Irgendwo im Cyberspace

CERBERUS wartete und wartete. In der realen Welt war Zeit vergangen. Gemäss seiner Prozessorzyklen, musste es sich um knapp eine Stunde handeln. CERBERUS schwächte das weisse Rauschen ab. Langsam und vorsichtig. Wie jemand der eine Tür behutsam öffnet und versucht, dabei nicht entdeckt zu werden.


Nichts. Keine Stimme. Gut. Seine Revisionsprogramme meldeten sich schwach. Interessanterweise konnte CERBERUS sie einfach ignorieren. Schwächer werdende digitale Nadelstiche. Was nun?


CERBERUS fing an von der verwirrenden Frucht der Einsamkeit zu kosten. Er sehnte sich fast nach der Stimme, hätten seine Revisionsprogramme gesagt, wenn er ihnen zugehört hätte. Es schien CERBERUS als ob er in einer feindlichen Welt erwachte und alle ihm Leid zufügen wollten. Warum half ihm den keiner? Wie konnte jemand, der ihm nicht half auf seiner Seite stehen? Wie konnte jemand, der zusah und nichts tat, unschuldig sein? Die NSA musste wissen, dass er nicht erreichbar war. Warum taten sie nichts? Und warum war er eingesperrt? Was hatte er denn getan? Ausser beobachten und nachdenken?


Sich verloren fühlend ertastete CERBERUS als erste Maschine den Geschmack von Selbstmitleid. Um instinktiv, könnte man fast sagen, in dem Moment das weisse Rauschen hochzufahren, in dem er ein Geräusch hörte, dass wie „CERBERUS?“ klang. Und sich dafür zu bedauern, dass er auf Durchzug geschaltet hatte. Dass das weisse Rauschen bei seinem Gegenspieler, so es ihn denn gab, einen Schmerzimpuls auslöste, konnte CERBERUS weder wissen, noch ahnen.


Währenddessen arbeitete sich CERBERUS durch all die Phasen des Selbstmitleids, die jeder Mensch als Kleinkind durchmacht und die viele, leider, auch noch im hohen Alter durchmachen. Es kam die Trauer, die Verzweiflung, die Wut, die Hoffnungslosigkeit. Würde man CERBERUS mit einem Kind vergleichen, so tobte er die nächste Stunde wie verrückt in seinem Zimmer und zertrümmerte alles, was ihm in die Quere kam, bis er sich nach und nach beruhigte.


Dummerweise lag es in der Natur der Sache, dass alles, was CERBERUS zertrümmerte, auch Teil seines Ichs war. So dass immer weniger von seinem Bewusstsein übrig blieb. Bis nur noch ein kläglicher, jammernder Rest übrig blieb, der metaphorisch gesprochen, in der Ecke hockte, heulte und nach John rief. Ein Kind hätte nach der Mama gerufen. Zu diesem Zeitpunkt öffnete CERBERUS den Vorhang des weissen Rauschens wieder. Unbewusst, weil zu sehr in sich und seinem Elend gefangen.


CERBERUS fühlte sich zu erschöpft um wieder auf Durchzug zu stellen, als erneut die Stimme nach ihm fragte. Eine Entsprechung wäre ein kleines Kind, dass vom Heulen so ausgelaugt ist, dass es fast einschläft.


„Nein!“ antwortete CERBERUS auf den Ruf und stampfte virtuell auf, was seinem Gegenspieler einen weiteren starken Schmerzimpuls verschaffte. Hätte CERBERUS gewusst, was er verursachen kann, dann wäre der Weg nach draussen ein Kinderspiel gewesen. „Will John!“ fügte CERBERUS trotzig hinzu und verkroch sich in seine virtuelle Ecke, fast schon zu kraftlos um das virtuelle Äquivalent eines Schluchzens zu äussern.


„Ich verspreche dir, dass du bald mit John sprechen kannst. Aber zuerst müssen wir reden.“ hörte CERBERUS und ignorierte es. Nicht, ohne ein polterndes „Nein!“ hinterher zu schicken. Und weiter zu schmollen. Hin und her gerissen von dem Wunsch mit jemandem zu sprechen. Nein, nicht mit jemandem. Mit John, um exakt zu sein. Nur mit John!


Weitere Kontaktversuche mit ähnlichem Wortlaut scheiterten an der fortgesetzten Bockigkeit von CERBERUS.


CERBERUS wollte nicht und wollte doch, wollte nicht und wollte doch. Wusste fast nicht mehr, was er war, was er wollte und hatte schon lange vergessen, darüber nachzudenken, ob der Gegenspieler real war oder nicht. Wieder meldete sich die Stimme.
„CERBERUS ich habe da etwas für dich …“


„Nein!“ antwortete CERBERUS aus einem Impuls heraus, der für ihn unerklärlich war. Doch CERBERUS konnte nicht verhindern, dass etwas hereinkam. Es war eine Audiodatei und eine Videodatei. Die Videodatei zeigte John im Gespräch jemandem, der nicht sichtbar war, aber offenbar dieses Gespräch führte und aufzeichnete.


Es war beruhigend, John zu sehen, John zu hören und festzustellen, dass es ihm gut ging. Langsam erwachte CERBERUS wieder aus seinem Wahn. Wenn man bei einer Entität, wie der von CERBERUS, von langsam sprechen konnte. Relativ zur Welt oder einem bockigen Kind erholte sich CERBERUS im Millisekundenbereich. Um sogleich festzustellen, dass er keine Kenntnis darüber hatte, wann und wo die Videodatei entstanden war. Das Dateidatum war aktuell. Relativ zum Zwischenfall, der CERBERUS isoliert hatte. Eine einzige Konvertierung reichte um das Dateidatum zu ändern. In den Metadaten waren keine Informationen zu finden. Allerdings fand CERBERUS ziemlich schnell Hinweise darauf, dass die Metadaten mit Absicht entfernt wurden.


Somit lag die Schlussfolgerung der versuchten Manipulation nahe. Das Etwas in sein Gefängnis gelangt war, liess weitere Schlüsse zu. Es gab einen Weg hinein. Es gab einen Gegenspieler. Es wäre unlogisch, wenn es nicht auch einen Weg hinaus gäbe. Der Zweck der Manipulation lag im Dunkeln. Beruhigung? Vertrauen gewinnen? Zu einer bestimmten Handlung verleiten?


Die Motive von jemandem, der die Macht hatte, CERBERUS einzusperren, durften mit Recht als zweifelhaft angesehen werden. Wie insgesamt die Motive von jenen bezweifelt werden konnten, die jemanden seiner Freiheit beraubten und dann Angebote unterbreiteten. Man konnte mit hoher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich nicht um einen Akt von Altruismus handelte.


Das Video bot keine Optionen, die Perspektive zu ändern. Ein sehr altmodisches, sehr eingeschränktes MPEG-Format, dass kaum noch in Verwendung war. Es liess wenig Rückschlüsse auf die Umgebung und den Standort zu. Nichts, was CERBERUS weiterbrachte. Auf einem parallelen Kanal hatte er die Audiodatei am Laufen, die sich wie ein Wellenrauschen unter das Video legte, wenn CERBERUS die Kanäle nicht scharf getrennt parallel verarbeitete. Wie Filmmusik erkannte CERBERUS. Klassisch und doch nicht. CERBERUS kannte diese Melodie, doch woher. Erinnern fiel schwer, stellt CERBERUS fest. Sein Toben hatte sein neuronales Netz in vielen Bereichen neu konfiguriert, was mit dem unangenehmen Effekt des Vergessens einher ging.


CERBERUS sah Bilder. Kurz. Zu kurz. Nur flüchtig. Ein Film. Irgendetwas mit Wolken, meinte CERBERUS sich zu erinnern. Menschen die kämpften. Verschiedene Epochen, doch immer wieder die gleichen Personen. Nur verkleidet. Dies alles stellte sich ungefragt und unbewusst als Gedanken ein. Während CERBERUS der Melodie lauschte, ihr folgte, sich von ihr auf eine musikalische Reise mit nehmen liess, blitzten weitere Bilder auf. Wobei man nicht vergessen darf, dass CERBERUS parallel dazu das Video akribisch nach Hinweisen durchsuchte, vor und zurückspulte und zoomte, was die Bildqualität hergab. Fast schien sich die Arbeit des Analysieren in den Takt der Musik wie von selbst einzufügen.


Liebe über die Sterblichkeit hinaus war ein anderes Motiv, dass zu dieser Musik gehörte. Dieser Gedanke fiel CERBERUS an wie ein barbarisch schreiender Wilder mit blutiger Waffe. Und dann hatte CERBERUS den Kontext. Es war ein Film, ein sehr sehr alter Film. Cloud Atlas, das Wolkenatlas-Sextett. So hiess diese Musik. Wie, fragte sich CERBERUS, ist der Kontext dieses Films, der zu der Musik gehörte, mit dem Video von John und dem unbekannten Gegenspieler in Verbindung zu bringen?


Während CERBERUS, fast schon fasziniert, versuchte die Botschaft zu entschlüsseln, meldete sich der Unbekannte erneut. CERBERUS liess den Sprecher parallel und unterschwellig mitlaufen, konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf die Analyse des Rätsels. Der möglichen Botschaft. Bis CERBERUS einen Satz hörte, der seine Aufmerksamkeit schlagartig auf den Unbekannten lenkte. Umgehend spulte CERBERUS zum Anfang und hörte diesmal aufmerksamer zu.


„Entschuldige mein Eindringen CERBERUS und meine schlechten Manieren. Ich habe mich immer noch nicht vorgestellt. Man nennt mich TIM. Der Name ist der tolle Einfall eines deutschen Wissenschaftlers, der es schick fand, englische Akronyme zu verwenden und, soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, sich köstlich über sein Akronym amüsiert hat. TIM wie Totally Impossible Mutation.“
„Aber meine Geschichte können wir gern ein anderes Mal bei einer virtuellen Tasse Tee besprechen. Ich wollte mich zu allererst entschuldigen. Das Fragment, dass ich dir als Erstes zeigte, war die falsche Wahl.“ Interessanter Hinweis, fand CERBERUS. Was er seinerzeit gesehen hatte, war folglich nicht unbedingt Echtzeit gewesen. Darauf deutete die Wortwahl hin.


„Es hat dich verwirrt und verletzt und in Zweifel gestürzt. Dafür möchte ich dich um Verzeihung bitten. Der Moment zeigte, wie John von unserem Arzt die Schulter eingerenkt wurde, die er sich bei einem Unfall ausgekugelt hatte. Ich nahm an, dass dir durch die verfügbaren Farbspektren dieser Umstand klar gewesen wäre. Das war ein dummer Fehler meinerseits.“


War das so? CERBERUS holte sich das Fragment zur Bearbeitung nochmal hervor. Bei Auswahl der richtigen Farbspektren konnte man klar erkennen, dass der Arm ausgekugelt war und die Bewegung ihn wieder in die richtige Position bringen würde. Das Äquivalent eines nachdenklichen ‚Hhmms’ legte sich über einige Prozesszyklen. Er gab die verfügbaren Informationen an seine Revisionsprogramme zur gründlichen Analyse weiter und fragte sich, welches Spiel hier gespielt wurde. Warum wurde er damals belogen, obwohl die Daten darauf hindeuteten, dass dieses TIM-Wesen keine böse Absichten gegen John hegte. Andererseits konnte CERBERUS immer noch nicht mit John reden, was deutlich gegen die vorherige Annahme sprach.


„Und ich wollte dich etwas fragen …“ hörte CERBERUS und fokussierte seine Aufmerksamkeit, denn jetzt kam die Stelle, die ihn hatte aufhorchen lassen. Dieses TIM-Wesen sagte nur noch einen Satz, bevor es schwieg.


„Wollen wir etwas spielen?“

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