Lutherstrasse 7, Wiesbaden

Willy driftete in den Nebeln der schmerzhaften Bewusstlosigkeit. Bedrängt von düsteren Traumfetzen, die nie auch nur annähernd greifbar wurden. Die Kräfte verliessen ihn, soviel spürte er. Er spürte es auf einer Ebene, die den Worten nicht zugänglich war. Langsam, aber sicher, wurde er zu schwach für böse Traumgespinste. Und so driftete sein Geist, ziellos und schwach, durch die Sphären seiner Erinnerungen.

Seltsamerweise befand er sich auf dem Ast eines Baumes. Der Boden viel zu weit entfernt. Was machte er hier? Wie sollte er hier runterkommen? Schwach wurde er sich bewusst, dass er fünf Jahre alt war. Und er hörte seine Freunde, wie sie ihm etwas zuriefen. Was meinten Walter und Christel? Er solle springen? Ja klar und sich den Knöchel verstauchen! Oder vielleicht sogar etwas brechen. Nein, Willy war klar, es musste noch einen anderen Weg herunter geben.

Allein, er konnte ihn nicht finden. Stattdessen verknotete sich die Angst in seinem Bauch zu einem schweren, massiven Backstein. So dass alle Gedanken nur noch damit beschäftigt waren, sich gut festzuhalten und nicht herunterzufallen. Zumal das Gewicht der Angst ihn ebenfalls herunterzuziehen schien.

Die Bemühungen von Walter und Christel, ihn zum Herunterspringen zu bewegen, drangen in den Hintergrund. Wie nörgelnde kleine lästige Mückenstiche, die man immer wieder einmal kratzen muss. Er machte die Auge zu und hoffte, dass es besser wurde, wenn er sie wieder aufmachte. Während er ab und an ein klägliches »Nein!« oder »Ich kann nicht.« oder »Ich hab Angst.« einstreute, um die nörgelnden Mückenstiche zum Schweigen zu bewegen. Oder, was noch viel besser wäre, zum Helfen.

Doch die Zeit verrann unerbittlich und gab der Angst genug Zeit sich ordentlich zu entwickeln. Irgendwie schien sich die Szenerie zu ändern, selbst das Nörgeln wurde anders. Vorsichtig spähte Willy aus dem rechten Auge, dass weniger von dem Abgrund unter ihm sah.

Und bemerkte, dass die Dämmerung eingesetzt hatte. Walter meinte, nun eher bestimmt, wenn er nicht bald spränge, dann würden sie ohne ihn nach Hause gehen.

»Aber ich trau mich nicht …« war alles was Willy weinerlich erwidern konnte.

Es folgten noch einige Aufforderungen endlich zu springen. Doch Willy verweigerte sich standhaft. Und dann, auf einmal, standen sie einfach auf und gingen. Willy war zu verblüfft, um ihnen irgendetwas hinterherzurufen.

Als er sich ausgeheult hatte, begann Willy die Dunkelheit und Kälte zu spüren. Es wurde Zeit für Willy, seine Optionen abzuwägen. Wenn er auf diesem Ast einschliefe, dann fiel er mit Sicherheit runter. So wie er auch aus dem Stockbett gefallen wäre, wenn kein Gitter da gewesen wäre. Wenn es noch dunkler wurde, dann sah er nicht mehr, wohin er sprang. Was das Risiko für Verletzungen ebenfalls vergrösserte. Und wenn er erstmal mit den Armen an diesem Ast hing, dann führte kein Weg zurück. Klimmzug war nie seine Sache gewesen. Er hing da eher wie ein nasser Sack herum.

Es half alles nichts. Er musste es wagen! Selbst wenn er sich den Knöchel verstauchte, was noch die beste aller Varianten war, die er sich vorstellen konnte. Also drehte er sich auf dem Ast. Langsam und behutsam, bis er mit dem Bauch auf dem Ast lag. Und sich dann langsam herunterrutschen lassen konnte. Mittlerweile hing er tatsächlich wie ein nasser Sack an dem Ast.

Wie war er hier nur hochgekommen? Es gab keine Stümpfe oder Äste, an denen man sich gut festhalten konnte. Und es war noch mindestens einen Meter nach unten, was relativ viel ist, wenn man selber nur ein laufender Meter und ein bisschen ist.

Das Schicksal war ihm gnädig und nahm ihm die Entscheidung ab, wie er wieder nach unten käme. Seine Hände wurden immer rutschiger und Kraft, na ja, die war bei ihm noch nie im Übermass vorhanden. Also entschied die Physik und seine stärker werdende Schwäche. Denn Kraft konnte man das wahrhaftig nicht nennen.

Mit einem Mal plumpste er zu Boden. Wie es eben ein nasser Sack tut. Genau in diesem Moment traf ihn dieser höllisch brennende Schmerz. Er fühlte sich wie Jesus, dem man glühende Nägel einhämmerte. Fast schaffte er es zurück in die Realität. Fast!

Die Erinnerung zersplitterte unter dem Aufprall des Schmerzes. Warum waren sie gegangen? Weil er ihnen seine Furcht gezeigt hatte? Weil er nicht die richtige Maske getragen hatte. So war es doch immer. Dachte die schmerzfunkelnde Stille. Die keine Stille war.

Und plötzlich war er wieder bei der Klassenfahrt. Komisch das sie immer noch so genannt wurde. Es fuhr keiner mehr irgendwohin. Schon lange nicht mehr. Das hatte in den 20er Jahren aufgehört. Nachdem die Niedriglohnterroristen in ganz Europa den Aufstand geprobt hatten und so die Notstandszonen um die Städte entstanden waren. Heute standen die ehemaligen Aufständischen an den Stadttoren an. Wo sie um viel Arbeit für ein wenig zu Essen bettelten.

Sie waren virtuell zusammengeschalten. An den Mai-Tanz-Festspielen, wie sie jedes Jahr am ersten Mai erfolgten. Herbert hatte mal erwähnt, dass dieses Datum ursprünglich ein Feiertag der Arbeiterbewegung war. Aber das glaubte Willy nicht.

Die Mai-Tanz-Festspiele kamen von den ursprünglichen Fruchtbarkeitsriten zum Frühlingsanfang. Arbeiterbewegung, ha! Was für ein Propagandaschwachsinn.
Das Zusammenschalten hatte den Vorteil, dass man die Festspiele in einer anderen Stadt beobachten konnte, allerdings konnte man den Beobachter nicht steuern. Was wiederum der Nachteil daran war. Sie waren mit Berlin zusammengeschaltet und der Lehrer, der ihr Beobachter in Berlin war, flanierte gerade durch die Bezirke, die dort Kieze genannt wurden. Es war alles ordentlich herausgeputzt. Fähnchen wehten im Wind und die Menschenmassen bewegten sich scheinbar ziellos, aber gesittet, durch die Strassen.

Ihr virtueller Beobachter lieferte ihnen gerade Hintergrundinformationen zu dem Bezirk, durch den er gerade flanierte. Hier waren einst die Strassen voll von Graffitis und Schmutz und alternativen Bars gewesen, hiess es.

Jetzt war alles was Willy sehen konnte sauber und gemütlich. Durch die Strassen tanzte die Friedrichshainer Mai-Tanzgruppe auf den Beobachter zu. Nur die Kleidung dieses Teils der Bevölkerung schien noch etwas von dem ehemals rebellischen Berliner Geist zu versprühen, wie der Beobachter hervorhob, in dem er direkt auf ein Beispielexemplar blickte.

Durch die Augen des Beobachters nahm Willy eine Frau in einem hautengem Leopardenkostüm wahr. Mit einem schwarzen Pelzmantel, den sie sich zwar angezogen hatte, der aber so nach hinten gezogen war, dass er die Schultern frei liess. Es sah durchaus sexy und ansprechend aus, bis der Beobachter die Szene kommentierte.

»Hier seht ihr eine Reminiszenz an das alte Berlin, als Kleidungsfetischismus ausgedrückt. Ursprünglich sollte diese Art von Kleidung und die Art sie zu tragen wohl lässig aussehen und zur Promiskuitivität anregen. Es war seinerzeit der absolut notwendige und übliche Tribut an den Opfergott der Aufmerksamkeitsökonomie. Es wäre wesentlich effizienter gewesen, wenn jede dieser verlorenen Seelen ein Schild mit ›Kopulationsbereit!‹ um den Hals getragen hätte.«

Willy dachte nachher lange darüber nach, ob die betreffende Person nur die vergangene Zeit nachgestellt hatte? Oder ob sie vielleicht im Widerstand gewesen war? Gemäss Herbert gab es diesen ja immer noch. Und gemäss Herbert konnte man sie an ihren Kleidern erkennen. Was doch Schwachsinn wäre. Genau genommen. Dann wären sie ja ganz leicht zu finden, wenn es sie denn gäbe.

Als sie den virtuellen Rundgang beendet hatten, folgte das obligatorische Gelage. Der Mai-Tanz war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen man sich in der Öffentlichkeit ungeniert bis zum Umfallen betrinken durfte. Ansonsten waren Drogen zwar erlaubt aber reglementiert.

Die regelmässige Überwachung bestimmte, wann und wieviel man im Allgemeinen von welcher Droge zu sich nehmen durfte. So war Kokain nur als Arbeitsstimulans zugelassen. Nicht für die Freizeit. Während alles was lethargisch und lasch machte, für die Freizeit vorgesehen war. Doch nie soviel, dass die Arbeitsfähigkeit am nächsten Tag darunter litt.

Bei all diesen Veranstaltungen, die ein Gruppenverhalten erzwangen, hatte Willy sehr schnell herausgefunden, dass er eine prima Zeit mit all diesen Menschen verbringen konnte. Zumindest wenn er nicht er selbst war!

Wenn er zum Beispiel im realen Leben einfach die Maske des trotteligen Willy anlegte. Und sich in dummen Kommentaren übte. Wenn er zum Clown für die Gruppe wurde. Denn wenn sie über ihn lachten, schienen sie ihn manchmal sogar ein bisschen zu mögen. Nicht genug, um wirklich an ihm interessiert zu sein. Nur soweit, wie er genug Belustigung für sie auf seine Kosten lieferte.

Dabei war dieses Spiel und diese Maske nervtötend. Die meisten Menschen war so trivial und die ihnen zuträglichen Belustigungen so vorhersagbar, dass es schon nach kurzer Zeit keinen Spass mehr machte. Und eine intellektuelle Herausforderung waren sie mit Sicherheit nicht.

Schadenfreude. Das war das Übliche. Schadenfreude und nochmal Schadenfreude. Und Geringschätzung anderer, um sich selbst aufzuwerten.
Mehr? Mehr war nicht zu holen. Und da wunderten sich die Menschen, das Clowns meist Depressionen hatten? Wenn man die Leute nur dadurch zum Lachen brachte, in dem man sie auf sich selbst herumtrampeln liess?

Währenddessen bemühte sich Alex, Ordnung in das Chaos zu bringen. Für Willy hatte Alex im Moment weder Zeit noch Laune. Ausserdem dümpelte Willy bewusstlos auf dem Tisch vor sich hin. Wie schafft man einen Toten aus dem Haus, fragte sich Alex nicht zum ersten Mal?

Besonders wenn das Haus die ganze Zeit unter Überwachung steht? Es sah doch immer so leicht und easy in den interessanteren Filmen aus. In den schlechteren Filme wurde meist die Leiche zerstückelt und in irgendwelche Müllsäcke verfrachtet. Allein bei dem Gedanken kam es Alex schon hoch. Der sich ausbreitende Geruch des toten NSA-Arschlochs tat noch sein Übriges dazu. Nein, irgendwie mussten sie diesen Typen erstmal im Haus lagern. Mit dieser Leiche vor die Tür zu gehen, wäre Wahnsinn gewesen.

Warum musste Alex eigentlich immer alles für dieses faule Pack erledigen und ihnen alles vorbeten? Claudia, Burkhard und Stefan standen rum wie die Ölgötzen und kamen einfach nicht in die Puschen. Wenn Alex sie nicht genau instruierte, was sie als nächstes zu tun hatten, standen sie einfach nur rum, fingen mit Nörgeln an und bestärken sich gegenseitig in ihrer unnützen Jammerei.

Die typischen »Früher war alles besser. ™«-Modelle. Alex hasste das. Gern hätte er sich auch mal zurückgelehnt. Anstatt sich Gedanken machen zu müssen, was jetzt als nächstes kam. Und wer was zu machen hatte. Doch das konnte er vergessen. Zumindest in dieser Welt.

Keiner hätte angenommen, das Alex auch gern mal jemanden gehabt hätte, der ihm einfach sagte, was zu tun ist und fertig. Nicht denken, einfach machen!
Aber nein, er musste sich ja früher immer hervortun. Er wollte ja schon damals derjenige sein, der etwas zu sagen hatte. Und das hatte er auch erreicht!

Doch zu welchem Preis? Jetzt musste er ständig den anderen sagen, wo es lang ging. Eine Scheiss-Maskerade, dieses ganze Lebensspiel, schoss es Alex durch den Kopf.

»Stefan? Burkhard? Sucht mal im Keller die grossen Müllsäcke und versucht unsere Leiche mal da hineinzustopfen.«

Natürlich kam Gemaule und Gejammer zurück. Warum ich und der ganze Bla. Als Alex jedoch klarstellt, dass sie stattdessen die Leiche mit dem elektrischen Fleischmesser zerteilen könnten, wenn ihnen diese Aufgabe nicht passen würde, war sehr schnell Ruhe.

»Claudia? Du passt auf den anderen Typen auf. Wenn er sich irgendwie nur bewegt oder Schwierigkeiten macht, hol mich. Sofort! Ist das klar? Und halt Abstand von dem Typen! Wirf auch ab und zu einen Blick auf Willy, bitte.«

Würde er nur einen Moment zögern oder den Anschein erwecken, dass er nicht wusste was er tat, so würde er umgehend zum Opfer werden. Davon war Alex überzeugt. Sie würden über ihn herfallen und ihn zum Default-Schuldigen für alle ihre Probleme und Problemchen machen.

Es war ja sowieso schon so, dass Alex für vieles verantwortlich gemacht wurde, was letztendlich gar nicht auf seinem Mist gewachsen war. Aber das alles spielte keine Rolle. Hatte man erstmal Partei für irgendetwas ergriffen und wurde dies von der Gemeinde der Schafe akzeptiert, dann war man zuständig, verantwortlich und natürlich … der Erfinder dieser ganzen Sache!

Differenzierung war nicht unbedingt die Stärke des üblichen Pöbels. Also behielt Alex seine Maske auf. In der Hoffnung, irgendwann vielleicht einmal so zu akzeptiert werden, wie er war. Wirklich war! Eine vergebliche Hoffnung, wie Alex immer mehr dämmerte. Nicht das er sich die Frage stellte, ob er vielleicht ja genauso war, wie er sich immer gab? Und ob das andere Ich nicht eine idealisierte Version seiner selbst war?

Es wurde langsam Zeit das Herbert und Susanne zurückkehrten …

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