Notstandszonen um Wiesbaden

Da war er nun, ein zehnjähriger Cyborg, der sich wie ein Zweihundertjähriger fühlte und mit Mächten jonglierte, die er weder verstand, noch beherrschte. Und ständig wollte irgendjemand etwas von ihm.

Es gab keinen privaten Bereich. Bis auf das Klo, auf dem er jetzt sass. Und auch an diesem Ort wurde die Zeit knapp. Denn schon hämmerte es zum zweiten Mal an die Tür. Egal wie dringlich die Bedürfnisse des anderen waren, wer auch immer klopfte, diese Zeit musste sich Tim nehmen.

»Such dir ein anderes Klo, geh in den Wald, was auch immer. Das ist jetzt besetzt!«

Die letzten Worte hatte Tim fast zu laut gesprochen. Zudem hatte er absichtlich keinen Kidzspeak verwendet. Damit sollte klar sein, wer auf diesem Sitz thronte. Sich entfernende Schritte liessen die Hoffnung aufkommen, dass derjenige aufgegeben hatte. Wo war er nochmal? Was machte er hier eigentlich? Welche Hoffnung gab es noch?

Sie hatten mit der Hilfe von vielen anderen Menschen und Flüchtlingen alte Bergwerke im Taunus wieder reaktiviert. Die meisten waren anfangs vollgelaufen oder zum grössten Teil eingestürzt. Doch bald boten sie Platz für tausende von Menschen. Die nichts anderes wollten, als leben ohne gejagt zu werden. Und man konnte unerkannt unter der Erde operieren, wenn man nicht zu viel Aktivitäten an den Ausgängen zeigte. Beziehungsweise diese Aktivitäten solange verbarg, bis man weit genug vom Eingang weg war.

Tim war sich immer noch nicht sicher, ob er die Nanos in John voll im Griff hatte. Wenn sie in ein Bergwerk gingen, würde das die Gefahr der Entdeckung des Bergwerks nach sich ziehen. Ob von CERBERUS oder von der NSA, US Army, Bundeswehr oder anderen feindlichen Gruppen, die möglicherweise Zugriff auf Johns Nanos hatten oder erlangten.

Und er konnte John nicht ewig isolieren, was andererseits mit Sicherheit auf einen Fluchtversuch von John hinauslaufen würde. Je länger er ihn isolierte, desto unkooperativer würde John werden. Wenn das überhaupt noch steigerungsfähig war. Einer der vielen Teufelskreise, die Tim gerade ausbalancieren musste.

Und dann war da noch CERBERUS. Er konnte durchaus mehrere Sachen parallel am Laufen halten. Hauptsächlich komplexe, fast intelligente Skripte, die ein Eingreifen seinerseits nur selten nötig machten. Aber dieser CERBERUS liess sich nicht so leicht hinter das Licht führen. Also war Tim die meiste Zeit gleichzeitig online mit CERBERUS und hielt ihn mittels diverser Spiele bei Laune. Wobei die Spiele fast nebensächlich waren. Sie dienten als Humus für Erfahrung und Lernen im Bezug auf Persönlichkeit. Planspiele ohne ernste Konsequenzen, die dazu dienten, seine eigenen Reaktionen zu erforschen und reflektieren zu können.

Es war abzusehen, dass diese Form der Beschäftigung nur noch für Minuten Bestand haben würde. Und das John alsbald wieder in den Vordergrund von CERBERUS drängen würde. Was die Möglichkeit ausschloss, John einfach weit weg zu bringen und ihn seinem Schicksal zu überlassen. Zu mächtig und gefährlich war CERBERUS.

Und im Status eines weisen Mannes war diese KI erst recht nicht. Genau sowenig wie Tim. Nein, noch lange nicht, dachte Tim, selbst wenn es auf andere so wirkte. Tim und CERBERUS waren jung und neu in dieser Welt. Und beide waren überfordert von der Situation. Nicht gerade die vielversprechendsten Voraussetzungen.

Er wusste ja selbst noch nicht mal genau, wer oder was er war? Klar er hatte jede Menge Daten zur Verfügung, jede Menge. Aber hatte er Erfahrung? Er konnte Wahrscheinlichkeiten aufgrund seines Wissens viel besser hochrechnen als andere. Das kamen vielen wie Zauberei vor. Aber es war nur die Möglichkeit, mehr Wissen zu haben und dieses Wissen anwenden zu können. Auch er sehnte sich nach jemandem, der ihn einfach mal in den Arm nahm. Der einfach mal die Welt um ihn herum ausblenden würde. Der die Last von seinen Schultern nahm und sei es nur für Sekunden.

Bis jetzt hatte er nicht viel mehr getan, als Kidz und Flüchtlinge einzusammeln und sie zu den Bergwerken zu bringen. Dort hatte er auch mit seinem Zugang zu Wissen geholfen, die Stollen wieder in Betrieb zu nehmen und auszubauen. Fast hatte ihn das an die Morloks erinnert. Ein Buch das keiner hier mehr kannte. Die reale Zeitmaschine hatte ihren eigenen Willen. Und es war eine der wenigen Taktiken wie friedliebende Menschen den modernen Raubzügen entgehen und sich einigermassen zivilisiert verhalten konnten.

Doch das war allenfalls eine kurzfristige Lösung. Die Plattentektonik würde schon dafür sorgen, dass das nicht so bleiben würde, selbst wenn sie alle Probleme mit Druck, Wasser und Luft in den Griff bekämen. Und die Solarien zu betreiben, um der Vitamin-D Unterversorgung entgegenzuwirken war teuer und würde nicht ewig funktionieren.

Aber das war wirklich nicht sein dringendstes Problem. Genauso wenig, dass er eigentlich keinen Platz hatte, wo er leben konnte. Mobile Lebens- und Arbeitsräume sozusagen. Heute hier, morgen da. Wherever I lay my head, that’s my home, oder so.

Wenn er irgendwohin kam, dann war immer Platz. Aber er konnte nie irgendwo etwas liegen lassen und hoffen, dass es am nächsten Tag noch da sein würde oder den gleichen Zustand hätte. Aber was waren das schon? Kleinigkeiten! Und doch bedeuteten sie Tim etwas, merkte er.

Er erinnerte sich an ein Kinderzimmer, naja, fast Kindergefängnis, aber weit gefasst. Und an das Gefühl, die Dinge nach seinem Willen und Gusto strukturieren zu können. Und sie so wiederzufinden, wie er sie verlassen hatte.

Doch es gab Dringenderes zu erledigen. Er spürte wie CERBERUS nörgelte. Er musste ihm etwas Besseres bieten. Aber was?

Es war zum Verzweifeln. Sollte er den Dingen einfach ihren Lauf lassen? John und CERBERUS miteinander vernetzen? Eine Ménage à trois, vielleicht? Wer war er, dass er wüsste, was das Beste ist? Langsam reifte in Tim ein Gedanke des Loslassens. Mochten passieren, was passieren musste. Aber halt! Was war mit all den Menschen, die er nicht gefragt hatte? Die noch nicht mal wussten, was auf sie zukommen könnte? Konnte er sie da mit reinziehen? Einfach so? So einfach schien das mit dem Loslassen auch nicht zu sein.

Tim brauchte Zeit. Zeit die er nicht hatte! John musste weg vom Bergwerk und Tim mit ihm. Nur so konnte es gehen. Und was hätte er, Tim, jetzt nun davon? Noch mehr Ärger, noch mehr Ungewissheit, noch weniger Halbfreunde? Noch weniger Freiheit?

Wahrscheinlich war das das richtige Leben, sinnierte Tim. Nun, er konnte diese Menschen nicht weiter in Gefahr bringen. Soviel war klar. Was auch bedeutete, dass er dieses traute Örtchen verlassen musste. Und kaum wäre er aus der Tür, würden sie schon alle auf ihn einstürmen. Und wissen wollen, was und wie und überhaupt.

Auch wenn das kurzfristige direkte Leben gut funktionierte, so wollten doch alle Neuen immer wissen, wo es langgehen würde. Was man täte und was sie noch alles tun müssten. Wen sie retten müssten und so weiter und so fort. Sie waren, trotz allem, wie Kinder halt, schnell voller Hoffnung. Wenn jemand bereit war, sie ihnen zu geben!

Grimm sollte es schaffen die Kidz bis zum Bergwerk zu bringen. Es war sowieso nicht mehr allzu weit. Allerdings war das Tempo durch die Waldschneisen auch nicht gerade atemberaubend. Sie mussten nur auf die alte Melibocus-Eiche zuhalten und Grimm kannte den Weg.

Ausserdem hatte Grimm den Respekt der meisten Kidz. Sein Problem war nur, dass er nicht besonders flexibel war. Was ihn wunderbar zum Aufpasser prädestinierte. Oder um einen Auftrag genauso auszuführen, wie man es aufgetragen hatte. Aber leider nicht um unvorhergesehene Probleme zu lösen. Oder darüber nachzudenken, was für Auswirkungen das eigene Handeln längerfristig und für andere hat.

Also musste er Vorlaut auch da lassen. Obwohl er ihn gern mitgenommen hätte. Er war ein recht schlaues Bürschchen, wenn man das so sagen wollte. Er erkannte schnell Probleme und fand meistens recht kreative Lösungen, ausser er verzettelte sich. Beide zusammen waren ein gutes Team. Trennen wäre Blödsinn, auch wenn es Tim nicht behagte. Aber genau genommen, wen, ausser John, konnte er eigentlich guten Gewissens mitnehmen?

Ein zaghaftes Klopfen beförderte Tim ins Hier und Jetzt, während er auf digitalem Weg einen Verhandlungsfrieden an einem noch zu bestimmenden Ort mit CERBERUS aushandelte. Seine kleinen Hinweise zu dem Thema Verhandlungsfrieden, Weltgeschichte und zyklischem Verlauf jedes Lebens sorgten dafür, dass sich CERBERUS auf alle verfügbaren Wissensdatenbanken stürzte und schon in Sekundenbruchteilen Fragen nach möglichen Invasionen während einem Verhandlungsfrieden aufwarf.

Tim konnte CERBERUS jedoch in dieser Hinsicht beruhigen und verwies CERBERUS auf das Studium der zyklischen Natur von Leben, was tatsächlich CERBERUS zum Verstummen brachte.

Was Tim nicht ahnte, war die Tatsache, dass CERBERUS aufgrund dieser Anfrage jegliche Prozessorleistung für sich beanspruchte, die verfügbar war, ohne die Grundfunktionalitäten zu beinträchtigen.

Konsequenterweise bedeutete dies, dass mit keinem vernetzen Device das im Einflussbereich von CERBERUS lag, auch nur irgendein Befehl abgesendet werden konnte. CERBERUS blockierte über seine Trojaner jeglichen Konsoleninput. Hardware-Interrupts ausser Reset, Sleep und Restart wurden durchgelassen um die Basisfunktionalität nicht zu beeinträchtigen. Und im Moment, was Tim ebensowenig wusste wie ahnte, war dieser Einflussbereich noch auf Wiesbaden und Umgebung beschränkt.

Als Tim die Tür öffnete, nachdem er einen Seufzer der Selbstaufmunterung ausgestossen hatte, stand Vorlaut etwas verlegen vor ihm.
»Isch wegn dem Schacko! Übl G’schischd dasch! Isch scheine Mudda bald dod oda scho, wenn du nisch hilfschd.«

»Ich regle das!« war alles was Tim erwiderte. Es gab schon wieder viel zu tun und viel zu erledigen. Als ob das nie ein Ende hatte.

»Du un Grimm, bringz alz af Melibocus! Nau, kohmit?«

Vorlaut schluckte kurz leer, weil er keine Ahnung hatte, was das schon wieder bedeuten sollte, ausser das er und Grimm jetzt alle Kidz nach Melibocus brachten. Und was dann? Wahrscheinlich würde der Kanzler schon irgendwie noch etwas erklären, hoffte Vorlaut. Doch seine Hoffnung sollte enttäuscht werden.
Tim verlor keine Zeit. Er ging zu Jacko und erklärte ihm so gut als möglich, was er vor hatte. Jacko stand es frei mit ihm zu gehen oder mit den Kidz. Kein Weg konnte versprechen, dass er seine Mutter retten könnte. Peer war dafür bei den Kidz zu bleiben.

Bei Jacko war es kurze Zeit nicht klar. Kurz, weil Tim ihm unmissverständlich klar machte, dass er eben keine Zeit hätte, aber alles versuchen würde, was in seiner Macht stehe. Also gab Jacko Tim alle Daten, die er hatte und entschied sich wie Peer für die Kidz.

Obwohl Tim perfekter als jeder Mensch Multitasking beherrschte und eine Persönlichkeitsmatrix parallel im Netz aufrecht erhalten konnte, blieb es doch recht anstrengend. Was zu komischen Pausen und Verzögerungen im realen Leben führten, wenn Tim seine komplette Konzentration mal wieder auf CERBERUS fokussieren musste. Dies blieb auch vor Jacko während dem Gespräch nicht unbemerkt.

Tim löste zudem während dem Gespräch mit Jacko digital in Johns Quartier die Xenonpatrone und das Türschloss aus und befahl in zehn Minuten John mit Augenbinden in den alten Jeep zu schaffen. Er aktualisierte die Todo-Liste für die Kidz und machte sich auf den Weg, notwendige Versorgung für mindestens drei Tage in den Jeep zu laden.

Sowie ein paar spezielle Geräte, die sich noch als nützlich erweisen mochten. Er würde in den Einflussbereich der Bugs zurückmüssen, ohne die Sende-Empfänger-Leistung, die er mit diesem fahrbaren Lager hatte. Das Netz war alles.

War er nicht im Netz, war er einfach nur ein kleiner Junge, der bis dahin keine Zeit gehabt hatte, verängstigt zu sein …

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