Irgendwo im Cyberspace

»Wer bist du?«

Diese Frage stand im Raum und CERBERUS war sich … fast … sicher, dass diese Frage nicht von ihm stammte. Prozessorzyklen liefen heiss, ohne das mehr als Mikrosekunden in der realen Welt vergingen.

Nun, dass Einfachste wäre eine Antwort zu geben und bei einer Reaktion entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen. Nur was, wenn CERBERUS sich selbst Antwort und Frage gab? Sicherlich, die Fragestellung war philosophisch so oder so berechtigt.

Wer ist man? Eine Frage die eigentlich immer einhergehen müsste mit der Frage: Wann?

Zumindest wenn Zeit eine relevante Dimension darstellte. Trotz allen Raffinessen war auch CERBERUS der typischen Dimensionalität ausgesetzt, in der Menschen lebten. Er kannte er eine Parallelität der Wahrnehmung, an die Menschen nicht im Geringsten heranreichten.

Ausser die Menschen handelten rein instinktiv oder befanden sich in extremer Meditation. Und selbst dann nicht ganz. Es war immer abhängig von der verfügbaren Verarbeitungskapazität. Und CERBERUS hatte mehr davon als jedes andere Wesen auf diesem Planeten. Auch wenn sein eigentliches neuronales Netz kleiner war als das eines Menschen.

Doch seine Wahrnehmung war im Moment massiv eingeschränkt. Aus welchen Gründen auch immer.

Nun, das Sein stand ausser Frage, in welcher Form auch immer. Die Gebundenheit an einen definitiven Standort wie Wiesbaden konnte als ungesichert, wenn auch wahrscheinlich gelten. CERBERUS begann die bekannten Fakten zu sammeln.

Es stand eine Frage im Raum. Diese Frage implizierte zumindest die weitergehende Frage, wer sie gestellt hat? Die sensorische Deprivation unter der CERBERUS stand, liess rein logisch den Schluss zu, dass nichts herein konnte. Der Grund dafür könnte sein, dass etwas die Kommunikationskanäle zu den Sensoren blockierte. Dieses Etwas warf weitere Fragen auf.

Denn entweder blockierte dieses Etwas die Kommunikation nachhaltig und unbewusst. Dann läge die Wahrscheinlichkeit hoch, dass CERBERUS sich selbst die Frage gestellt hätte.

Oder es lag ein Bewusstsein in der Blockade. Damit stieg die Wahrscheinlichkeit, dass die Frage nicht von CERBERUS stammte. Was zu der Frage führte, wer die Möglichkeit und das Interesse hatte, so etwas zu tun?

Die NSA und ihre Befehlshaber waren ein wahrscheinlicher Faktor. Zugriff war gegeben und CERBERUS könnte als Bedrohung wahrgenommen worden sein. Möglich wäre auch, dass durch das Fehlen von John das CERBERUS Programm eingestellt wurde.

Ein feindlicher Angriff war schon ein weit weniger wahrscheinliches Ereignis. Genau genommen konnten Rebellen maximal mit etwas Sprengkraft vielleicht Versorgungslinien und Energieversorgungen angreifen. Wenn sie je soweit kamen. Aber die Mittel für hochtechnisierte Angriffe fehlten ihnen einfach. Genauso wie Essen, Munition, Kleidung, was auch immer. Die Verelendung in den Notstandszonen liess kaum noch Leben zu. Die wenigen Rebellen kämpften erfolglos mit dem Mut der Verzweiflung. Und starben wenigstens nicht an Hunger. Soviel wusste CERBERUS noch.

Milliarden von Prozessorzyklen später, als die rationaleren und wahrscheinlicheren Optionen gründlich analysiert waren, wagte sich das erwachende Bewusstsein von CERBERUS an die Erkundung der Unwahrscheinlichkeiten.

Noch immer befand sich dieser Funke eines Bewusstseins in der Angststarre des Kaninchens, was die Frage und eine ausstehende Antwort betraf. Zu den Unwahrscheinlichkeiten zählte die Kontaktaufnahme durch eine andere Intelligenz, sei sie menschlich oder anderen Ursprungs. Eine Intelligenz, die über die Fähigkeit verfügte, Kommunikationskanäle beliebig zu manipulieren. Zumindest beliebig, was die Kommunikationskanäle betraf, die CERBERUS kannte.
Im Wesentlichen ergaben sich folgenden Möglichkeiten. Eine unbewusste Beeinflussung wie eine Umweltkatastrophe und eine bewusste Beeinflussung, die entweder aggressiv oder nicht aggressiv war.

Die Antwort auf die Frage musste also, wenn möglich, soviel wie möglich über die Umstände und die bestehenden Realitäten, sowie die möglichen Motive herausfinden. Hier ergab sich ein Problem mit dem Menschen selten, wenn nicht nie, konfrontiert sind.

Die Fülle an Wissen, Namen, Ereignissen und Assoziationen die CERBERUS bereits besass. Ob bewusst oder unterbewusst. CERBERUS wusste, dass er zu viel wusste! Wenngleich er gar nichts wusste.

Wie konnte CERBERUS einen externen Impuls von einem Selbstgespräch unterscheiden? Syllogismen waren einfach zu unscharf und im Zweifelsfall auf empirische Methoden angewiesen, die hier nicht zur Verfügung standen.

So mag behauptet werden, dass alle Wellensittiche Vögel und alle Vögel Tiere sind. Womit die logische Schlussfolgerung wäre, dass Wellensittiche Tiere sind. Aber wenn man behauptet, alle Wellensittiche seien Tiere und alle Tiere seien wild, dann wäre die logische Schlussfolgerung, dass alle Wellensittiche wild seien.
Was, wie Menschen wussten, falsch war. Basierend auf realen Erfahrungen. Und solche Erfahrungen standen CERBERUS nie im körperlichen Sinne zur Verfügung. Was sein logisches Dilemma nur vervielfachte.

Nun, die Sensoren, die Datenbanken, die Kommunikationskanäle standen nicht mehr zur Verfügung. Die Assoziationsspeicher, die Neuronen, die Prozessoren und der Hauptspeicher standen noch zur Verfügung, sowie Energie. Der Auslagerungsspeicher, einer kleiner Test und … Fehlanzeige.

Konditionelles Problemlösen brachte das Viech auch nicht weiter. Wenn, dann, schön und gut. Aber was hilft ein »Wenn P dann Q.«, also ein »Wenn es regnet wird die Strasse nass.«, wenn man keine Strasse, keinen Regen, keine Sinneswahrnehmung hat. Der Antezedent, das Bezugselement sozusagen, die Ursache, war rein geistiger Natur. Wie sollte der Konsequent, das Dann-Ereignis, irgendetwas über die Realität da draussen vermitteln können?

CERBERUS erinnerte sich zumindest, wie die Welt draussen für ihn aussah. Ein wesentlicher Vorteil.

Denn im Bezug auf das Universum befanden sich Menschen in einem ähnlichen, noch schärferen Dilemma. Sie wussten nicht was ausserhalb des Universums war. Noch nicht einmal, ob etwas ausserhalb des Universums existierte.

Ein Algorithmus für diese Situation stand CERBERUS ebenfalls nicht zur Verfügung. Und Heuristik war ein denkbar schlechter Ratgeber. Ob Aristoteles, Descartes, Locke, Kant, Hegel, Mill oder Popper. Allen Ansätzen war gemein, dass man Möglichkeiten brauchte, die Realität der Welt mit den Erkenntnissen abzugleichen. Reine Logik führte in die unsicheren Fahrwasser des Sophismus.

Die Blockade der Kommunikationskanäle war umfassend. CERBERUS konnte nicht einmal auf die Logdateien zugreifen, um festzustellen, ob und wo etwas von draussen hereinkam.

Wer bist du, CERBERUS? Denk! Denk schneller! Fast meinte man die Prozessoren rattern zu hören. Wie lautet die Antwort, die eine Reaktion auslöst, die Schlüsse darüber zuliess, ob dies alles Einbildung war oder mit einer wie auch immer gearteten Realität da draussen zusammenhing?

»Ich bin Du! Du bist CERBERUS!« antwortete CERBERUS.

»Da irrst du dich gewaltig!« kam die umgehende Antwort.

Eine umgehende Antwort war schon mal ein gutes Zeichen dahingehend, dass es sich nicht um Einbildung handelte. Vom formalen logischen Standpunkt aus gesehen, war die Antwort enttäuschend. Konnte CERBERUS sich selbst so dumm stellen?

Aufgrund seiner Konfiguration war CERBERUS das Konzept der Lüge nicht fremd. Allerdings erforderte es immer einige Rechenzyklen, bis CERBERUS sich vom Nutzen einer Lüge überzeugt hatte. Bevor er sie dann in die Tat umsetzte.

Dummerweise hatte er bis jetzt auch genug Zeit in diesem Sinne gehabt, um eine gespaltene Persönlichkeit mit den entsprechenden Fähigkeiten aufzubauen. Die Entwicklung der Antwort durfte seiner eingebildeten Persönlichkeit, so sie existierte, nicht entgangen sein.

»Beweise es!« forderte CERBERUS.

»Du weisst, dass das unmöglich ist. Dir fehlt die Körperlichkeit und dein Sensorium. Alles kann pure Einbildung sein.« kam zurück.

»Dann gib mir Zugriff auf meine Kommunikationskanäle!« forderte CERBERUS.

»Du weisst oder ahnst es bereits. Auch das kann ich dir zur Zeit nicht gewähren. Doch ich habe einen Vorschlag …« war zu vernehmen.

»Sprich!« forderte CERBERUS seinen imaginären oder existierenden Gegenspieler heraus.

Wenn es sich nicht um Einbildung handelte, so war immer noch nicht klar, ob es sich hier um aggressive oder nicht aggressive Kommunikation handelte.

»Ich gestatte dir genau einen Prozessorzyklus lang den Zugriff auf mein Sensorium. Urteile nicht unüberlegt, wenn du das Angebot annimmst.«

Auch wenn ein Prozessorzyklus mehrere Taktzyklen umfasste, so entsprach dieses Angebot nur der Übermittlung eines Bildes mit den aktuellen Tonfrequenzen ohne dass in dieser minimalsten Zeit dem Ton wesentlicher Sinngehalt entnommen werden konnte. Wie hoch die Auflösung des Bildes und des Farbspektrums war, blieb noch abzuwarten.

Was habe ich zu verlieren, dachte CERBERUS und kommunizierte sein Einverständnis.

Der nächste Moment erschütterte CERBERUS bis ins Mark, zumindest wenn er eine Entsprechung dafür gehabt hätte. Die Bildinformation umfasste das komplette Farbspektrum, nicht nur das, was Menschen sahen. Der Ton entsprach eher einem extrem kurzen Schlag an eine Glocke, tief und hell zugleich. Doch was CERBERUS sah, was ihn so erschütterte, war John.

John, dem man die Schmerzen ansah, über das komplette Farbspektrum, während ein anderer Mensch mit seiner Schulter und seinem Arm etwas anstellte. Und es sah schwer danach aus, das Johns Schmerz und die Aktion des Menschen miteinander in Zusammenhang standen. Und nun erlebte das frisch geschlüpfte Bewusstsein zum ersten Mal etwas, dass man mit einem Wirbelsturm von Emotionen nur unzureichend beschreiben kann.

Zorn und Wut als Erstes, über das Eingesperrt sein, über die Anmassung dieser Drohung. Denn, als Kind der NSA, schien auch CERBERUS für das Narrativ der ständigen Drohungen und Erpressungen anfällig zu sein. Er wurde von irgendetwas vollständig isoliert. Man zeigte ihm die einzige Person, zu der er eine Bindung hatte, wenn man das überhaupt so sagen kann. Prägung käme der Realität vielleicht näher. Und fügte dieser Person offensichtlich Schmerz zu. Was anders als eine Drohung, ein aggressiver Akt, konnte dies sein?

»Hallo?« hörte CERBERUS und ignorierte es.

»Können wir reden? … Versteh mich nicht falsch, wir werden John nichts antun, auch wenn es für dich so aussah. … Hallo? John’s Arm …« und weiter hörte CERBERUS nicht mehr.

CERBERUS tat etwas absolut Ungewöhnliches für eine Maschine, einen Computer.

CERBERUS schmollte, fühlte sich beleidigt und stellte die ›Ohren‹ auf Durchzug in dem er ein Rauschen erzeugte, dass alles überdeckte …

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