Lutherstrasse 7, Wiesbaden

Myers und Kipling war sofort klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Von einem Augenblick zum anderen waren Peterson und Jackson verschwunden, will heissen nicht mehr ortbar. Und jetzt meldete sich auch noch Miss Marple mit dem Befehl zurückzukommen. Sofort!

Myers und Kipling schauten sich vielsagend an, zuckten gleichzeitig mit der Schulter. Also zurück zur Zentrale. Schön das man sich auf die Agency verlassen konnte, wenn man sie brauchte …

Währenddessen brach in der Küche die Hölle los. In dem Moment, in dem Jackson zusammenbrach, liess Peterson den fetten Kerl namens Willy los und sprintete um den Tisch. Um Susanne, wie ein Fussballprofi, mit einem Kick die Beine unter dem Körper wegzuziehen. Worauf Susanne hart mit dem Kopf aufschlug und, wie es schien, erstmal bewusstlos liegen zu bleiben.

Der fette Sack landete ebenfalls auf dem Boden, japste kurz und war dann still. Von den an die Stühle gefesselten Arschlöchern kam lautes Geschrei, was Peterson ignorierte. Erstmal musste er dieses Miststück fesseln, bevor sie noch mehr Unheil anrichtete.

Das Peterson die am Stuhl Gefesselten ignorierte, stellte sich als grosser Fehler heraus. Er fischte gerade nach den Plastikhandfesseln, als für ihn auf einmal alles dunkel wurde.

Man könnte es einen Kaskadeneffekt nennen und sich fragen, wer jetzt Alex als nächstes irgendetwas über den Schädel zog. Bei der aktuellen Lage schien dies fast am Wahrscheinlichsten. Aber was scherte sich das Universum um Wahrscheinlichkeiten?

Alex wurde ausgerechnet an den Stuhl gefesselt, dessen Lehne man einfach herausziehen konnte. Dummerweise hatte Jackson die Hände nicht zusammengefesselt und dann am Stuhl befestigt, sondern jede Hand an jeweils einer Stange der Lehne. Somit hatte Alex die Hände in dem Moment frei, in dem er die Lehne herauszog. Was genau der Moment war, in dem Susanne den einen, Abe oder so, mit dem glühenden Dachnagel ausser Gefecht setzte.

Da die Lehne gerade zur Hand war, konnte Alex nicht anders, als diese dem anderen Kerl über den Schädel zu ziehen. Nachdem der Drecksack Susanne ausser Gefecht gesetzt hatte und Willy vom Tisch hatte fallen lassen. Zur Sicherheit haute ihm Alex noch mal richtig fest auf den Schädel, was aber keine Reaktion auslöste. Der war wohl für den Moment bewusstlos. Doch wie lange?

Keine Zeit für grosse Diskussionen. Alex schnappte sich die Plastikhandfesseln, die Peterson, oder wie er immer hiess, praktischerweise gerade in der Hand hatte, bevor er hinfiel. Und die jetzt neben ihm lagen. Zuerst bei ihm Arme und Beine verschnüren, da er nicht so richtig verletzt war. Dem wimmernden Arschloch zog er auch noch eins über den Schädel und fesselte ihm nur die Hände auf den Rücken.

Währenddessen schrieen Herbert, Stefan, Burkhard und Claudia um die Wette, dass Alex sie verdammt nochmal von den Stühlen losbinden sollte. Keinen Sinn für Prioritäten dachte Alex, während er sich gelassen umdrehte, um endlich die anderen zu befreien. Erstaunlich, welche Lärm Menschen machen konnten, die sonst nie das Maul aufbekamen. Womit nicht Herbert gemeint war. Der hatte eine Meinung und kein Problem damit, dass auch anderen klarzumachen.

War doch irgendwie seltsam, dass die sich wie Schafe verhalten hatten. Widerstandslos, wie verängstigte Kaninchen. Sie hatten es den Arschlöchern von der NSA von Anfang an zu leicht gemacht.

Während er Herbert und die anderen befreite, spürte er fast einen bitteren Geschmack im Mund. So läuft das also! Entweder es gibt jemanden, der etwas riskiert und dann ist es sein Job ganz allein oder es gab niemanden, dann waren alle leichter zu handhaben als Schafe. Man brauchte ihnen nur ein paar imaginäre Schäferhunde gedanklich einpflanzen und schon blieb die Herde am vorgesehenen Ort.

Blökte vielleicht ein bisschen. Wenn es hoch kam!

Hilfe konnte man von solchen feigen Schafen nicht erwarten, wenn es hart auf hart kam. Selbst Herbert war maximal ein Schaf, wenn es ernst wurde. Grosse Reden an dunklen geheimen Orten schwingen. Na klar. Aber sobald der Schäfer auftauchte, war Herbert auf dem Weg zum vorbildlichen Kollaborateur.

Der Wert der eigenen Haut, die jedem näher ist, wurde leichtsam unterschätzt. Was jemand sagte war soviel Wert, wie der flüsternde Wind zwischen den Bäumen. Nett anzuhören manchmal, aber das war auch alles! Was zählte waren Taten, nicht Worte!

Eine Erkenntnis, die in einer Welt der Worte und versteckten Taten als verloren gelten konnte. Susanne war somit die Einzige, auf die man sich verlassen konnte. Und Willy irgendwie, selbst wenn er blöd wie Brot war. Der Rest war eine Belastung. Mit der Alex im Moment leben musste.

Kaum waren alle frei, ging es schon wieder mit der endlosen Diskutiererei weiter. Ein Summen, wie in einem Bienenstock.

»Herbert, hilfst du mir bei Willy?« fragte Alex und warf gleich einen weiteren Befehl, mit etwas Freundlichkeit gewürzt, in den Raum.

»Claudia, kannst du dich um Susanne kümmern? Burkhard? Stefan? Würdet ihr so nett sein und die zwei NSA-Typen sicher zu verstauen?«

Die Volksfront von Palästina oder die palästinische Volksfront. Was machte das schon für einen Unterschied? Dogmatische Debattierclubs. Wenn man diese Leute nicht beschäftigte, dann waren sie so nutzlos wie ein Nagel ohne Hammer.

Da das Schafgen bei diesen Leuten offensichtlich stark ausgeprägt war, funktionierten einfach Befehle erstaunlich gut. Susanne kam langsam zu sich. Was erfreulich war.

Eine Krankenschwester war jetzt etwas, das zumindest Willy dringend bräuchte. Besser noch einen Arzt. Wer, verdammt noch mal, kannte jemanden, den man hier noch mit hereinziehen könnte? Während Alex mit Herbert Willy wieder auf den Tisch wuchtete, der immer noch blutete wie verrückt, meinte Alex zu Herbert

»Kennst du vielleicht einen Arzt, der in dieser Situation helfen könnte?«

»Dauert zu lange« murmelte Herbert, während er versuchte, die Blutung der Wunde zu stoppen.

Was ein vergebliches Unterfangen war. Der Schuss war unterhalb des Schlüsselbeins in der Nähe der Achsel durchgegangen, ohne die Lunge zu treffen. So wie Willy blutete, musste die Achselarterie getroffen worden sein.

Susanne war mittlerweile wieder auf den Beinen, holte den Dachnagel und steckte diesen zum Erhitzen wieder unter die Pfanne. Auch ihr schien klar zu sein, dass hier Zeit der wesentliche Faktor war. Willy war zum Glück bewusstlos und sein Blutdruck im Keller. Was etwas dazu beitrug, dass er nicht ganz so schnell verblutete.

Alex wollte gerade frische Tücher bringen, als Susanne mit dem glühenden Nagel schon neben ihm stand und den provisorischen Verband entfernte.

»Haltet ihn bitte fest. Könnte sein, dass der Schmerz ihn wieder weckt und er sich dann noch verletzt, wenn er eine unbedachte Bewegung macht.«

Kaum hatte sie das gesagt, drang der Dachnagel schon in die Wunde ein. Alex und Herbert hatten alle Mühe, den kurz erwachenden und aufstöhnenden Willy auf dem Tisch festzuhalten. Als Susanne den Nagel wieder herausgezogen hatte, wurde sie schlagartig bleich und schaffte es gerade noch, sich auf einen Stuhl zu setzen, anstatt umzukippen.

»Weiss jemand Willys Blutgruppe? Wir brauchen entweder einen Blutspender oder passendes Blutplasma, sonst schafft er das nicht. Zuerst mal müssen wir versuchen, mit einer Kochsalzlösung, etwas auszugleichen. Aber das Blut was ich hier sehe, scheint mir doch viel mehr als ein Liter zu sein. Sobald ich wieder etwas besser auf den Beinen bin, versuch ich im Krankenhaus etwas abzustauben. Aber das dauert alles. Ich habe weder ein Infusionsnadel, noch sonst etwas hier. Ich gehe davon aus, dass auch von euch keiner so etwas gerade zur Hand hat, oder?«

Das beredte Schweigen war Antwort genug. Zumindest schien die Blutung gestoppt zu sein. Alex hatte derweil einen Blick vor die Tür geworfen. So wie es schien, war keine Kavallerie eingetroffen oder sie war wieder abgerückt. Der Wagen von den NSA Arschlöchern war noch da. Dort konnte er auch nicht bleiben.

Obwohl? Genaugenommen konnte hier in der Lutherstrasse keiner mehr bleiben. Auch wenn sie abgezogen waren. Sie wussten immer noch, wo sie zu suchen hatten. Statt nächtlicher Erschiessungskommandos kamen die Bugs. Was auch den Vorteil hatte, dass man sich gegebenenfalls auf technische Probleme oder Kollateralschäden herausreden konnte.

»Alex?«

Herberts Ruf drang durch die Gedanken, die Alex gerade bewegten.

»Ja« sagte Alex fast abwesend und ging zu Herbert.

»Was gibt’s?«

»Also« begann Herbert mit einem Blick, den Alex nicht mochte.

»Auch wenn du meinst, du warst hier der grosse Zampano und hast uns alle irgendwie gerettet, frage ich mich doch, wie wir überhaupt in diese Situation geraten sind. Wie kommt Willy zu dem Ausweis? Und was hast du damit zu tun?«

Na, dass wurde ja immer schöner. Erst rettet man diesen Arschlöchern ihren platten Arsch und dann bekam man mit der Schaufel dafür drauf. Undank ist der Welten Lohn oder wie hiess es noch gleich? Alex schaute Herbert fassungslos an.

»Ich warte, Alex! Also raus mit der Sprache. Meinst du etwa ich hätte nicht bemerkt, dass Willy mir letzthin gefolgt ist? Und dass das bestimmt nicht auf Willys Mist gewachsen ist. Ich höre?«

»Du bist doch so ein Arschloch, Herbert. Erst lässt du dich mit einem NSA Typen ein und dann wirfst du mir vor, dass ich die Typen zu dir geführt habe? Und ja, genau wegen so etwas habe ich dir Willy hinterhergeschickt. Weil ich nicht mehr weiss, wie weit ich dir noch trauen kann. Und wie man ja sieht, scheint mein Misstrauen seine Berechtigung zu haben.«

»Ihr seid alle beide die voll blöden Arschlöcher!« war Susanne zu vernehmen.

»Willy stirbt, wenn wir nicht bald was unternehmen. Ich würde euch daher gern bitten, mir zu helfen. Wenn Willy über den Damm ist, dann dürft ihr draussen auf der Wiese gern soviel Testosteron verspritzen, wie ihr wollt! Entweder fährt mich jemand im Eiltempo zum Krankenhaus oder ihr bringt mir ein komplettes Infusionsgerät mit entsprechendem Material.«

Susanne warf einen provozierenden Blick in die Runde.

»Habt ihr nicht? Gut! Oder besser schlecht. Herbert du fährst mich zum Krankenhaus. Alex, du scheinst mir gewalttätig genug um auf die NSA-Typen aufzupassen.«

Beiden verschlug es die Sprache. Herbert holte schweigend seine ID und versuchte sein Bestes, wie ein begossener Pudel zu wirken. Alex stand nur da, während seine Stirnvene so stark hervortrat, dass Susanne sich fast Sorgen machte. Susanne füllte noch ein wenig von Willys Blut in ein kleines Glas ab, um etwas für die Blutgruppenbestimmung zu haben.

Genau in dem Moment, in dem Susanne und Herbert gerade gehen wollten, sackte der verletzte NSA Typ mit einem seltsamen Geräusch in sich zusammen und fiel mitsamt seinem Stuhl um. Gleichzeitig erfüllte ein widerlicher Gestank den Raum. Als ob sich jemand in die Hosen geschissen hätte.

Susanne war die erste, die erfasste was passiert war. Dieses NSA Arschloch war gerade gestorben. Jetzt hatte sie auch noch einen Mord auf dem Gewissen.

Wahrscheinlich war der Nagel bis ins Gehirn vorgedrungen. Na prima, dachte Susanne, das wird ja immer besser.

Was allerdings nicht ganz der Wahrheit entsprach. Letztendlich hatte der Schlag von Alex Jackson den Rest gegeben, doch den hatte Susanne nicht mitbekommen. Allerdings hätte er auch so nicht mehr lange gelebt oder wenn, dann mit starken Behinderungen. Der glühende Nagel hatte sowohl den Schläfenlappen verletzt, wie auch die Brücke, einen Teil des Hirnstamms. Als Durchgangsstation für alle Nervenfasern hätten nur die Götter gewusst, wie stark die Einschränkungen für Jackson gewesen wären.

»Ich denke, Alex, das ihr den gleich begraben könnt oder was man auch immer mit Leichen macht, die man nicht gebrauchen kann. Du weisst da ja bestimmt am Besten, was man da macht …«

Damit liessen Susanne und Herbert die anderen in dem sich ausbreitenden Gestank zurück …

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