Notstandszonen um Wiesbaden

Jacko stapfte stumpfsinnig und hoffnungslos vor sich hin.

»Wo sind wir eigentlich?« warf er einfach so in die Runde. Mit wenig Hoffnung auf eine Antwort.

Doch Grimm schaute in ganz interessiert an und meinte »Ald Buuhndetz, das! Behfiehreizschieben!«

Irgendwie kam Jacko mit dem Slang nicht klar. Doch Grimm verstand sofort.

»Strass, Mann, ald Strass. Nuhma. Tauhnozschtein. Weg. Totbombt! Aba bahl Tiefäh. Jo.«

Jacko sah, wie Grimm’s Augen glitzerten, als ob er Tränen in den Augen hätte. Grimm? Und verstanden hatte er nur die Hälfte. Sie waren wohl auf einer alten Bundesstrasse, wahrscheinlich der B417, in Richtung Taunusstein. Die es nicht mehr gab. Aber was sollte das mit der Tiefe? Jacko konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.

»Isch wohl bessa, den Ord nisch schu erwähn’.« meinte Vorlaut leise zu Jacko.

»Hä? Welchen Ort?« war das einzige was Jacko einfiel.

Woraufhin Vorlaut die Augen verdrehte und Jacko langsam klar wurde, dass es wohl um Taunusstein gehen müsste.

»Denkn, dasch Grimm dorda Verwandde hadde, oda wasch, wasch ihm wischdisch wa. Er sachd nie wasch daschu. Un verschdummd, wenn ma Daunusschdein sachd.« flüsterte Vorlaut Jacko ins Ohr.

»Und was meinte Grimm mit Tiefe?« raunte Jacko ihm zu.

»Asch dasch? Wirschde scho schehn! Wir wehrn dir doch nisch de Raschung vaderbn.« gab Vorlaut augenzwinkernd zurück.

Irgendetwas an der ganze Sache kam Jacko auf einmal komisch vor. Aber was?

Die B417 ging nach Taunusstein, nicht nach Schlangenbad! Hiess es nicht, sie wollten Richtung Schlangenbad? Und wieso Tiefe? Hier ging es schon die ganze Zeit leicht bergauf.

Jacko musterte die Sattelschlepper und ihre riesigen Batteriepacks. Er hatte auf alten Fotos solche Fahrzeuge gesehen. Wie sie anderes grosses schweres Gerät, Bagger und Kräne, transportiert hatten. Jetzt waren die Ladeschienen vollgepackt mit Containern und elektronischem Equipment. Wobei diese Sattelschlepper noch Planierrollen vor sich herschoben, die sie bei Bedarf zur Wegbereitung einsetzen konnten.

Doch im Moment waren die Planierrollen hochgeklappt und lagen an Gelenken fixiert auf dem riesigen Batteriepack der Zugmaschine. Fest arretiert und das Gewicht auf dem stabilen Rahmen verankert, der die Batterien umgab.

Jacko fröstelte bei dem Gedanken, das der Rahmen nachgeben würde. Oder könnte. Die innere Kälte entsprach nicht mehr der äusseren, stellte Jacko fest. Die Kälte hatte nachgelassen. Sie mussten aus dem gefährlichsten Bereich raus sein. Durch die Tarnfolie konnte Jacko nichts sehen. Nur ab und zu, wenn Grimm oder Vorlaut die Gegend über ihr Smarty checkten und Jacko einen Blick auf ihr Smarty erhaschen konnte, sah er einen kleinen Ausschnitt der Ödnis da draussen.

Jacko grübelte vor sich hin, während das Schritttempo sich langsam erhöhte. Deren Smarty war auch völlig anders als alles was Jacko bis jetzt gesehen hatte.
Kein Logo, keine Werbung, weder Google, noch Apple, noch Windows, noch sonst irgendetwas, kein … gar nichts, ausser pure Funktionalität. Jeder hatte seine eigenen Gesten um ein Programm aufzurufen, aber meistens wurde die Sprachfunktion benutzt. Ein Augenscan schien auch möglich, denn manchmal sah Jacko Kidz vorbeilaufen, die weder Gesten, noch Sprache einsetzten und trotzdem wurde zwischen den Programmen gewechselt.

»Hast du auch nen Messenger auf deinem Smarty, Vorlaut?«

»Hä?« stutze Vorlaut.

»Meinschde sowasch wie Bilda, delfoniern oda wasch?«

»Ähem … ja, glaub schon.« meinte Jacko zögernd, überrumpelt von der Art wie Vorlaut reagierte.

»Nee du, brauchn wir nisch.« war alles was Vorlaut darauf erwiderte.

Das Gefühl, das Jacko bei dieser kleinen Äusserung überkam, war völlig überraschend. Auch und gerade für Jacko. Er konnte es nicht fassen.
Wie blieben sie in Kontakt miteinander? Wie tauschten sie sich aus? Langsam dämmerte Jacko, welches Gefühl ihn da gerade heimgesucht hatte. Diese Traurigkeit, die in ihm leise köchelte, konnte nur eins sein. Das Gefühl der absoluten Einsamkeit. Und Heimweh. Die Machtlosigkeit nicht zu vergessen. Abgeschnitten von allem was er kannte, was er liebte und hasste. Unfähig das zu tun, was Jacko dachte, tun zu müssen.

»Hey jetzt echt mal. Wie kommuniziert ihr miteinander? Wie könnt ihr jemanden erreichen, der weit weg ist? Wie könnt ihr wissen, dass es denen gut geht, die ihr liebt, die aber weit weg sind?«

»Asch dasch?« Vorlaut musste kichern.

»Du meinschd Lebnschzeischen! Es gibdn pah Verdeilschdelln, da kannschde Lebnschzeischen hinderlaschn un auch von andarn Lebnschzeischen schehn. Musch reischn. Isch aba escht gefährlisch. Bugsch disch dödn oda Verdeilschdelle plodierd. Schu viel Dadn. Imma gefärlisch. Hey, escht, perschönlisch isch perschönlisch isch bescha. Scho läufd dasch bei unsch!«

»Und wie oft sieht man sich dann?«

Der Satz brannte Jacko so stark auf der Zunge, dass die Frage raus war, bevor er sie überdacht hatte. Denn wollte Jacko wirklich wissen, wie lange man sich nicht mehr sah. Was war wenn die Antwort nie lautete?

»Asch, reschd ofd aba nisch alle. Kommd escht drauf an. Wiescho? Ne Liebä in Wieschbadn gehabd?«

Am liebsten hätte Jacko Vorlaut einfach eine in die Fresse gehauen. Was wühlte dieser Kerl auch noch in seinem Schmerz. Bis Jacko langsam dämmerte, dass es vielleicht doch noch eine Möglichkeit geben könnte. Wenn er Vorlaut auf seine Seite brächte. Wenn Vorlaut ihn verstehen könnte.

»Es geht um meine Mutter. Der Kassierer wird bald kommen. Mein Vater ist von einem Besuch bei der Polizeistation nicht mehr zurückgekommen. Angeblich weiss niemand wo er ist. Und ich hatte gehofft, einen Deal zu machen, um zu verhindern, dass meine Mutter auch noch verschwindet. Ich glaube kaum, dass mein Vater noch lebt. Wenn du es schon so genau wissen willst!«

Den letzten Satz bellte Jacko fast. Dies alles machte ihn so wütend, so traurig, so … verdammt noch mal so … dass ihm die Worte ausgingen.

»Hey, hey, ruhisch Brauna. Wir könn jetsch nisch umkährn, dasch isch scho ma kla. Un wasch ischn Kaschiera?«

»Einer der dich kassiert!« antwortete Jacko mit gedämpfter Wut.

»Einer, der kommt, wenn ihn keiner sieht. Und dann, dann hast du einen Unfall. Und bald erinnert sich keiner mehr an dich. Die Wohnung wird renoviert und neu vermietet. Es ist immer ein Unfall. Und jeder der einen Kassierer gesehen hat, sieht nie mehr irgendwas! Das ist ein Kassierer! Und wenn er noch nicht bei meiner Mutter gewesen ist, dann kann er jederzeit kommen. Jederzeit! Die Rate ist fällig. Überfällig! Und wenn der Mahner ›überfällig‹ sagt, dann kommt der Kassierer.«

Natürlich hatte Jacko übertrieben. So hoffte er. Obwohl, vielleicht auch nicht? Es lag beim Mahner, wie lange er zuschaute, wenn kein Geld reinkam. Vielleicht hatte er ja noch ein paar Tage, bis der Mahner bemerkte, dass Jacko nicht mehr da war?

Oder der Mahner hatte mitbekommen, dass Jacko nicht mehr da war und schickte gleich den Kassierer? Es war zum verrückt werden. Jacko ballte die Fäuste und seine ohnmächtige Verzweiflung verlieh ihm einen grimmigen Ausdruck, der durchaus als Konkurrenz zu Grimm aufgefasst hätte werden können. Hätte jemand diesen Moment beobachtet.

Stattdessen spürte Jacko plötzlich einen Schlag auf die Schulter, der ihn fast ausser Tritt brachte. Schien wohl freundschaftlich gemeint, da Vorlaut sich zeitgleich fast fröhlich dazu äusserte.

»Wird scho wieda. Bald Raschd! Scheh isch Kanschla. Schaumamal!«

Jacko brummte einen undefinierbaren Laut, weder Zustimmung, noch Ablehnung, als Antwort und verfiel in Schweigen. Gib meiner Mutter noch Zeit, lieber Gott oder was immer dort oben sein mag, betete Jacko vor sich hin, als er bemerkte, dass die Richtung wechselte. Und auch die Beschaffenheit des Untergrunds.

Es schien ein Waldpfad zu sein, der fast quer zu den Bergen des Taunus lag. Jacko hatte keinen blassen Schimmer mehr, in welche Richtung sie unterwegs waren. Selbst das Wissen, dass sie sich oberhalb von Nordost befanden, hätte Jacko nichts geholfen, da das ehemalige Nordost zu grossen Teilen in den Notstandszonen lag. Das was davon noch übrig war, beanspruchte nicht mehr den Titel eines Stadtteils.

Zudem kannten die meisten sowieso nur noch einen kleinen Teil ihres Stadtteils in dem sie wohnten. Es war viel zu gefährlich seinen Sektor zu verlassen oder auch nur zu weit vom Wohnort aufgegriffen zu werden. Was Jacko nie wirklich interessiert hatte. Mit den richtigen Freunden kam man überall hin. Das war schon immer so und wird auch wohl immer so bleiben. Nur manchmal beschlich Jacko der Verdacht, dass auch das nur alles »erlaubt« war, von oben. Von irgendjemand, der es nützlich fand. Bis er es nicht mehr nützlich fand.

Zu viele Bugs hatten seine Signatur gelesen. Warum liessen sie ihn gewähren? Waren seine Freunde so mächtig? Diese etwas besser gestellten Habenichtse? Doch nein, diese Gedanken führten zu nichts und änderten nichts. Und so verschwanden diese Gedanken fast schneller als sie gekommen waren. Wer will schon als Verschwörungstheoretiker enden?

Während sich die Reifen der Sattelschlepper in den morastigen Waldboden mit schmatzenden Geräuschen gruben, musste Jacko immer wieder über Pfützen oder Löcher springen, die den Wegesrand zierten, als hätte das Schlachtfeld von Verdun eine Reinkarnation versucht. Wobei Jacko weder von Verdun je gehörte hatte, noch hätte sagen können wo es lag oder welche Geschichte es auch immer gehabt hatte. Bildung war in der Schicht, in der Jacko sich bewegte, kein Thema mehr. Genug Bildung für einen einfachen Beruf, ja. Aber Allgemeinbildung? Wer braucht das schon?

Noch im Schritt merkte Jacko, dass sie anhalten würden. Obwohl die Kidz ihre Geschwindigkeit beibehielten. Es war nur so, dass sie sich auf einmal in alle mögliche Richtungen verstreuten und scheinbar vielmals geübte Handgriffe ausführten um das Lager aufzuschlagen. Während es rund um Jacko nur so wuselte, wurde er sich wieder bewusst, dass Peer noch an seiner Seite stand. Schweigend und auch irgendwie fasziniert.

Für Peer war das vielleicht DIE Chance, um aus seinem Leben auszubrechen, wagte ein Gedanke in Jacko anzumerken. Um etwas zu machen, dass vielleicht mehr Chancen bot, als die Stadt. Und auch wesentlich mehr Gefahren. Wie sich ein anderer Gedanke anschloss.

»Was ist los, Peer? Sagst ja garnix mehr.«

»Wie machen die das?« war alles was Peer darauf erwiderte.

»Was? Wie machen die was? Was genau?«

»Mensch, schau die dir doch mal an. Die meisten sind jünger als wir. Und alle wissen scheinbar immer, was sie wann zu tun haben? Wie machen die das?«
Peer schüttelte den Kopf, wie als ob er versuchen würde, aus einem Traum oder Rausch zu erwachen. Und ja, Peer hatte da wirklich einen komischen Punkt erwischt. Wenn die keine Messenger und sonstige Kommunikationsprogramme hatten, wie zum Teufel verständigten die sich.

Doch viel weiter kam Jacko mit seinen Gedanken nicht. Den auf einmal stand Vorlaut vor ihm und Peer. Und drückte ihm eins von diesen schrägen Smartys in die Hand.

»Maschd eusch ma nüdzlisch. Isch nur dudulischd. Wasch irjendwie grün isch kannschde ignoriern. Wasch irjendwie rod isch, kannschde dir auschschuchn un helfn. Kommschd scho kla mid. Hia nimm!«

Und damit liess er sie stehen. Was nicht bedeutete, dass Grimm sie stehen liess.

»Machma!« war alles was Grimm dazu sagte und sie verheissungsvoll ansah.

Also berührte Jacko zaghaft das Display um eine einfache Liste zu sehen auf der alles rot gekennzeichnet war. Im Moment schien in der Küche die meiste Dringlichkeit zu herrschen. Da sie ganz oben auf der Liste stand und in wunderschönem aggressivem Rot leuchtete. Mit dem Text »Küche«. Mehr nicht.
»Wo?« war alles was Jacko dazu einfiel, wobei er Grimm erwartungsvoll anschaute. Doch dieser wies nur mit einem stoischen Nicken auf das Smarty, das Jacko in den Händen hielt.

Fast verwegen tippte Jacko auf den simplen obersten Eintrag mit Küche, der immer noch in strahlendem Rot erschien, obwohl Jacko fast den Eindruck hatte, dass ein Verblassen eingesetzt hatte.

Kaum hatte er darauf getippt war sein Smarty ein simples Navi, das ihn nur mit Richtungsanzeige, ohne weitere Informationen, zielsicher in die Küche steuerte. Beziehungsweise den Container, der die Küche enthielt. Peer und Grimm stapften tapfer hinter ihm her. Sie waren noch nicht ganz eingetreten, als ihnen schon Sachen gereicht wurden.

Jacko erhielt einen Topf voller wimmelnder Maden, die er an das andere Ende des Containers bringen sollte. Peer erhielt dagegen den Auftrag, den konstanten Fluss der Algen zum Häcksler und zurück aufrecht zu erhalten. Grimm hatte es sich derweil auf einem Stuhl in der Nähe der Tür bequem gemacht. Wobei er sich nicht nur hinsetzte, sondern sich einen kleinen Tisch holte und anfing eingelegte Algen in schmale Streifen zu schneiden, in Honig zu tauchen, mit Wurmmehl und Salz zu panieren und diese zu kunstvollen Arrangements auf Blechen anzuordnen.

Als Peer bei einem seiner Botengänge wahrnahm, was dieser grimmige Grimm auch noch so drauf hatte, war er so perplex, das er beinahe die Kette unterbrochen hätte. Eine rüde Bemerkung riss Peer weiter, während Grimm fröhlich vor sich hin lächelte und weitere Arrangements dem Blech hinzufügte.

Jacko musste in der Zwischenzeit Maden sortieren. Die Dicken waren für die Püriermaschine vorgesehen. Die Mittleren für den Grill und die Dürren kamen in die Mehlmaschine. Langsam begann Jacko zu verstehen, wie das alles hier funktionierte. Auch wenn ihm immer noch nicht klar war, wer hier die Befehle gab? Wer hier die Liste erstellte?

Jacko warf einen ersten Blick auf Grimms Dekorationskünste, als er einen neuen Topf Maden holen sollte. Genau in dem Moment wurde ein Blech von Grimms Tisch geholt und an ihm vorbeigetragen, während Grimm mit einem vergnügten Lächeln anfing, das neue Blech zu füllen. Und Jacko der Mund offen stehen blieb.

Die Schleifen, so trivial sie auch waren, hatten eine Eleganz, die nicht zu leugnen war.

Aber sie waren nur Beiwerk zu den verschiedenen Figuren, die das Blech bevölkerten. Da war die Pirouetten schwingende Tänzerin in der Mitte. Vor ihr ein graziler Schwan, dem ein Jäger in seinem Stand folgte, der auf den Schwan zielte. Auf den Stand stürmte ein Nashorn zu, dass von einem wütenden Elefanten verfolgt wurde. Die Spirale ging immer weiter. Der Elefant wurde verfolgt vom Schatten einer Maus, die wiederum von einer Katze verfolgt wurde, der ein Hund hinterherjagte. Diesem Hund folgte ein Mann dicht auf den Fersen, seinen Stock schwingend, während ein verängstigte Frau verzweifelt versuchte den Mann zu erreichen. Der Schlusspunkt wurde von einer Made gesetzt, die sich an einer der Algenschleifen gütlich tat und einen völlig entspannten Eindruck machte. Umrundet von weiteren Algenschleifen.

Nach dem dritten Topf Maden setzte sich langsam die Hektik und immer mehr Kidz verliessen die Küche. Jacko wollte gerade sein neues Smarty benutzen um herauszufinden, was jetzt angesagt wäre, als Vorlaut in die Küche platzte.

»Isch vergisch disch nisch. Bin dann ma beim Kanschla!«

Sprach’s … und schwupp, weg war er.

Gab es vielleicht doch noch Hoffnung? Jacko wagte fast nicht, sich den Luxus dieses Gedankens zu gestatten.

Aber was, wenn doch … ?

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