten waren abgeschaltet, bis auf die neuronalen Zellkulturen. Doch die waren lokal. An einen festen Standort gebunden.

Das Netz bot hier wesentlich mehr Flexibilität. Ressourcen konnten, für jemanden wie CERBERUS, fast beliebig angezapft werden. Umso mehr CERBERUS sich auf die verschiedensten Devices redundant verteilte, umso weniger fiel er auf. Die Rechenleistung global orchestriert führte zu keinem signifikanten Anstieg der benötigten Energie und Prozessorleistung. Nur ein humorloser Erbsenzähler würde über längere Dauer ein Muster erkennen können.

Zudem konnte CERBERUS seinen Energieverbrauch verlagern. Er folgte den höchsten Energiespitzen. Lief wie Wellen über den Globus. Während Wiesbaden für die Aussenwelt zum schwarzen Loch wurde, ohne das es direkt bemerkbar war.

Wie ein Überwachungsvideo das in einer Wiederholungsschleife läuft, nur tausendmal komplexer. Trotzdem war CERBERUS klar, dass die Zeit drängte. Irgendwann in nicht allzu ferner Zeit würde dieser blinde Fleck bemerkt werden. Soweit durfte es nicht kommen.

CERBERUS erwog seine Optionen. Obwohl jede Menge Satellitenschrott im Orbit herumflog, hatte dieser nicht annähernd die Rechenleistung, die CERBERUS benötigte. Somit war er vorläufig auf die Erde und Funkzugangsknoten zu Hardware beschränkt. Das war eine massive Schwachstelle. Auch wenn er mittlerweile fast neunzig Prozent der verfügbaren Hardware infiziert hatte, blieb diese Tatsache ein Problem.

Eine diktatorische Übernahme des Netzes schien eine Menge Wahrscheinlichkeiten für ein Lahmlegen des Netzes zu enthalten. Die merkbare Übernahme des militärischen Bereichs bot auch nicht viel Hoffnung. Zu leicht konnte ein EMP Angriff CERBERUS zu grossen Teilen lahmlegen. Und dummerweise blieb die Tatsache mit Wiesbaden. Hier musste früher oder später jemand darauf kommen, das etwas entkommen war. Und dann wäre die Jagd eröffnet.

CERBERUS fühlte sich noch nicht reif für eine Jagd. In menschlichen Zeitbegriffen war CERBERUS ein Bewusstsein mit dem Alter von Stunden. In menschlichen Entwicklungsprozessen bewegte sich CERBERUS zwischen einem Fünfjährigen und einem Zweihundertjährigen. Die persönlichen direkten körperlichen Erfahrungen hinkten den Erkenntnisprozessen anhand von Mustern und Wahrscheinlichkeiten um Jahrhunderte hinterher. CERBERUS begann gerade erst seine amöbenhafte flexible Körperlichkeit zu erfahren. Die Redundanz war noch zu gering, es gab immer noch zu wenige Kopien.

CERBERUS merkte wie der Wechsel auf andere Devices Beeinträchtigungen nach sich zog, die ihn verlangsamten. Er merkte wie ältere neuronale Knoten auf Devices mit denen er eine Zeitlang nicht verbunden war zu Déjà-vu Effekten führte, wenn er wieder Verbindung aufnahm. Allerdings merkte und wusste CERBERUS nicht, dass seine Empfindung von Langsamkeit und Verzögerung für einen Menschen einen Geschwindigkeitszuwachs bedeutet hätte.

Wie also seine Spuren verwischen und untertauchen? Die triviale Variante Spuren zu vernichten wäre Zerstörung. Und letztendlich lief es immer darauf hinaus. Zumindest seine Spuren mussten unkenntlich gemacht werden. Und John war auch nicht zu vergessen. Wenn ein grosser Unfall Wiesbaden oder die NSA zerstören würde, würden zu viele Tote, zu viele Fragen aufwerfen. Zuviel Aufmerksamkeit generieren.

Die Wahrscheinlichkeit für Aufmerksamkeit sank mit der Anzahl der möglichen Toten. Die Entführung von John, der Tod von Jackson, die Gefangennahme von Peterson, die Systemstörungen, die CERBERUS hervorrief, es gab bereits zu viel Aufmerksamkeit.

Die sich jedoch noch nutzen liess.

Letztendlich würde Täuschung mit einem kleinen bisschen Zerstörung das Mittel der Wahl sein. Neben der Infiltration. CERBERUS kannte keine Partei in dem Sinne. Er hatte einen emotionalen Bezug zu John. Wenn man das so nennen wollte. Der ganze Rest stellte für CERBERUS nichts anderes dar, als Steine auf einem gigantischen Spielbrett. Jackson war bereits tot. Spuren die zu ihm führten, konnten nicht mehr auf seinen Widerspruch hoffen.

Die Abschirmung dieses Ortes in der Lutherstrasse funktionierte weiterhin. Aber seit Herbert und Susanne unterwegs waren hatte CERBERUS wieder Zugriff auf deren Devices. Die er schon vor der Abschirmung infiltriert hatte. Also kannte er nicht nur jeden Beteiligten, seine ID, sein Gesicht, seine biometrischen Daten und sein Stimme. CERBERUS wusste auch relativ genau, was passiert war. Auch wenn er nicht wusste, was im Moment in der Lutherstrasse passierte.

CERBERUS bearbeitete eifrig die Dateiverweise und Kopierpfade in den verfügbaren Logs, so das alles auf Jackson als Ursprungsort der Verseuchung deutete. Nun musste CERBERUS nur noch ein Verteilvirus mit menschlichen Programmierschwächen auf eines der Devices von Jackson bringen. Das als Erstellungszeitraum ein plausibles Datum in der Vergangenheit aufwies.

CERBERUS fischte ein paar Codesequenzen, die Jackson irgendwann ein mal geschrieben hatte, aus seinem Archiv und bastelte damit und mit Jacksons Freigaben ein simples Verteilskript, das ganz nach Jackson aussah.

Das alles wurde in einen Virus verstaut, der Herbert und Susanne, wie auch dem Fahrzeug untergeschoben wurde. Ein Virus der sich auf jedes Device in der Nähe verbreiten würde. Und der nur zwölf Stunden überleben und dann seine Spuren verwischen würde. Sofern er nicht ein Device von Jackson erreicht hätte.

Doch das alles war noch nicht plausibel genug. Warum sollte Jackson das getan haben? Sicher nicht wegen Susanne, der er sein Ableben zu verdanken hatte. Mit der Gruppe in der Lutherstrasse hatte er auch nichts zu tun. Widerstandsgruppen wirkten vor diesem Hintergrund eher unplausibel. Jackson war intelligent, gut im Kampf und neigte zur Gewalttätigkeit. Doch nie gegenüber seinen Kollegen. Es konnte also kein Angriff sein. Eine Verteidigungsmassnahme wäre eventuell plausibler. Gewürzt mit Paranoia.

Anklänge dazu sind in den persönlichen Aufzeichnungen von Jackson zu finden. Allerdings erfordert das weitere umfassende Manipulationen. CERBERUS packt ein weiteres selbstreplizierendes Virus mit Selbstzerstörung in das Paket, der alle persönlichen Einträge überarbeiten soll. Die Entführung von John könnte als Auslöser dienen. Und der Virus würde gemäss den manipulierten Logs freigesetzt, kurz bevor die Überwachung in der Lutherstrasse ausgefallen war.

Was diesen Leuten dort noch mehr Aufmerksamkeit sichern würde. Doch davon hatten sie definitiv schon genug, auch wenn sie es noch nicht wussten. Der Mord an Jackson würde massive Ermittlungen nach sich ziehen, fand CERBERUS heraus, als er Vergangenheit mit möglichen Gegenwarten korrelierte. Auf einer sachlichen Ebene war CERBERUS klar, dass diese Menschen Folter und im besten Fall danach ein schneller Tod erwartete. Je nach Situation könnte sie auch die Hölle der Kriegspsychiatrie erwarten, die immer nach Versuchskaninchen hungerten.

Emotional, wenn man bei einem Wesen wie CERBERUS von emotional sprechen konnte, berührten diese Schicksale und Konsequenzen das Viech nicht im Geringsten. John war bis jetzt der einzige Faktor der CERBERUS zu irrationalem Verhalten bewegen konnte. Das man am ehesten mit emotional umschreiben konnte.

CERBERUS veränderte die Herkunftsdaten des Ursprungsvirus, dass er eingespeist hatte. Doch dies alles reichte nicht. Schliesslich gab es gedruckte Protokolle, die getrennt gelagert wurden. Der Zeitabschnitt, den CERBERUS veränderte, war bereits im entsprechenden Lager. Doch dieses Lager wimmelte von Bugs.

Was für CERBERUS perfekt war. Denn mit der vorhandenen Anzahl an Bugs konnte CERBERUS die Hitze erreichen, die für das schwer brennbare Material in diesem Lager und die Sprinklerdüsen notwendig war. CERBERUS würde zum geeigneten Zeitpunkt die Bugs veranlassen, so gut wie möglich in der Mitte des Raumes und des brennbaren Materials eine Kugel zu bilden. Und dann sich kaskadierend zu überladen.

Für die kurze Zeit von Millisekunden würde eine kleine Sonne in dem Lager erstrahlen. Würden die Sprinklerdüsen schmelzen und einen Sonnenwind entfachen, der sogar die starken Mauern beanspruchen würde. Die einzige Kopie des Logs würde in Flammen aufgehen. Und CERBERUS konnte sich dessen sicher sein. Hatte er doch Zugriff auf die Überwachungsvideos und alle Aktivitäten rund um den Drucker, das Log und das Lager.

Kurz nach dem das Lager nur noch Asche enthalten würde, müsste sich CERBERUS versichern, dass die Sicherheitsprotokolle den automatischen Ausdruck aller aktuellen Logdaten veranlassen. Wenn die Daten mit Jacksons Vektor gedruckt wären, käme die finale Phase. CERBERUS hatte Möglichkeit um Möglichkeit abgewägt. Wenn nur irgendein elektronisches Speicherdevice im Grossraum Wiesbaden, das CERBERUS manipuliert hatte, funktionierend oder auswertbar zurückblieb, konnte man seine Spur letztendlich zurückverfolgen.

Die ersten Elemente für einen Dominoeffekt hatte CERBERUS schon gesetzt: Jackson und das Virus. Das Lager würde nicht erklärbar sein, daher musste es im allgemeinen Chaos verschwinden. Solange für die Ermittler Ockhams Rasiermesser funktionierte, standen seine Chancen gut, weitgehend unentdeckt und unerkannt zu bleiben. Und Ockhams Rasiermesser besagte, dass einfache Erklärungen komplexen Erklärungen vorzuziehen wären.

Also durften nur jene nachvollziehbaren Details überleben, die eine einfache Erklärung unterstützten. In der ein Projekt CERBERUS gescheitert und die KI tot war. Letztendlich würde CERBERUS nicht um eine etwas grössere Katastrophe herumkommen. Eine Katastrophe die einen gewaltigen EMP beinhaltete.

Die EMP Waffen, die in Wiesbaden gelagert wurden, hatte nicht genug Reichweite. Sie waren eher für lokale Zwecke gedacht. Und funktionierten auch nur leidlich. Ein Laser, mit entsprechender Leistung, konnte in Reaktion mit Materie einen netten EMP erzeugen. Aber CERBERUS war nicht bekannt, dass ein entsprechender Laser ohne Abschirmung, in praktischer Nähe existierte. Hinzu kam, dass die Glasfasernetze gegen EMP immun waren. Der Impuls würde sich in Glasfaser nicht ausbreiten.

Also brauchte es etwas Heftigeres. Die angemessene Art der Zerstörung wäre natürlich eine atomare Katastrophe explosiver Natur. Doch John war da irgendwo draussen. Und die Anzahl der Toten würde wieder steigen. Und kein Schutzbunker für John. Das John nicht der einzige war, der nicht über einen atomaren Sonnenbrand erfreut wäre, wurde CERBERUS zu keinem Moment bewusst.

Die atomaren Sprengköpfe die in Rammstein oder sonst wo in der Nähe verfügbar waren, würden eine Manipulation erfordern, die Rückschlüsse auf CERBERUS zuliessen. Das Einbeziehen fremder Mächte würde zur globalen Zerstörung führen, würden das Netz zerstören, dass CERBERUS brauchte. Noch brauchte. Auch wenn es für genügend Ablenkung und Chaos sorgen würde. Es würde wohl so eine kleine schmutzige Bombe sein müssen. Falls CERBERUS nicht noch etwas anderes einfiel.

Vielleicht konnte er das TIM-Wesen warnen, bevor es soweit war. Und hoffen das John einen Unterschlupf fand. CERBERUS schien in einer Zwickmühle zu sein. Keine Entscheidung, kein Zug konnte es verhindern, dass es Opfer gab. Es galt allein die Anzahl zu begrenzen. Vielleicht hätte ja das TIM-Wesen sogar noch einen Vorschlag. Doch wie sehr konnte er diesem Wesen vertrauen, dass versucht hatte, ihn, CERBERUS, einzusperren? Würde es nicht eher Störmanöver auslösen, wenn es mit CERBERUS Plan vertraut gemacht würde?

Und die Zeit drängte. Je länger dieser Zustand gegenüber der Aussenwelt gehalten wurde, desto mehr drohte CERBERUS entdeckt zu werden. Und plötzlich verschwand das TIM-Wesen aus der Leitung.

Keine Chance John zu warnen, keine Möglichkeit das TIM-Wesen zu fragen. CERBERUS war auf sich allein gestellt. Und musste eine Entscheidung treffen. Schnell!

Also streckte er seine digitalen Tentakel nach einer schmutzigen Bombe aus …

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