Projekt CERBERUS, NSA Wiesbaden

Die Erleichterung im Raum über die zeitweilige Unsichtbarkeit von Miss Marple und Captain James hatte schon bald ein Ende und wechselte zu erhöhter Hektik, die sich langsam dem Level der Panik annäherte.

Die Abschaltung von CERBERUS war ohne Komplikationen verlaufen. Seine Hardware war so tot wie ein Haufen Steine. Miss Marple hatte die Meldung gnädig und mit einem beruhigten Ausdruck um die Augen entgegengenommen. Das Netz schien wieder normal erreichbar.

Doch keine zehn Minuten später zeigten sich auf einmal Anomalien in fast allen Programmen. Vereinzelt wurden Systeme neu gestartet, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie seit dem Auftreten der ersten Anomalien langsam und unvermeidlich endgültig auf den Platz von Zuschauern verwiesen wurden.

Kontrollelemente, Programmierschnittstellen alles löste sich vor ihren Augen in Pixel auf. Übrig blieben ein paar Elemente zur Überwachung der diversen Bugs und sonstiger Hard- und Software. Die sich nicht als bedienbar erwiesen.

Das roch nach einer schweren Virusattacke. Da Captain James und Miss Marple nicht verborgen bleiben konnte, wenn die Systeme auf eine alte Sicherung zurückgesetzt würden, versuchten alle so geschäftig wie möglich zu wirken. Sicherstellen das nicht der Verdacht eines Gedankens aufkommen konnte, jemand könnte Zuwenig zu tun haben und wäre geeignet das Chaos an Miss Marple zu melden.

Es half alles nichts, denn auf einmal, wie aus dem Boden gewachsen, stand Miss Marple im Raum, schaute sich finster um und meinte dann zu der Vielzahl an Rücken von Menschen, die sich vor ihr wegduckten:

»Kann mir jemand erklären, was das ganze Chaos auf unseren Devices soll? Weder mein Smarty noch mein Laptop sind benutzbar! Wenn das ein kleiner Scherz von jemandem war, dann wäre ich froh, wenn derjenige das Problem behebt, bevor ich gezwungen bin, es zu bemerken.«

Wenn dem so gewesen wäre, dann hätte es eine Chance gegeben, mit diesem Problem umzugehen. Immerhin war Miss Marple so fair, dem Verursacher eine Chance zu geben, das Problem zu lösen, bevor es zu richtigen Problemen kam.

Heather wollte schon gerade wieder ihre Unsichtsbarkeitnummer abziehen, als ihr der Operator auffiel, der die Sache mit den Bomberbugs erledigen sollte. Small war sein Name, recht passend, wie sie dachte, als er sich ihr in demütiger Haltung näherte. Andererseits bewies dieser Peter Small mehr Mut als diese feigen Büroratten, die sich hier nur wegduckten. Sie schaute ihn scharf an und fragte, mit noch neutraler Stimme:

»Gibt es noch etwas, Peter?«

»Zwei Dinge« erwiderte dieser.

»Zum Ersten war es weder ein Scherz, ein Fehler, ein Versehen oder ein, von irgendeinem in dieser Abteilung, ausgelöster Vorgang, der zu diesem bedauernswerten Chaos geführt hat.«

Miss Marple blieb stumm, aber alles an ihr schrie für jeden sichtbar heraus, dass sie nicht erfreut war. Gar nicht!

»Zum Zweiten konnte ich meine Programmierung nicht abschliessen. Die Zeiteingabe hat noch funktioniert, bevor sich auch bei mir die Kontrollen aufgelöst hatten. Ich befürchte wir haben jetzt da draussen einen Bomberbug, der einen Zeitpunkt aber keine Zielerfassung hat. Hoffen wir, dass der Bug ausfällt.«

»Warum?« war die trockene Antwort in Form einer Frage seitens Miss Marple.

»Weil der Bomberbug sonst einfach zum eingestellten Zeitpunkt mit der Bombardierung beginnt. Nehme ich mal an. Wir hatten keine Zeit einen Kommunikationsausfall für den Fall zu testen, dass die Verbindung während der Parametereingabe versagt. Noch eine Strategie für einen solchen Fall. Der Zielparameter ist ja sowieso optional. Wesentlich ist der Zeitpunkt.«

Man hätte fast meinen können, das Miss Marple etwas bleicher als eben war. Heather war sich noch vollständig der ursprünglichen Route dieses Bomberbugs bewusst. Gerade die Tatsache, dass dieser Bomberbug beim nächsten Überflug die Umgebung der Zentrale sowie die Serverfarm kontrollieren und überfliegen würde, machte ihn zum geeigneten Bug für den Einsatz. Sie musste Alarm geben. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Der Bomberbug musste noch vor Erbenheim abgefangen werden. Sonst wären sie auch noch ihre Server los. Obwohl, im Moment schien das alles sowieso egal.

Das sich der Vorfall nicht unter der Decke halten liess wurde schon dadurch bewiesen, dass Captain James in Begleitung mehrerer hochrangiger Militärs schnurstracks auf sie zustapfte und ihr zuraunte:

»Folgen sie mir einfach …«

Kaum war die Tür geschlossen, meinte General Thompson:

»Wir haben einen lokalen Notstand!«

Schweigen. Die kantigen Gesichtsmuskeln von General Thompson mahlten und zuckten, als würde er auf einem alten, zähen Stück Leder kauen. General Thompson war nicht gerade für Verlegenheit bekannt, aber nun schien er doch so etwas wie verlegen zu sein.

»Wir sind abgeschnitten! Vollkommen abgeschnitten! Wir können beobachten, aber nicht mehr reagieren. Bis die anderen Stationen merken, dass wir nicht erreichbar sind, kann es noch eine Weile dauern. Soweit ich erkennen kann, muss für alle anderen draussen solange alles normal wirken, bis jemand versucht uns zu erreichen. Und auch dann ist die Frage, ob derjenige die richtigen Schlüsse zieht. Wir sind also erstmal auf uns gestellt. Wir müssen das ganze Personal für Einsätze und Patrouillen einsetzen. Im Büro nützt uns jetzt niemand mehr. Was macht eigentlich CERBERUS?«

Jesse James schaute Heather hilfesuchend an, während er vom Blick des Generals durchbohrt wurde. Woraufhin Heather einen Schritt nach vorne machte. Der General schaute sie fragend an.

»Miss Bolding?«

»CERBERUS ist abgeschaltet!«

Mehr gab Heather nicht preis. Sollte er doch selber rausfinden, dass es hier noch mehr Probleme gab. Der General zuckte nur mit der Augenbraue und schaute Heather weiter forschend an.

»Eine Sicherheitsmassnahme.« fügte Heather hinzu und hoffte, dass der General damit zufrieden wäre. Was allerdings schon ein riskantes Spiel war, wie sie sofort feststellte.

»So, so, eine Sicherheitsmassnahme. Gab es da nicht den Punkt, dass die KI nicht abgeschaltet werden darf, wenn man nicht schwere Schäden an CERBERUS riskieren will?«

Alle Freundlichkeit war aus dem Tonfall des Generals entwichen. Wie gern wäre Heather jetzt unsichtbar geworden. Stattdessen spielte sie das Kaninchenspiel und starrte den General an, als ob er eine Schlange wäre.

»Das war doch die Argumentation für die immens hohen Energiekosten, die diese Spielerei, diese semi-intelligente Firewall, die immer noch mehr kostet als sie nützt, so verursacht? Oder liege ich da falsch, Miss Bolding? Captain?«

Jesse James war klar, dass er jetzt einspringen musste. Es war so oder so seine Verantwortung. Damit konnte er Heather nicht im Regen stehen lassen. Doch wie weit sollte er gehen. Sie hatten schliesslich genug Probleme.

»CERBERUS hat nicht mehr reagiert. Wir mussten ihn abschalten! Es laufen nur noch die neuronalen Zellkulturen. Da die eine eigene Stromversorgung haben. Aber wir haben alle Eingänge und Ausgänge dicht gemacht.« meinte Jesse zum General.

Er hatte versucht, seine Stimme so ruhig und bestimmt wie möglich zu halten. So ruhig, dass der General keinen Grund hatte, weitere Fragen zu stellen. Diese Hoffnung stellte sich als eben so falsch heraus, wie so manche andere Hoffnung an diesem Tage.

»Wann?« fragte General Thompson.

»Und bringen sie mir diesen CERBERUS Programmierer hierher. Mitchell, oder? So hiess der Mann doch?«

Wenn Jesse James das Erröten beherrscht hätte, hätte er jetzt geleuchtet wie eine reife rote Tomate. Stattdessen steckte ihm ein Kloss im Hals und ein Zwang baute sich auf, sich zu räuspern und zu husten. Mit Mühe fand Captain James seine Stimme wieder.

»Mitchell wird vermisst. Wir sind diversen Spuren nachgegangen, aber bis jetzt ohne Erfolg. Zudem ist auch noch unsere Verbindung zu den Aussenteams abgebrochen.«

»Die Anomalie begann rund zehn Minuten nachdem wir CERBERUS abgeschaltet haben.« fügte Heather an.

»Nun, Captain, wir werden uns darüber später noch unterhalten. Wenn ich das richtig verstehe, heisst das, dass sie diesen Mitchell nicht rechtzeitig deaktiviert haben?«

Ein minimales Nicken seitens Captain James und Bolding bestätigte dem General die eben getroffene Einschätzung.

»Dürfte ich noch eine unangenehme Ergänzung machen?« mischte sich Heather ein.

Wenn die Augenbraue des Generals noch höher hätte wandern können, sie hätte es getan. Geduldig wartete der General auf die nächste schlechte Nachricht. Wobei ihm kurz der Gedanke kam, dass er irgendwie meinte die alten Despoten verstehen zu können, wenn sie Boten getötet hatten.

»Während der Programmierung eines Bomberbugs ist die Anomalie aufgetreten. Nun hat der Bomberbug eine Zeit, aber keine Zielkoordinaten. Zur programmierten Zeit wird sich der Bug über Erbenheim und unserer Serverfarm befinden. Ich denke, es wäre sinnvoll den Bug vorher zu eliminieren.«

Wenn diese Abteilung Mist baute, dann anscheinend richtig. Wenigstens etwas das sie richtig hinbekamen, dachte General Thompson mit Galgenhumor, während ihm langsam die Optionen ausgingen. Das ganze Equipment war so stark vernetzt und auf diese Vernetzung angewiesen, dass es heute und vor allem hier, weder Flugzeuge ohne Elektronik noch Flugabwehr ohne Elektronik gab. Und ob eine gute alte Flak einen BomberBug erwischen könnte, war noch eine ganz andere Frage. Im Allgemeinen verlor die Flak. Zumindest in Übungsszenarien.

Nicht ein einziges der vorhandenen Flugzeuge war startbar. Das hatten sie sofort gecheckt. Ohne die digitalen Interfaces, die all die analogen Steuerelemente ersetzten, konnte man sich noch nicht mal für den Einstieg in die Maschine einloggen. Die tolle Diebstahlssicherung für Armeeausrüstung, sperrte sie jetzt bei den meisten Geräten aus. Sie würden wahrscheinlich die Deutschen nach einem alten Panzer fragen müssen oder irgendeinem anderen museumsreifen Teil, dass zur Luftabwehr taugen würde.

Andererseits war es vielleicht keine so dumme Idee, den Bomberbug einfach gewähren zu lassen. Damit hätten sie maximale Aufmerksamkeit und jemand würde ganz schnell kommen. Vorausgesetzt dieses Problem hier wäre lokal begrenzt.

»Wir müssen vor unsere Bildschirmkameras die mit anderen Stationen Kontakt haben, Schilder anbringen, die auf unsere Situation hinweisen. Wir müssen unbedingt wissen, ob dieses Problem lokal ist und zwar schnell. Wann ist der Bomberbug hier?«

»In ungefähr zwei Stunden.« antwortete Heather.

»Dann müssen wir spätestens in einer Stunde wissen, ob das Problem lokal ist oder nicht.«

General Thompson schaute sich mit einer Miene um, als ob er in einer billigen Absteige gelandet wäre und raunte seinem Adjutanten zu, er solle bei den Deutschen in Erfahrung bringen, ob sie noch irgendetwas Flugabwehrtaugliches zur Verfügung hätten. Wobei er sich nicht viel Hoffnung hingab.

Das meiste Zeug der Deutschen hatte nur noch Bedrohungsqualität solange niemand versuchte, herauszufinden, ob die Waffen noch funktionierten. Der Mythos der deutschen Ingenieurskunst lebte immer noch, obwohl es keine Rechtfertigung mehr dafür gab.

Wie sollte ein Niedriglohnland mit partieller Infrastruktur noch Qualitätsprodukte anbieten? Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg gleich in ein Agrarland zu verwandeln. Viel mehr war hier jetzt auch nicht mehr zu holen. Ausser die geostrategische Position.

Wenigstens hatte dieser Demokratiezirkus aufgehört. Als der Regimechange in Deutschland endlich stattfand, lang genug hatte das freie Internet verhindert, dass sich der Mob erhob, war das auch das Ende jeder Illusion über Demokratie. Die darauffolgenden Aufstände, die heftiger ausfielen als erwartet, hatten zur Parzellierung Deutschlands und grosser Teile Europas geführt. Zu den bekannten Notstandsgebieten, die derzeit nicht mehr als Fronbauern waren.

Was die Bevölkerung in den Städten im Normalfall nicht wusste. Für jene waren sie Terroristen, Islamisten, was immer man brauchte um die Bevölkerung in die richtige Stimmung zu bringen. Und zu verhindern, dass sich Bürger leichtfertig mit den Fronbauern verbündeten.

Deswegen mussten auch die Bugs die Ernte einsammeln. Direkte Kontakte hätten dieses Spiel zu schnell entlarvt und bei diesen störrischen Deutschen und erst Recht bei den Franzosen erneut zu Aufständen geführt.

Auch wenn derzeit die Aussicht eines Aufstands nicht besonders erfolgreich war, so störten sie doch den Produktionsprozess. Und die Versorgung der Städte war trotz der fehlenden Demokratie noch immer ein springender Punkt. Es musste ein gewisser Wohlstand geboten werden. Ein lethargiefördernder Wohlstand. Dann hatte man freie Hand. Wussten ja schon die alten Römer. Brot und Spiele.

»Ich schlage mein Büro hier auf und sie machen sich jetzt besser an die Arbeit. In einer Stunde will ich wissen, ob das Problem nur lokal ist und wie weit es sich ausdehnt. Sie können gern über einige meiner Rekruten zu diesem Zweck verfügen. Wer nicht damit beschäftigt ist, bereitet die Sicherung der Akten und die möglicherweise notwendige Evakuierung vor. Weiss jemand, was das Ziel dieses BomberBugs war?«

Heather musste diesem General zugestehen, dass er die Eigenschaft hatte, die richtigen Fragen zu stellen. Was um so peinlicher für sie und Jesse wurde, da sie nicht gleich alle Karten auf den Tisch gelegt hatten.

»Lutherstrasse 7, der vermeintliche Aufenthaltsort von John Mitchell. Wir vermuten er wurde entführt. John schien irgendeinen Test an CERBERUS durchgeführt zu haben, bevor er entführt wurde. Wir konnten CERBERUS heute weder erreichen noch zu irgendwelchen Aktionen bewegen. Trotzdem waren Aktivitäten zu verzeichnen. Also habe ich ihn abschalten lassen.«

Der General verzichtete mittlerweile auf die Augenbraue. Dies würde so oder so ein Nachspiel haben. Fast gelassen setzte er sich an Captain James Schreibtisch. Wenn sowieso ein BomberBug geplant war, konnte dieser Mitchell nicht mehr von Nutzen sein, überlegte sich General Thompson und wollte schon zum Smarty greifen. Alte Reflexe, die nicht mehr galten.

»Also ein Kompanie, die das Gebäude säubert. Schicken sie jemanden zu Major Cricket. Soll er sein Glück versuchen. Vielleicht sollte ich noch betonen, dass ich in diesem Moment froh um jede Abteilung bin, die entgegen der Sicherheitsvorschriften, die Türen offengelassen hat. Somit haben wir wenigstens etwas Bewegungsfreiheit. Interessanterweise.«

Die digitale Identifizierung war ebenso wie andere Devices betroffen. Aktionen konnten nicht mehr ausgelöst werden. Was zu der seltsamen Situation führte, dass die Identität bestätigt wurde, aber nichts geschah. Zum Glück war dies nicht in einer Krisenzeit erfolgt, in der jede Abteilung sorgfältig auf geschlossene Türen achtete.

Jesse und Heather zogen sich taktvoll mit militärischem Gruss zurück. Was für ein Bockmist, dachte Heather. Jetzt sassen sie hier fest. Und der BomberBug war unterwegs nach Erbenheim. Schlechtes Karma.

Und ob CERBERUS wirklich ausgeschaltet war, stand in den Sternen. Für John mochte sie fast schon nicht mehr hoffen. Wenn er noch dort war, sobald die Kompanie eintraf, dann ging er mit Sicherheit in die Geschichte der Kollateralschaden ein.

Wie schlimm konnte es eigentlich noch kommen?

Während Heather und Jesse Befehle verteilten, ging General Thompson in Jesses Büro auf und ab. Die Tür stand halboffen. Jesse konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie General Thompson eigenhändig ein kleines Schild beschriftete und vor die Kamera seines Smartys hielt. Er musste schon sehr verzweifelt sein, dachte Heather. Wie weit musste ein General sinken, dass er seine Hoffnungslosigkeit alle sehen liess?

CERBERUS fiel Heather ein. Was, wenn CERBERUS für das Chaos verantwortlich war?

Was hatten sie da freigesetzt … ?

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