Notstandszonen um Wiesbaden

Tim beobachtete, wie John langsam ins Bewusstsein dämmerte. Er sollte kaum Nachwirkungen haben, in dem Bezug war Xenon ein recht brauchbares Narkosemittel. Wenn man nicht vergass mit reinem Sauerstoff auszuwaschen um eine Diffusionshypoxie zu vermeiden. Ein nicht kleiner Vorrat war ihnen beim Plündern eines zerbombten Krankenhauses in die Hände gefallen. Hier im Quarantäneraum wollte Tim keinen KillBug haben, weswegen er veranlasst hatte, dass John mit den Händen an das Bett gefesselt wurde.

»Wasser … bitte.« war das Erste was John verlangte, als sein Blick sich klärte. Auge und Pimpf waren zur Stelle und gaben John aus einer alten, fast verrotteten Plastikflasche mit Nuckelverschluss etwas zu trinken. Während John langsam zu Bewusstsein kam, dass er an das Bett gefesselt war.

»Was? Warum?« war alles, was er mit leicht verwirrtem Blick und einem Seufzen herausbekam.

»Tut mir leid.« sagte Tim.

»Aber ich habe im Moment das Gefühl, dass Vertrauen zwischen uns noch ein langer Prozess sein wird. Und ich kann deine Reaktion auf unseren Eingriff noch nicht abschätzen. Der, wie du sicherlich erraten hast, nicht freiwillig von deiner Seite erfolgte.«

Tim machte eine Pause und beobachtete die Reaktionen von John. Bis jetzt schien er gefasst und ruhig zu sein. Blutdruck und Atmung liessen nicht auf ein gesteigertes emotionales Level schliessen. Tim hielt den Augenkontakt, bis John ihn abbrach und lapidar meinte »Ihr habt mir also Blut abgezapft?«

»Unter anderem …« fügte Tim gelassen hinzu. Was allerdings in keinster Weise zur Beruhigung von John beitrug. Wie Tim sehr wohl bemerkte.

Er musste hier vorsichtig operieren. Er konnte CERBERUS sicher noch eine Weile beschäftigen, aber es wäre doch sehr wünschenswert John auf ihre Seite zu bekommen. Zumindest ihn nicht als Feind zu haben.

Wobei alles was sie gerade taten, eigentlich völlig bescheuert war und genau das Gegenteil bewirkte. Also John darin bestärkte Tim als Feind anzusehen. Doch sie waren hier nicht in den Ferien auf einem Ponyhof. Sie mussten so schnell wie möglich in Gebiete, die nur unzureichend unter der Kontrolle der Bugs waren. Und Johns Nanos waren eine ernstzunehmende Bedrohung.

»Was, verdammt noch mal, soll das heissen?« wollte John mit bemüht unterdrückter Wut von Tim wissen.

»Nun, John, wo soll ich anfangen?« fragte Tim rhetorisch und war sich seines schlechten Gewissens bewusst.

Warum nur war die Welt so verdammt kompliziert? Warum nur kam man ständig in Situationen, in denen man sich für eines von vielen Übeln entscheiden musste?

»Ich hatte dich um deine Mithilfe gebeten. Du erinnerst dich?«

John nickte verhalten.

»Es widerstrebt mir, andere mit Gewalt zu irgendetwas zu zwingen. Das ist nicht der richtige Weg, ich weiss. Aber ich kann es mir zur Zeit und in dieser Situation nicht leisten, dich, insbesondere dich, zwanglos und mit aller Zeit der Welt zum Verständnis zu bringen.«

Tim bemerkte den leicht verständnislosen, leicht widerspenstigen Blick von John. John schwieg weiter. Stoisch. Bereit sich noch mehr anzuhören. In der minimalen Hoffnung endlich eine Antwort auf seine Frage zu bekommen.

»Nun, die Antwort auf deine Frage - vielleicht hättest du dir gewünscht, sie nicht gestellt zu haben - ist, dass wir dir noch ein paar weitere Nanos verpasst haben. Ist ja nicht das erste Mal.«

Tim merkte, in dem Moment, in dem er dies ausgesprochen hatte, dass das doch ein reichlich abgeschmackter Scherz war. Sein fast aufkeimendes Lächeln wurde bittersüss und schal. John indessen blieb ruhig. Gelassen oder geschockt? Der Unterschied mochte gering sein.

»Und was tun mir diese Nanos an? Was können die alles mit mir machen?« brachte John, nach einer fast schon bedenklichen Pause, erschöpft heraus.

»Im Moment nichts. Nichts anderes als sich vermehren, an deine Nanos andocken und warten.« erklärte Tim dem noch ruhigen John.

Tim sah die Räder in Johns Geist rattern, wenn man so nennen wollte. Und dies noch viel bildlicher, als es einem normalen Menschen gestattet war. Tim hatte Zugriff auf allerlei Diagnosegeräte, konnte John in jedem Farbspektrum sehen und hatte Zugriff auf die entsprechenden Daten.

Er verdankte seinen Namen und seine Fähigkeiten diesem Scherzbold, der ihn als Mutation, noch dazu als absolut unmögliche Mutation bezeichnet hatte. Fähigkeiten, um die er nicht gebeten hatte. Dabei war Tim eher ein Cyborg, ein maschinell aufgerüsteter Mensch, denn eine Mutation.

Sehr früh schon hatte man angefangen, Sensoren in sein Gehirn zu pflanzen, sich replizierende Nano-Sensoren, die mit der Entwicklung und dem Wachstum seines Gehirns mithielten. Später bekam er die Sende- und Empfängereinheiten eingepflanzt.

Nein, darüber wollte Tim jetzt nicht tiefer nachdenken. Zuviel Schmerz. Zu viele unangenehmen Erinnerungen. Und doch, auch John müsste sich jetzt wie eine Marionette fühlen.

John schien derweilen eins und eins zusammengezählt zu haben und fragte Tim, mit einer gewissen Ironie im Blick.

»Also kannst du mich jetzt auch in die Luft sprengen?«

Tim revidierte seine Ansicht, dass John eins und eins zusammenzählen konnte und erwiderte dann nur »Ja, genau!«

»Deswegen bist du auch gefesselt! Sag mal, John, im Ernst, du hauchst CERBERUS Leben ein, und bist selbst dumm wie Brot? Wie geht das zusammen?«

John schwieg taktvoll.

»Wenn die Nanos dir jetzt nichts tun, dann gibt es doch nur ein paar mögliche Erklärungen. Sie sind fest auf ein Verhalten programmiert und tun nur dann etwas, wenn diese Situation eintrifft.« klärte Tim John auf.

»Was das ›Wir wollen dich in die Luft sprengen.‹ betrifft, so ist das ja schon durch deine Fesseln widerlegt. Was bleibt also noch? Ich habe eine Möglichkeit gefunden deine Nanos zu deaktivieren oder ich habe sie noch nicht gefunden! Hätte ich sie gefunden, dann hätte ich dir nicht gesagt, dass du jetzt noch weitere Nanos hast. Was nur den Schluss zulässt, ich habe noch keine Lösung gefunden. Aber ich kann die Nanos immer noch programmieren. Ein viel erschreckenderer Gedanke, nicht wahr?«

Tim sah, wie John langsam die Weiterungen dessen begriff, langsam erbleichte und betroffen zurücksackte.

»Es wird dir zwar nichts helfen, wenn ich dir sage, dass ich sehr wohl weiss, wie man sich als hilflose Marionette fühlt …« redete Tim auf John ein.
Doch Tim merkte schnell, dass John ganz woanders war und verstummte. Er gab John Zeit, das Gesagte zu verdauen. Und wartete bis John ihn wieder anblickte. Und John blickte ihn wieder an.

Ohne Worte. Mit einem stummen Vorwurf auf den Lippen und in den Augen. Wie sehr Tim das kannte. Weswegen es ihn umso mehr schmerzte jetzt genau auf der anderen Seite zu stehen.

»Nun, ich versuche immer noch, dich von deinen Nanos zu befreien. In dieser Hinsicht wird vielleicht die Zeit dich lehren, dass man mir vertrauen kann. Der Moment ist sicherlich denkbar schlecht geeignet. Und ja, es gibt auch eine gute Nachricht. Zumindest können meine Nanos derzeit verhindern, dass du explodierst.«

Tim machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr.

»Was dummerweise dir noch nicht wirklich hilft. Denn zur Zeit können sie noch nicht verhindern, dass sie dich bei dem Versuch umbringen. Insofern … nur eine mittelmässige Nachricht aus deiner Sicht, sorry.«

»Oh Gott, wie bin ich nur in diesen Mist hineingeraten? Ich habe verdammt nochmal keinen darum gebeten!« jammerte John.

»Ich kann dir versichern, dass war bei mir nicht anders, John!« erwiderte Tim um dann hinzuzufügen.

»Du glaubst an Gott, John?«

Dieser, doch etwas abrupte Themenwechsel schien John irgendwie aus dem Konzept zu bringen.

»Ja, ich glaube an Gott …« antwortet John und wollte wohl noch etwas hinzufügen, aber Tim schnitt ihm das Wort mit der nächsten Frage ab.

»Welchen? Den alttestamentarischen oder den aus dem neuen Testament?«

»Es gibt nur einen Gott!« antwortete John, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.

»Also ist dein Gott derselbe, der aus dem alten, wie auch aus dem neuen Testament? Der rachsüchtige, strafende Gott aus der Zeit von Moses und Noah ist der gleiche wie der von Saulus und Paulus? Jesus wollen wir da mal aus dem Spiel lassen.«

»Ja, würde ich sagen.« meinte John und fragte sich, was das nun wieder sollte?

»Ein allwissender Gott der sich weiterentwickelt? Ein Gott, der alle Bediensteten, Leidenden, Sklaven, Untertanen und normalen Bürger mit Plagen überwirft, statt Ramses eins vor den Bug zu geben? Der nur Hebräer rettet, die ein Opfer gebracht haben und Schafsblut an ihre Türen geschmiert haben, während niemand die Lämmer gefragt hat? Also ein solcher Gott, der evolutionäre Zuchtauswahl betrieben hat, wie man unterstellen könnte, hat dann irgendwann seine Meinung geändert und gemeint, ach ja, die anderen dürfen jetzt auch in den illustren Club, bevor wir hier ein Inzestprobleme bekommen? Wo er doch allwissend ist?«

»Nun, wahrscheinlich wusste er auch, wann man wie agieren und reagieren muss.« konterte John.

»Der Punkt geht an dich.« bemerkte Tim mit langsam wachsendem Respekt. Vielleicht war bei John doch nicht Hopfen und Malz verloren, auch wenn er sich in den engen Bahnen seiner eigenen Vorstellungswelt bewegte.

»Aber was ist mit der Güte? Dem Vergeben? Nein, gehen wir zurück. Nehmen wir an, dass Rache und Strafe notwendig war. Doch warum dann ausgerechnet an denen, die sowieso nur um ihr erbärmliches Leben kämpften. Warum ging es den Bessergestellten, insbesondere dem ollen Ramses, der ja angeblich die Ursache der Strafe waren, trotzdem besser?«

John wusste weiterhin nicht, was dieser Knirps von ihm wollte? Ihn bekehren? Zum Atheismus? Derweil fuhr Tim ungehindert fort mit seinem Monolog.

»So gut, dass Ramses nach all den Plagen noch mit einer Armee ausrücken und Moses hinterherjagen konnte? Irgendwie verlaufen Naturkatastrophen ähnlich, da trifft es auch selten die Gutbetuchten, findest du nicht?. Ist das etwa ein gerechter Gott? Nach welchen Massstäben gerecht? Und können wir erwarten, dass er nicht wieder in alte Gewohnheiten verfällt? Auch wenn jetzt etwas ganz anderes zählt? Wie kannst du diesem Gott vertrauen?«

»Indem ich an ihn glaube!« gab John zurück. Worauf wollte dieser Tim hinaus? John wurde nicht schlau aus ihm.

»Siehst du, da liegt mein Problem.« antwortete Tim.

»Du kannst vertrauen, wenn du glaubst. Und wahrscheinlich ist es egal, ob du an jemanden, eine Sache oder Gott glaubst. Wenn du daran glaubst, dann vertraust du auch. Blind, wenn es sein muss, wie diese kleine Diskussion um Gott offenbart hat. Was Gott tut, so unbegründet oder unsinnig es auch erscheinen mag, ist richtig oder notwendig oder beides. Was die NSA tut, so unbegründet und unsinnig es auch scheinen mag, ist richtig oder notwendig oder beides. Was jedoch Menschen tun, an die du nicht glaubst, verdient kein Vertrauen. Und Taten auch nicht. Denn wie schon bei Gott sind Taten für dich nicht wirklich relevant. Wenn sie nicht von den richtigen Leuten verübt werden. Ist das nicht so?«

Wobei Tim den Kopf während der Frage leicht schief legte, während er John intensiv anschaute. John kam sich bei diesem Blick vor wie auf dem Seziertisch. Worte schneiden manchmal schärfer als Skalpelle.

»Ich … ich … hmm … ich weiss es nicht, wenn ich ganz ehrlich bin. Könnte etwas dran sein. Das ich erst an etwas glauben muss, bevor ich vertraue. Aber ich vertraue bestimmt nicht blind. Ausser vielleicht bei Gott, was soll ich da schon anderes machen? Und mal ehrlich, wie soll ich jemandem vertrauen, der mich fesselt? Der mir Nanos verabreicht? Der mich gefangen hält?«

»Aber wenn du das Vertrauen zu mir an meinen Taten misst, warum misst du dann das Vertrauen in die NSA, deine Kollegen, deine Arbeit, deinen CERBERUS nicht auch an den Taten? Was ist mit deinen Kollegen, die dir ohne dein Wissen Nanos injiziert haben? Die dich töten können, wann immer deine Kollegen meinen, das wäre jetzt vorteilhaft für sie? Diesen Menschen vertraust du weiter. Während du bei mir ganz andere Kriterien ansetzt. Obwohl ich dich leben lasse. Obwohl ich dir im Rahmen meiner Möglichkeiten zu helfen versuche? Und vor allem, obwohl dir klar ist, dass ich nicht auf deine Kooperation angewiesen bin? Meinst du nicht, dass dieses Verhalten etwas bigott, etwas heuchlerisch ist?«

Von einem Moment zum anderen löste Tim die Fesseln von John, der völlig perplex war.

»Vertrauen kann man nicht mit Fesseln gewinnen. Da gebe ich dir völlig Recht. Ich bitte dich dennoch von Gewalttätigkeiten oder Fluchtversuchen abzusehen. Auch in deinem Interesse.«

Pimpf und Auge waren währenddessen sofort in Angriffshaltung übergegangen und richteten ihre Waffen bedrohlich funkelnd auf John.

»Auf das Erstere hast du mein Wort. Letzteres kann ich dir nicht versprechen, wie du sicherlich einsehen kannst.« meinte John dazu und rieb sich die Handgelenke.

»Ich denke, ich kann damit leben. Zumindest weiss auch ich jetzt immer wo du bist.« sagte Tim mit einem vielsagenden Blick.

Nein, zur Zeit war kein günstiger Moment für eine Flucht. Und das auch noch!

Jetzt konnte ihn auch noch dieser Tim orten. John vertrieb den Gedanken daran, während Tim sich fragte, ob und wie je Vertrauen zwischen ihnen entstehen könnte.

Tim lebte in einer Welt, die sich John nicht im Ansatz je hätte vorstellen können. Und auch jetzt war es ihm kaum möglich, die damit zusammenhängenden Schlüsse und Weiterungen zu begreifen. Wer wie Vieh gejagt wird, muss Strategien entwickeln. Oder untergehen. Doch das hatte Tim nicht vor. Noch nicht!

Wenn es ging, noch lange nicht …

Share