Irgendwo in Wiesbaden

Das wesentliche Problem für Susanne und Herbert bestand darin, die Wohnung zu verlassen und unverhaftet bis zum Krankenhaus und zurück zu kommen. Es gab einen Kellergang der sowohl zu einer Tiefgarage, wie auch zu einem Bunker führte. Von Herberts Verwandtschaft waren nicht alle nur angepasst und reich und faul. Einige hatten auch vorgesorgt. Für die Fälle, von denen sich niemand wünschte dass sie je eintrafen.

Ob alles immer in den richtigen Händen gelegen hatte, wagte Herbert zu bezweifeln. Nichtsdestotrotz war es klar, dass dieser Gang schon länger überwacht wurde. Wie so eigentlich alles. Ansonsten hätte man ja keinen Kontakt zum Netz gehabt. Und wer wollte schon vom Netz getrennt sein?

Es entging Herbert, dass dieser Gedanke eine gewisse Ironie in sich trug. Wenn man Herberts hilflose Versuche, die Gesellschaft zu verändern und kritisch zu betrachten, in die Rechnung miteinbezog.

Über die Kellertür hinaus hatte Herbert sich noch keine Gedanken gemacht. Wie auch? Keiner der Beteiligten war bis jetzt in der Lage gewesen, auch nur ansatzweise zu realisieren, in welche Situation sie da eigentlich geraten waren. Es war einfach so passiert!

Ja, sie hatte eine Abschirmung, aber was heisst das schon? In einer fast total überwachten Welt? Überall gab es die NetUs, wie sie hiessen, diese kleinen Schwebeteilchen, die dir überall Netz garantierten. Wie Glühwürmchen, fast. Wenn man sie sah. Was nur dann passierte, wenn sie ihre Energiezellen neu laden mussten. Oder neue Prioritätsorder bekamen.

Über Kriminellen leuchteten sie rot und blinkten. Über das Netz bekam man dann Prioritätswarnungen, wenn man im Bereich eines Kriminellen war. Und wurde angewiesen sich zu entfernen oder zu nähern. Je nach Sicherheitsstufe.

Langsam, mit Unbehagen, dass fast schon in Magenknurren ausartete, drückte Herbert die Klinke, nach dem er das Schloss so leise wie möglich geöffnet hatte. Als ob es die NetUs interessierte, wenn man sich leise verhielt. Ein leicht modriger Geruch wehte durch den Spalt der nicht oft benutzen Tür.

Kein roter Schein deutete an, dass schon Heerscharen von NetUs hinter der Tür auf sie warteten. Noch schien die Tür nicht weit genug geöffnet, als dass sich die automatischen Lichter aktiviert hätten.

Herbert atmete tief ein. Susanne war immer noch damit beschäftigt die Eindrücke der letzten Minuten, Sekunden, Stunden, sie wusste nicht mal mehr, wieviel Zeit vergangen war, zu verarbeiten. Mechanisch folgte sie Herbert, nachdem sie noch vor Minuten ein Bündel von Energie und Tatgeist gewesen war.

Jetzt, hier, in scheinbarer Sicherheit und Abgeschiedenheit von allem, was gerade eben passiert war, strömte alles nochmal auf sie ein. Doch dann war noch dieser Funke. Willy. Verdammt, Willy stirbt! Und während Herbert noch zögerte, strömte neue Kraft durch Susanne, während sie ausatmend zischte:

»Jetzt geh schon! Denk an Willy!«

»Hmmpfh …«

Mehr brachte Herbert nicht heraus. Er öffnete die Tür und … nichts.

Weiterhin nichts, also. Aber halt? Kein Licht? Statt der alten passiven Sensoren waren heute die NetUs Einheiten quasi Sensoren für alles. Licht, Wasser, Zugang zu Gebäuden. Solange man sich im Netz bewegte, erlaubt bewegte, hatte man Zugang. Entsprechend seiner jeweiligen Sicherheitsstufe. Das war der Preis. Dein Leben, jede Sekunde überwacht, dafür Komfort. Mehr oder weniger. Je nach Sicherheitsstufe. Aber immer noch besser als draussen. In den Zonen.

Herbert zückte sein Smarty und stellte erleichtert fest, dass er noch Empfang hatte. Sein Navi war noch funktionsfähig. Zumal es noch eine alte, verbotene Version war. Die die Fähigkeit hatte, auf GPS-Daten zuzugreifen.

Allerdings war schon jetzt das GPS-Signal relativ schwach. Wohin also? Auto, Krankenhaus. Wenn sie nicht vorher erschossen oder im günstigsten Fall erstmal verhaftet würden. Sein Blick auf das Navi, um sich die ungefähre Route einzuprägen, wurde unterbrochen von einem Blick von Susanne, der magische Kraft zu haben schien.

Herbert blickte völlig verwirrt auf und sagte »Ja?« bevor ihm das bewusst wurde.

»Wohin?« war die logische, wie auch erwartbare Frage.

Dennoch überraschte sie Herbert. Da Herbert erst einmal selbst überrascht war. Und zwar darüber das es Dunkel war!

»Ich denke erstmal links, dann die zweite Abzweigung rechts und dann muss ich nochmal auf das Navi schauen. Denke ich.«

»Wieso ist es so dunkel hier?«

»Was weiss ich? Die NetUs funktionieren nicht, scheint’s. Sonst gäbe es Licht …«

Eine scheinbar endlose Sekunde verging, in der das Stirnrunzeln von Susanne Herbert mental streifte.

»Bist du den Weg schon mal ohne NetUs gegangen?«

Wie eine scheinbar erleichternde Sommerböe, die ein gewaltiges Gewitter nach sich zog, so überrollte die brutale Erkenntnis seines Nichtwissens Herbert in diesem Moment. War er sich sicher, dass dort unten überall GPS funktionierte?

Ja, sicher, ein geiles Feature für die Paranoiden. Aber hatte er es je benutzt? Sein Puls raste und einen Moment lang legte sich ein nebelhafter Schleier über seinen Geist. Zu kurz, um diesen Augenblick zu geniessen, den Susanne hatte sich schon sein Smarty gekrallt und meinte nur

»Lass mal sehen …«

Sekunden später drückte sie ihm sein Smarty wieder in die Hand und meinte »Alles klar« während sie ihr Smarty als Lampe benutzte und vorauseilte. Herbert eilte ihr, natürlich, hinterher. Inzwischen hatten sie schon die zweite Abzweigung rechts genommen, als Susanne plötzlich stehen blieb.

»War das hier jetzt links oder rechts? Was sagt dein Smarty?«

Da Herbert dem Licht von Susanne gefolgt war, hatte er sein Smarty einfach in die Hosentasche gesteckt. Als er GPS aktivieren wollte, blinkte ihn ein »Not connected!« an. Sein verdammtes Smarty war tot. Die anderen Funktionen konnte er sowieso nicht benutzen. Dazu hätte er sich im Netz authentifizieren müssen.

Was schwer war, ohne Netz.

Wenn Susanne in dem ohnehin schalen Licht noch bleicher hätte werden können, sie wäre es geworden. Aber auch so reichte es aus um zu erkennen, dass sie keine Ahnung mehr hatte wie es weitergehen sollte.

»Du sagtest doch, das du nach der zweiten rechts nochmal auf dein Navi … ach nee, bin ich so blöd? Ich hab dich doch noch gefragt, ob du schon mal im … echt, Mist, ich hab nur den Anfang angeschaut. Bis zur zweiten rechts. Der Rest schien so klar. Müssen wir jetzt zurück?«

Es war mehr ein Stammeln was Susanne von sich gab. Sich voll bewusst, dass sie am Anfang des Ganges sich einfach nur den Weg hätte genau einprägen müssen. Sie beide eigentlich. Und jeder hatte auf seine Weise versagt, obwohl doch alles klar war und zumindest angesprochen wurde.

Wäre Herberts Hirn mechanisch gewesen, hätte man die Rädchen rattern und arbeiten gehört. Bei Licht war dieser Weg so einfach. Ergab sich fast von selbst. Doch jetzt? Alles schien so … anders.

Zwischen geheimnisvoll und beängstigend. Herbert suchte nach Bildern. Von eben, vom Navi, wie auch von früher. Als er bei Licht diesen Gang entlang gegangen war. Ein vages Zucken nach links. Doch sollte er es wagen? Es gab hier einige Gänge, die nur zur Vorratskellern oder Stauraum führten. Und die Zeit drängte. Und nach der Tiefgarage?

Wenn sie wieder Netz und NetUs hatten? Stäubchen, wie sie von manchen fast liebevoll genannt wurden. Leuchteten sie dann wie ein Weihnachtsbaum in der Steppe? Verdammt, das alles war so fern gewesen!

Es hat immer nur andere getroffen. Gesichter. Geschichten. Kriminelle oder gar Terroristen. Und in den meisten Fällen schien es gerechtfertigt oder ein Segen. Auch wenn manchmal Zweifel aufkamen. Sekunden angestrengten Überlegens, die einen Jahre kosten können.

Erst letzthin war Herbert einer Spur nachgegangen, die behauptete das die NetUs nichts anderes wären, als die SpyBugs, die vom Militär und den Geheimdiensten eingesetzt würden. Nicht das es noch eine grosse Rolle spielte, heutzutage. Aber immerhin wurde noch öffentlich behauptet, das die NetUs und die SpyBugs nicht ein und dasselbe wären. Und so könnte man sie zumindest einer offensichtlichen Lüge bezichtigen. Wenn man je so weit käme.

Stäubchen, ha? Man konnte es vielleicht dokumentieren für die Nachwelt … Herberts Gedanken drehten sich im Kreis und nicht um den Weg. Nach links? Ja … oder … nein … Zweifel sind der kleine Tod, wer hatte das nochmal gesagt?

Hatte das überhaupt jemals jemand gesagt?

»Nach links.« hörte Herbert sich sagen.

Also trotteten sie weiter. Nach links, na prima! Und wenn es rechts war?

Der Gang sah überall gleich aus. Die Tafeln, die den Weg beschrieben, waren erblindet. Überall Tafeln, aber alle schwarz. Eher anthrazit. Aber was spielte das schon für eine Rolle?

Netz. Wir leben vom Netz! Ohne Netz sind wir nichts, nicht mal Höhlenmenschen! Denn die haben sich noch mit Dunkelheit ausgekannt. Und wieder eine Abzweigung. Drei Wege. Keiner kam Herbert bekannt vor. Keiner!

Ist da nicht so ein Zucken, das körperlich nirgendwo verortbar ist?

Wie sollte er auch anders dazu sagen, es war kein Geistesblitz, es war keine Erkenntnis, es war nur ein kurzes, nicht ortbares Gefühl. Das aufblitzte. Etwas offenbarte, ohne es tatsächlich zu offenbaren. Wie ein körperliches Zucken. Bei dem nur ein vages Gefühl übrig blieb. Irgendetwas in der Art von »Was war das denn?«

Gedankenblitze überschwemmten Herbert. Seine Eltern. Eine Party. Und er durfte mit.

Und dann?

Er war müde, wahrscheinlich hatte er gequengelt. Seine Eltern stritten sich. Hier. Daran erinnert er sich genau. Aber welchen Weg gingen sie dann?
Das war weiterhin im Nebel. Seine Mutter nimmt ihn auf. Er schmiegt sein Gesicht an ihre Schulter. Und dann waren sie schon beim Auto.

Und dann waren sie schon beim Auto?

Verdammt. egal welcher Weg, es konnte nicht weit sein! Wenn das nicht hoffen liess. Hoffen? Die Uhr tickte unerbittlich. Wie Herbert gerade wieder schlagartig bewusst wurde.

»Ich weiss es nicht. Ich weiss nicht mehr welchen Gang. Aber ich weiss, dass es nicht weit ist. Einer der Gänge muss zur Tiefgarage führen. Und wenn ich Glück habe, steht ein Auto von meinem Onkel auf dem Parkplatz. Wenn nicht müssen wir uns öffentlich durchschlagen.«

»Lass uns den ganz links probieren, ich meine mich zu erinnern …« meinte Susanne.

Also nehmen sie den Gang ganz links. Kein Ende. Eine leichtgeschwungene ewige Kurve. Keine Tür. Kein gar nichts. Nach zwei Minuten Weg bleibt Herbert stehen.

»Nein, so lange war es nicht. Das ist der falsche Weg. Glaub mir!«

»Und welcher dann?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe es nicht gesehen? Aber ich weiss wie lange es ungefähr gedauert hat, bis wir am Wagen waren. Und wenn du meinst, es war einer der äusseren Gänge und nicht der mittlere, dann lass uns den rechten probieren. Was meinst du?«

Susanne ist sich keineswegs sicher, ob das ein guter Plan ist. Aber egal. Besser als weiterzudiskutieren und damit Zeit zu verschwenden.

»Ähem, ja, dann den mittleren zuletzt.«

»Weisst du was ich gerade denke?« fängt Herbert zu plappern an.

»Nö, erzähl.«

»Wenn man irgendetwas sucht und nicht gleich findet …«

»Ja?« erwiderte Susanne ungeduldig, weil Herbert scheinbar wieder mal die Zeit vergessen hatte.

»Dann ist es doch immer irgendwie genau dort nicht, wo man sucht. Und überall wo man logisch denkt, dass es jetzt da sein müsste. Da ist es eben nicht. Bis es zuletzt an dem unmöglichsten Ort auftaucht. Der Ort an dem es gewiss nicht sein konnte. Kennst du das?«

»Hmm, ja, glaub schon …«

»Wenn ich davon ausgehe, dann ist wahrscheinlich der mittlere Gang der Richtige. Was meinst du?«

»Herbert! Ich meine, wir haben keine Zeit für philosophische Betrachtungen. Wir haben nicht mal Zeit für dieses Gelaber und Gesuche. Sag mir einfach, welcher Weg der richtige ist. Ich weiss es eben echt nicht mehr. Ich dachte es wäre der Linke. Und wenn deine Zeitvorstellung falsch ist?«

Herbert erstarrte innerlich, dachte fieberhaft nach. Und wenn es wie immer war? Das es genau da war, wo man zuerst gesucht hatte. Aber man hatte es nur nicht gesehen?

»Ok. Weiter. Dein Weg ist der richtige Weg. Hoffe ich … obwohl wir sozusagen vom rechten Weg abgekommen …«

»Herbert! Lass die Scherze!«

Und tatsächlich. Endlich kam eine Tür. Direkt geradeaus.

Sie rannten. Ein kurzes Bangen an der Tür. Dann war sie aufgedrückt. Immer noch Dunkelheit. Doch Herbert wusste wieder wo er war.
Zielsicher steuerte er den Familienparkplatz an. Auf dem tatsächlich ein Auto seines Onkels stand. Mit seiner ID war es ein Leichtes den Wagen zu aktivieren. Wenigsten das funktionierte noch.

Die Sicherheit des Wagens erfasste ihn und lullte ihn ein, kaum das sie eingestiegen waren. Herbert will sich entspannen. Schlafen. Ein Winterschlaf wäre gerade recht. Und dann ein vielversprechender Frühling. Ein nervender Ellenbogen in der Seite brachte ihn wieder ins Hier und Jetzt.

»Na, dann wollen wir mal unser Glück versuchen …«

Der Motor startete leise, das Licht schaltete sich an und das Navi fragte nach dem Fahrziel. Herbert erklärte dem Navi die Krankenhausadresse und aktivierte den automatischen Modus.

Auf keinen Fall auffallen! Und mit Handsteuerung fiel fast jeder auf.

Mittlerweile hatte auch auf Susanne die vertraute Situation in einem Auto ihre Wirkung entfaltet. Als das Navi verkündete, dass sie in ungefähr elf Minuten das Krankenhaus erreichen würden, entfuhr Susanne noch ein »Ich entspann mich mal kurz.« während Herbert noch leise vor sich hin murmelte. Dann wird auch er durch die Anspannung und den Stress der letzten Momente übermannt. Sein Körper schaltet einfach um.

Ein traumloser, fast tiefer, fast heilsamer, Schlaf erfasste beide …

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