Projekt CERBERUS, NSA Wiesbaden

Da sassen sie nun.

Die Monitore blinkten wie bei einem Weihnachtsspektakel, nur um auf fast allen Fenstern anzuzeigen, dass es keine Verbindung mehr gab. Den Ton, besser diese Kakophonie der Töne, hatte man schon längst abgestellt.

Die Satellitenbilder müssten in einer halben Stunde eintreffen. Was wenig half ohne Netz. Es war aber auch zum Verrücktwerden. Die Stimmung war mehr als aufgekratzt. Da half es auch nichts, das Captain James grimmig, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, durch die Flure stapfte. Und jedem, der es wagte, ihn anzusehen, einen noch grimmigeren Blick entgegenwarf.

Kurz vor Heather blieb er stehen, stellte Blickkontakt her und meinte:

»So wie ich das sehe, haben diese scheinbaren Amateure in dieser Wohnung gerade eben Wiesbadens Abwehr lahmgelegt. Stimmen sie mir da zu?«

Jesse hätte  nicht sagen können, was Heather dachte, während sie ihn fixierte. Ganz Pokerface blieb der Inhalt ihrer Gedanken dem Beobachter verborgen. Und doch sprach die Pause bis zur Antwort Bände, wenn man Heather kannte.

Wenn ich ja sage, dachte sie, heisst das, dass sie sofort diese Wohnung in Schutt und Asche legen. Und wenn ich nein sage, weiss ich mehr als mein Captain. Gefiel ihm sicher noch viel weniger. Und sie wusste ja nicht einmal mehr als er. Also formte ihr Mund langsam die Worte eines Bedenkenträgers, der zum Abwarten drängt.

»Ich denke wir haben noch nicht genug Daten um das wirklich annehmen zu können. Und genau das ist immer unser Problem. Wir haben nie genug Daten. Was sich oft als fatal erweist. Das wissen sie, Sir!«

Es war keine Frage und Jesse James wusste sehr gut, wovon Heather redete.

Da waren Hochzeitsgesellschaften, die zufällig kollateral starben. Da waren auch Krankenhäuser, die aus ›Versehen‹ in Schutt und Asche gelegt wurden, wobei noch nicht mal das eigentliche Ziel getroffen wurde. Da waren Schulen, die aufgrund einer Smarty Identifikation in die Luft gesprengt wurden. Um dann festzustellen, dass das eigentlich Ziel das Smarty gewechselt hatte. Man deklarierte zivile Opfer in dem Fall einfach um. Kombattanten, Terroristen, was auch immer.

Und im Allgemeinen war das alles nur eine zu vernachlässigende Kleinigkeit. Nichts weswegen sie sich graue Haare wachsen lassen würde. Aber diesmal ging es um ihre Jungs. Ihre Jungs waren im Fokus der Abwehr. Da fiel es schwer, unparteiisch zu bleiben.

Also, wie in aller Welt konnte es nur Zufall sein, dass diese Terroristen einfach so die Hausüberwachung abschalteten? Und fast zeitgleich auch noch die komplette Überwachung in Wiesbaden ausfiel? Wenn sie Jesse überzeugen wollte, sollte sie darauf eine Antwort finden.

Es war einfach Zuviel des Guten. Was war unwahrscheinlicher? Das jemand, der die Überwachung im Kleinen abschalten kann, auch die Überwachung im Grossen abschalten kann? Oder das zufällig jemand zu zufällig diesem Zeitpunkt parallel entschlossen hat, wenn schon, denn schon, dann legen wir gleich alles lahm. Und wer wäre dieser ominöse Mister X?

Sein Stirnrunzeln traf Heather zutiefst. Sie ahnte schon worauf es hinauslaufen würde.

Jackson, Peterson, Mitchell - abgeschrieben!

Die ganze Zeit schon spielte sie auf noch mehr Zeit und was kam heraus? Noch weniger Zeit. Das soviel Ausfälle zu verzeichnen waren, konnte helfen, Zeit zu gewinnen. Betraf der Ausfall nur die Geräte? Oder war eine Abschirmung im Spiel? Gab es noch funktionierende Bugs? Waren sie bereits infiltriert? Von wem oder was auch immer. Was dann?

Dann wäre dieser ganze gesicherte Bezirk ein legitimes Ziel. Heather konnte nicht umhin, die Eleganz eines solchen Angriffs zu bewundern. Seit damals, der gesicherte Bezirk Hamburg sich vollständig selbstzerstört hatte, war dies die grösste Angst jedes gesicherten Bezirks. Sicher, die Authentifizierungsprotokolle waren mittlerweile besser und so ein Coup wie Hamburg war den Rebellen nie wieder gelungen. Nur noch ein paar kleinere, technisch rückständige Bezirke hatten Pech. Und in den letzten zwei Jahren hatte es keine erfolgreiche Abschirmung mehr gegeben. Aber wer wusste schon, zu was sie heutzutage in der Lage waren?

Sie wusste einfach zu wenig.

»Können wir versuchen, einen von den funktionierenden Bugs auf Aussenpatrouille zu dem Haus zu bringen? Sofern wir ein funktionierendes Terminal finden. Ich meine, dann wüssten wir, dass es keine Abschirmung rund um Wiesbaden wäre. Was uns in eine missliche Lage brächte, wenn es anders wäre. Nicht wahr, Captain?«

Diese verdammte Heather, schoss es Jesse James durch den Kopf. Aber verdammt noch mal, sie hatte Recht. Wenn ihr Stützpunkt, ihr Bezirk elektronisch gegen die eigenen Leute abgeschirmt wäre, dann wären sie alle, nicht nur das Haus, das Ziel. Es galt, verdammt nochmal, den eigenen Leuten das Gegenteil zu beweisen.

Und bei aller Ehre, Jesse James hatte nicht vor, einfach ausradiert zu werden, nur weil einer mit technischen Spielchen ihnen das Leben schwer machte. Er war kein Kapitän eines Schiffes. Und ausserdem sanken sie noch lange nicht.

»Da würde ich doch gleich einen BomberBug bevorzugen, falls wir die Wahl haben. Dann können wir gleich noch testen, ob in dem Haus die Ursache für den Blackout zu suchen ist.«

Heather wand sich innerlich um nicht zu fluchen. So hatte sie das nicht gedacht. Aber trotzdem. Zeit. Sie hatte Zeit. Und die Umprogrammierung musste über Satelliten erfolgen, was ihr mindestens eine halbe bis zu einer Stunde verschaffte. Dann wäre noch die Frage …

»Ich kümmere mich sofort darum.« meinte Heather, bevor ein anderer Gedanke sie daran hindern konnte. Captain James nickte, hob leicht seine Brille, strich über seinen Oberlippenbart und murmelte:

»Versauen sie es nicht noch mehr …«

Die Frage! Die wesentliche Frage wäre natürlich, wie weit der BomberBug von Wiesbaden weg ist, dachte Heather ihren anfänglichen Gedanken zu Ende. Und jetzt hatte sie es in der Hand, den Bug auszusuchen, der die längste Reisezeit hier her hätte. Bei einer nachträglichen Untersuchung würde dieses Detail auffallen wie ein Leuchtturm. Aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Es ging um ihre Jungs. Sie musste sie da rausholen.

Das hiess zuerst den Bug bestimmen und jemandem anderen die Arbeit zu geben. Jemanden der nie fragt. Der nie etwas sagt. Der einfach nur macht. Davon gab es hier jede Menge. Kein Problem. Und dann?

Dann musste sie dort hin. So schnell wie möglich. An Ort und Stelle. Was anderes half hier doch schon lange nicht mehr. Diese ganzen blöden Überwachungsspielchen. Anschauen wie etwas passiert und zu spät da sein. Und dann gepflegt Rache üben. Was für eine Ressourcenverschwendung?

Es gab doch Zeiten, musste Heather sich eingestehen, in denen sie lästerliche Gedanken pflegte. Zu weit über den Tellerrand blickte. Man durfte nur nicht vergessen, dass dies alles dem Wohl der Allgemeinheit diente. Doch manchmal schien dieses Mantra brüchig zu werden.

Und dann kam Heather noch ein völlig absurder Gedanke. Was ist eigentlich mit CERBERUS? Könnte dieses Viech, das John erschaffen hatte, dafür verantwortlich sein? Und schon war sie wieder auf dem Weg zu Captain James.

»Mm mmh« räusperte sie sich leise, nach dem sie sich an ihn herangepirscht hatte. Dummerweise sah sie nur die Lehne von Jesses Drehstuhl. Sein Blick über den Brillenrand, während Captain James sich umdrehte und zum Stillstand kam, traf sie fast unvorbereitet.

»Es gäbe da noch einen Punkt, den wir prüfen sollten …«

Heather legte einen kleinen Spannungsbogen ein und wartete das zustimmende Nicken von Captain James ab, um dann fortzufahren.

»CERBERUS … ich meine, wir haben seit geraumer Zeit keine Kontrolle mehr über diese Maschine. John ist nicht greifbar und keiner weiss was diese Maschine macht. Der Energieverbrauch deutet nicht darauf hin, dass die Maschine schläft …«

Captain James zwirbelte sich den Oberlippenbart während er vor sich hingrummelte. Mist, auf welches Glatteis führte ihn Heather diesmal wieder. Wenn sie die Kiste komplett abschalten würden, wäre alles den Bach runter, wofür diese Abteilung hauptsächlich gearbeitet hat. Es war nicht vorgesehen, CERBERUS ganz abzuschalten.

Sie hatten Milliarden damit verbraucht und sowieso schon genug politische Feinde. Da sie keine wirklichen Ergebnisse vorweisen konnten. Aber besser keine Ergebnisse, als zugeben zu müssen, dass man die Kontrolle verloren hatte.

»Und, Heather? Worauf wollen sie hinaus?«

So einfach wollte er ihr das nicht machen. Sollte sie schon selber sagen und vorschlagen, was sie da offensichtlich am Ausbrüten war. Und gleich noch die Verantwortung dafür übernehmen. Ja, so könnte es gehen. Nicht ganz fair, nicht ganz fein, aber der Schiedsrichter lässt Vorteil gelten, wie ein deutscher Komiker einst gesagt hatte.

»Ich denke, es wäre an der Zeit über Massnahmen nachzudenken, die CERBERUS wieder in unsere Kontrolle bringen.«
Nein, so leicht bekommst du mich nicht, dachte Jesse James und merkte an:

»Na dann lassen sie mal hören?«

»Vielleicht alle physikalischen Leitungen zur Aussenwelt kappen? Um eine Abschaltung zu vermeiden?«

Miss Marple ist heute aber wieder sowas von hartnäckig, fuhr es Captain James durch das Hirn. Um im gleichen Atemzug zu merken, dass er selten von Heather als Miss Marple dachte. Und ihr Vorschlag war zwar gut, hatte aber nur einen Haken. Auch das Energiesystem kann zur Informationsübertragung verwendet werden. Ein netter Versuch, aber nie ein Beweis. Sein Vorgesetzter würde ihm den Arsch aufreissen. So oder so.

»Können nicht die Energieleitungen auch zum Übertragen von Daten benutzt werden?«

Es entfuhr ihm einfach so. Um gleich darauf festzustellen, dass Heather in da festgenagelt hatte, wo sie ihn haben wollte. Jetzt hatte er die Verantwortung. Er hatte das Bedenken ins Spiel gebracht. Und alles wurde hier aufgezeichnet. Er hatte schon wieder den Schwarzen Peter.

»Ja, aber das würde bedeuten, dass wir CERBERUS abschalten müssen. Jetzt wo sie es erwähnen, denke ich, dass das ein wichtiger Punkt ist.«

Das leicht maliziöse Lächeln von Heather blieb im mehr im Gedächtnis, als ihre Worte. Aber das war auch nicht wichtig. Er hatte verloren. Also konnte ebenso gut jetzt die Zeit zum Handeln sein.

»Ok, Heather. Schalten sie das verdammte Ding ab. Wenn sich dann nichts ändert, fahren wir fort wie geplant. Und sie werden mich verdammt noch mal bei meiner Verteidigung vor dem Untersuchungsausschuss unterstützen. Bin ich da klar und deutlich gewesen?«

»Wie immer, Captain! Ich mache mich sofort an die Arbeit.« erwiderte Heather und ging, fast leicht beschwingt, zumindest innerlich, davon. Es war an der Zeit sich um CERBERUS zu kümmern. Das Abschalten war nicht ganz trivial. Es würde sicher eine halbe Stunde dauern, vielleicht auch mehr.

Vorher musste sie noch die Bugrouten bestimmen, falls Plan B notwendig wurde. Sie griff sich ihr Pad vom Schreibtisch und checkte, ob wenigstens das Pad noch funktionierte. Und sie hatte Glück. Endlich mal ein bisschen Glück an diesem vermaledeitem Tag, dachte Heather. Sie lud sich die Daten der noch aktiven Bomberbugs auf ihr Pad und sortierte sie nach Entfernung.

Mutmasslicher Entfernung! Da ein Kontakt nur über Satellit hergestellt werden konnte, mussten die Fenster genutzt werden, wenn der Satellit gerade über dem Zenit hing. Der ganze Schrott in der Umlaufbahn hatte dafür gesorgt, dass die Zahl der Satelliten, zumindest der funktionsfähigen in engen Grenzen gehalten wurde.

In der Regel hatten sie alle zwei Stunden ein Fenster. Gut, wenn sie das Fenster in der nächsten Stunde verpasste, hatte sie nochmal zwei Stunden gewonnen. Zumindest wüssten sie in einer halben Stunde, welche Bomberbugs sie noch im Einsatz hatten. Und Heather hoffte zutiefst dass es nicht weniger als vorher waren.

Auf ihrem Pad hatte sie bereits alle notwendigen Anweisungen zur Abschaltung und physikalischen Trennung von CERBERUS zum Netz gegeben. Derweil erwies sich ein Bomberbug als Wunschkandidat, da er im genau passenden Rhythmus die weiteste Entfernung zu dem Haus in der Lutherstrasse aufwies.

Sie legte das Pad, die verschlüsselten Instruktionen mit genauen Anweisungen, wann und ob sie auszuführen wären, auf den Tisch eines unbedeutenden Operators, der heute mit vielen anderen seine Schicht hatte. Auffällig war dieser Operator nur deshalb, weil er einfach tat, was ihm gesagt wurde. In diesem Falle war ihr das gerade Recht.

Sie schnappte sich zwei Techniker und erläuterte ihnen nochmal die Vorgehensweise beim Abschalten von CERBERUS und entliess sie mit der Warnung, es nicht zu vermasseln. Ach wie schön die Hühnerleiter doch immer funktionierte. Hatte Jesse ihr nicht die gleiche Warnung zukommen lassen?

Mehr blieb ihr hier nicht mehr zu tun. Ausser warten und hoffen.

Also stahl sie sich davon. In ihrer unnachahmlichen Art. Beschäftigt schlenderte sie die Gänge entlang. Sie liess die eine oder andere Bemerkung fallen. Teils witziger, teils ernster Natur.

Wenn sie nur nicht so eine lächerliche piepsige Stimme hätte, grämte sich Heather. Doch je eher sie die Stimme erhob, desto mehr neigte das Personal dazu die Köpfe unten zu behalten. Wahrscheinlich hatte eine solche Stimme auch Vorteile. Und so entschwand sie für die nicht zuschauenden Zuschauer wie von Zauberhand und ein leichtes Seufzen der Erleichterung schien über den Räumen zu schweben, als sie in ihrem Büro verschwand.

Miss Marple war gerade nirgendwo sichtbar …

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