Notstandszonen um Wiesbaden

Da standen sie nun. Jacko und Peer! Beziehungsweise gingen sie, umgeben von einem Haufen gut ausgestatteter Kidz und einem kleinen Buddha, der gerade mit ihrem einzigen Joker in dieser seltsamen Zeit davon spazierte.

Den grimmigen Blicken war zu entnehmen, dass sie nun gefälligst Abstand zu halten hatten. Sie hatten sich die warmen Sachen angezogen. Und nun bewegten sie sich in forschem Schritttempo in eine Richtung, die Jacko ganz und gar nicht gefallen wollte.

Jacko fragte sich, wie das alles weitergehen sollte? Verdammt! Er hatte ne Menge Schulden bei diversen Gangs aus seinem Viertel. Unterhalb der ständigen Überwachung hatte sich eine alternative Kultur aus durchaus gewaltbereiten und vor allem unpolitischen Gangs gebildet, die wie zusätzliche Steuereintreiber ihre Runden drehten.

Und er würde jetzt gerne eine rauchen, dachte Jacko. Aber das war bestimmt nicht der richtige Ort dafür. Oder ein kühles … nein, ein warmer Grog. Kühl war es auch so schon. Doch Tagträume von Unerreichbarem waren per se unbefriedigend. Also drehten sich seine Gedanken wieder um seine Mutter und die Steuereintreiber.

Das Einzige was die allgegenwärtige Überwachung tatsächlich registrierte und worauf sie reagierte, waren Ansammlungen von Leuten. Einzelne Personen fielen völlig aus dem Raster. Sofern sie im Überwachungsbereich keine Auffälligkeiten zeigten. Egal ob Kleidung, Bewegungsmuster oder Ethnie. Selbst die Gangs waren oberflächlich kaum noch zu unterscheiden.

Es brauchte letztendlich nur wenig um der elektronischen Überwachung zu entgehen. Direkte Treffen waren nur bei Besuchen des jeweiligen Steuereintreibers und der Weitergabe von sensiblen Information an den Gruppendiktator notwendig. War der Steuereintreiber nicht erfolgreich, kam der Mahner. Und man wurde zu einem Gespräch eingeladen. Nachdem der Strom für die Wohnung kurzfristig gekappt wurde und alle batteriebetriebenen Devices stillgelegt waren.

Interessanterweise arbeiteten viele Mahner bei Handwerksbetrieben, die Reparaturen rund um die Elektrik und Elektronik vornahmen. Sie waren bestens ausgestattet für eine Unterhaltung, die kaum der Überwachung anheim fallen würde. Und sehr nachdrücklich. Ohne jemals äusserliche Spuren zu hinterlassen. Gangs der alten, offensichtlich brutalen Art überlebten nicht lange. Den Kassierer lernte man nie wirklich kennen. Es sah einfach immer zu sehr wie ein Unfall aus.
Jackos Vater war jetzt auch schon länger verschwunden. Zu viele Sprüche, die politisch waren. Zuviel Gelaber, ohne das er je etwas getan hätte. Noch nicht mal demonstrieren ist er gegangen! Aber es hat alles nichts geholfen. Irgendwann wurde er zu einem Gespräch auf die Polizeistation gebeten. Und kam nie wieder zurück.

Es wurde von Werbung für Terroristen gesprochen, von Staatszersetzung und was sie nicht alles für Worte hatten, die für Jacko sowieso keine Bedeutung hatten. Sein Vater war von dem einen auf den anderen Moment weg. Wie rausgeschnitten aus einem Bild. Ein Teil der immer dann fehlte, wenn man auf das Bild sah. Also nur nicht auf das Bild sehen …

Der Kassierer war schon länger angedroht! Der Mahner war da gewesen und hatte sich beim zweiten Mal auch mit Jacko unterhalten. Nicht so hart, wie beim ersten Mal mit seinem Vater. Da durfte Jacko noch zusehen. Aber doch hart genug.

Die Schläge in den Bauch, die keine Spuren hinterliessen, bescherten Jacko noch einige Tage Schmerzen. Wie auch die Ohrfeigen mit dem Telefonbuch. Und dann kam alles noch schlimmer. Als sein Vater wenige Tage später auf die Polizeistation beordert wurde. Für immer, wie es schien.

Nur deswegen hatte er sich auf so einen Scheiss eingelassen. Klar kannte er Pedro, aber eher nur so am Rande. Nie war er wirklich etwas Gefährlichem ausgesetzt gewesen.

Klar, er wusste, dass man mit Entführungen Geld machen konnte. Wusste doch jeder! Geld, das der Mahner bekommen sollte, bevor der Kassierer kam. Da sein Vater so schnell nicht wieder auftauchen würde, wären als Nächstes er und seine Mutter an der Reihe. Keine erfreulichen Aussichten. Überhaupt nicht!

Und jetzt? Jetzt steckt er hier fest! Und entfernt sich immer weiter von der eigentlichen Lösung seiner Probleme. Ganz im Gegenteil! Die Chancen stiegen mit jedem Atemzug, dass der Kassierer seine Mutter kennenlernen würde. Wenn auch seine Mutter kaum in den gleichen Genuss kommen würde. Somit würde zwar die zeitliche Begrenzung für Jacko entfallen. Aber auch seine Mutter. Und Steuereintreiber kamen einfach immer wieder. Bis der Kassierer kam. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie dann ihn fanden.

Und er? Sein Mutter? Im Stich lassen? Damit er woanders weiterleben könnte? Das war ein ganz und gar verstörender Gedanke. Obwohl seine Mutter es wahrscheinlich so wollen würde. Wenigstens einer, der entkam.

Im Gegensatz zu diesen Kidz hatte er wenigstens einen Vater gehabt. Und eine Mutter! Und so Gott, oder wer auch immer, wollte, hatte er seine Mutter noch. Hoffte er zumindest.

Er war noch nicht bereit, sie aufzugeben. Nein, so leicht gewiss nicht!

Somit war klar, dass er hier wegkommen musste. Irgendwie!

Und zwar mit Kohle. Irgendwie. Mit genug für den Steuereintreiber. Der mindestens jeden Monat kam. Manchmal auch öfter. Oder? Also sollte es schon für mehr als einen Monat reichen.

Jacko grübelte weiter. Gab es noch eine andere Möglichkeit? Konnte er seine Mutter vielleicht mit sich nehmen?

Raus aus dem Dunstkreis der Steuereintreiber und Geheimdienste. Vielleicht gab es ein Vielleicht. Wenn er diesen Tim überreden konnte, irgendetwas zu drehen? War das eine Möglichkeit?

Wirklich? Konnte er das? Jemanden, den er gerade erst kennengelernt hatte. Wie würde dieser Tim reagieren? Was würde er sagen? Also Plan A, Tim fragen. Und Plan B? Wen fragen? Was dann machen, wenn Tim Nein sagen würde?

Wer würde … naja, wer wohl? Zuerst der Steuereintreiber. Man konnte schon anschreiben. Bei den Steuereintreibern. Dann bekam man Aufträge. Und mehr Schulden. Und mehr Aufträge. Diese Variante war keine Verbesserung. Sie war ein Tod auf Raten.

Und nein, das ging sowieso nicht mehr. Er war da in was Politisches reingeraten. Sein Vater sowieso! So etwas schätzten die Gangs gar nicht. Sie hielten sich strikt aus allem Politischen heraus. Und alles was er bis jetzt angestellt hatte, war was Politisches. Aber so was von!

Sein Vater mit seinen Schnapsideen! Daher hatte er es bestimmt. Das lag bestimmt in seinen Genen. Musste ja politisch sein, so wie sein Vater drauf war. War? Vielleicht noch ist, wagte Jacko kaum zu Hoffen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sagte er immer. Sein Vater. Und in letzter Zeit hatte er öfter angefügt: »Aber sie stirbt!«

Wie erstaunlich, welchen Optimismus sein allzeit zum Pessimismus bereiter Vater doch aufbringen konnte. Ein wahrer Pessimist hätte längst alles hingeschmissen gehabt. Nicht so sein Vater. Doch was half es? Seine Mutter war jetzt die, die seine Hilfe brauchte. Für seinen Vater konnte er nichts tun.

»Hey?« sagte er fragend, wobei er dem grimmigen Kurzen direkt ins Gesicht blickte.

»Hey, könnte ich mal mit Tim sprechen?«

Die Antwort war ein verständnisloses Glotzen. Wie ein Schlag ans Kinn.

»Kanzler?« fragte Jacko, schon etwas unsicherer.

Ein Grunzen und ein Kopfschütteln war die einzige Antwort.

Mist, verdammter! Da war definitiv eine andere Taktik angesagt! Doch hatte er soviel Zeit? Andererseits, was für Möglichkeiten hatte er?

Raus aus dem getarnten Bereich rennen und auf sich aufmerksam machen? Damit ihn ein Bug erledigte? Wenig elegant. Also erstmal an Tim halten. Und Tim hatte eine Mauer, die … wie hiess der Kerl eigentlich?

»Ich bin Jacko. Wie heisst du?« plapperte er nebensächlich daher und fügte zur Sicherheit noch ein »Du? Name?« ein. Hauptsächlich wegen dem konzentrierten Blick des grimmigen Kurzen. Kidzspeak war einfach nicht seine Sache.

»Grimm! Jez basta!« entfuhr es dem Kurzen, während er den Kopf fast zu ihm umdrehte. Nur fast. Um dann weiter vor sich hinzustarren.

Soweit zu seinen Versuchen eine Unterhaltung anzufangen. Er wollte gerade wieder versuchen etwas zu sagen, als alle anhielten und den Finger vor den Mund legten. Ohne das Pscht. Nur die Geste. Was, gelinde gesagt, gespenstisch wirkte.

Jacko war sonnenklar, dass jetzt nicht der optimale Zeitpunkt wäre um auch nur ein Räuspern entfleuchen zu lassen. Also schluckte er leer und verharrte in seiner Position. Liess sich allmählich in die Hocke gleiten. Wie es alle anderen taten.

Allerdings, so schlich sich ganz langsam ein Gedanke ein, wäre es vielleicht ein guter Zeitpunkt, um die andere Seite zu kontaktieren. Doch wie? Vor allem wen?
Jeder achtet hier auf jeden. Es war wirklich erstaunlich, welche Disziplin diese Kidz an den Tag legten. Wenn es notwendig war.

Zudem war er zu weit weg vom Rand. Zu viele Leute zwischen ihm. Einfach nur die Aufmerksamkeit erregen, ohne einen Deal gemacht zu haben, ging ja gar nicht. Selbst dann bestand immer die Gefahr, dass die Gegenseite nicht bezahlte.

Aber vielleicht … vielleicht …

Der komische Typ, der genauso aussah, wie er hiess, Grimm, reichte ihm etwas Essbares. Mit der passenden Geste, doch gefälligst leise zu essen. Eine komische Sache.

Das Äussere sah wie dunkelgrüne Blätter aus. Aus den Zwischenräumen quoll etwas bräunlich-graue Masse. Alles in allem machte es eher einen krossen als einen wabbeligen Eindruck. Es lag fest und noch leicht warm in der Hand.

Kurz fragte er sich, was die Kidz hier draussen zu essen hatten. Dann warf er alle Zweifel beiseite. Nicht zuletzt weil ihn der Hunger plagte. Und biss herzhaft hinein.

Salzig … hackfleischartig … mit leichtem Hühnchenanklang … unbekannt … aber … verdammt lecker! Also biss er nochmal hinein und nochmal. Bis der Mund zu voll war um einen weiteren Bissen unterzubringen.

Und schon spürte er die Blicke! Die ihm signalisierten, er mampfe zu laut. Was richtig blöd war. So mit vollem Mund versuchen langsam und leise kleine Teile dieser leckeren Speise zu schlucken. In den Magen hinuntergleiten zu lassen, ohne das der Magen … und ja, da ging es verdammt nochmal schon los: Ein »grimmiges« Magenknurren erwachte!

Nach so langer Vernachlässigung, reagierte sein Magen natürlich mit Gebrüll. Einem Gebrüllknurren, dass lauter als jedes gesprochene Wort war! Viel peinlicher konnte es gar nicht mehr werden!

Urplötzlich wurde er mit diversen Decken und Kleidungsstücken bedeckt, dass er fast keine Luft mehr bekam. Und kein Ton mehr nach aussen drang. Zumindest konnte er den Rest jetzt noch lautstark runter ›mampfen‹! Sein Magen schien zu spüren, dass seine Lautäusserungen sich einen Wettlauf mit dem verfügbaren Sauerstoff lieferten und glitt langsam in leichtes, unterschwelliges Knurren. Bis er endlich schwieg und Jacko sich aus dem Wust an Kleidung herausarbeitete.
Nur den Kopf, klar doch. Und nach Luft schnappen. Was aufgrund der Hörbarkeit weitere böse Blicke nach sich zog.

Also verzog er sich wieder unter den Kleiderberg und kritzelte seinen Namen in den Untergrund. Dann kratzte er noch einen Pfeil in den Boden, der die ungefähre Richtung beschrieb. Und fügte in seinem schlechten Englisch »Hellp mi!« hinzu.

Während er alles noch mit kleinen Steinchen garnierte, begann er sich zu ernsthaft zu fragen, was das für einen Scheiss war, den er hier machte? Spätestens wenn sie die Kleidung wegzogen, war davon sicher nichts mehr zu sehen. Und wenn doch, könnte das einigen hier vielleicht gar nicht gefallen. Also verwischte er alles. Und tauchte erneut zum extra leisen Einatmen wieder auf.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in einer mehr als unbequemen Lage, setze sich der Tross wieder in Bewegung. Jacko wurde die Arbeit erleichtert, sich aus dem Berg aus Klamotten und Decken herauszuwühlen, weil alle, die »gespendet« hatten, sich flugs ihre Sachen wieder griffen.

Was bei der Temperatur, die im Inneren herrschte, durchaus verzeihlich war. Wahrscheinlich musste er ihnen auch noch dankbar sein, wenn er ihre blaugefrorenen Lippen und ihr Zittern sah. Also murmelte er ein leises Danke jedes Mal, wenn ein weiteres Kleidungsstück entfernt wurde und erhob sich. Komischerweise beschämt.

Als seine Gedanken wieder zu ihm gefunden hatte, meinte Jacko, dass ein weiterer Annäherungsversuch fällig wäre. Mal sehen, ob es über das Essen mehr zu erfahren gäbe?

Wie, verdammt nochmal, machten die das. Hier draussen! So lecker Essen. Ein Rätsel zum Zeitvertreib und um vielleicht Freunde zu gewinnen. Nicht das dies Jacko in dieser Dimension so bewusst gewesen wäre. Für Jacko war es eher ein Bauchgefühl.

»Danke! Lecker das! Was ist?« versuchte er so gut wie möglich ein gefühltes Äquivalent von Kidzspeak hinzubekommen.

Und es funktionierte. Zumindest wandte Grimm sich um. Betrachtete ihn von oben bis unten. Grinste. Grinste immer breiter. Um endlich zu sagen:

»Meidinbörga!«

Jetzt war es an Jacko fassungslos und verständnislos zu schauen.

Es klang irgendwie englisch, meinte er. Doch in Englisch war er nie gut. Okay, »börga« könnte Burger sein. »Meidin« hmmm, Made In vielleicht? Aber das gab doch keinen Sinn.

Scheinbar war auch anderen aufgefallen. Wie sehr im der Mund offen stand, metaphorisch gesprochen. Denn plötzlich, so von der Seite, meinte sein Nebenmann:

»Das mussde deutsch auschsprechn, um esch schu verschtehn. Made in Burger. Eine, nee, viele Madn in nem Algenburger. Grimm tud sisch schwer mim Redn. Beschondersch in eura Schprache. Wasch für viele hier gild. Isch bin gens Vorlaud.«

Wer, verdammt nochmal, hatte den Leuten hier diese Namen gegeben, schoss es Jacko durch den Kopf.

»Ja und wie? Wo bekommt ihr die Maden her? Woher die Algen?«

Vorlaut zeigt stumm nach oben. Mehrere Behälter, die Jacko fast nicht aufgefallen wären, bildeten ein kleines Mitteldach. Auf den ersten Blick sah es aus, als ob alles aus einem Guss wäre. Erst wenn man genau hinschaute erkannte man die wabenförmige Struktur. Was natürlich erstmal gar nichts erklärte. Bottiche mit Algen und Würmern oder was?

»Isch wess esch auch nisch scho genau. Oben schin die Algn, wegn m Lischd und scho. Danebn die Drockner, auch wegn m Lischd. Drunda die Madn, de wir mit nem Deil davon füddern. Der Reschd kommt um de Burga. Ham nur dasch. Wird eschd langweilisch. Scho imma …«

»Meinst du, ich könnte mal mit dem Kanzler sprechen? Ich hätte da echt ne dringende Angelegenheit …«

»Nee du, vielleischt schpäta. Im Mom hat er Schnauze verordned. Heischd man scholl ihn nisch beläschdign und de Schnauz haldn.«

Später, ja später. Jacko krümmte sich innerlich unter seinen Gedanken, die sich im Kreis drehten.

Verdammt nochmal, später wäre seine Mutter vielleicht schon tot … nein, so durfte er nicht denken. Das würde nämlich auch bedeuten, das sein Vater bereits tot war. Das er es akzeptiert hätte. Und wie konnte er seine Mutter retten? Wie konnte er sich und seine Mutter retten?

War hier überhaupt noch jemand zu retten … ?

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