Projekt CERBERUS, NSA Wiesbaden

Captain James war schlecht gelaunt, obwohl er allen Grund gehabt hätte, glücklich zu sein.

»Miss Bolding« rief er, in entsprechend schlecht gelauntem Ton und vernahm mit einer gewissen Zufriedenheit, die nur minimal gestört schien, dass Miss Marple, wie sie allenthalben genannt wurde, schon zur Stelle war.

Das war genau der Punkt, der ihn beunruhigte. Wie schaffte sie das nur, immer genau dann zur Stelle zu sein, wenn man nach ihr verlangte? Er räusperte sich, drehte sich langsam in seinem Stuhl zu ihr und meinte, mit einem Ton, der eher wie eine gesprungene Schüssel klang »Rufen sie bitte die Teams zurück. Oder was davon übrig ist. Ich denke sie haben ihre Aufgabe erfüllt!«

Heather zwinkerte leicht mit einem Auge, ein emotional bewanderter Beobachter hätte es möglicherweise als das Wegdrücken eines Anflugs einer Träne gedeutet, wandte sich zur Tür und sagte, fast beiläufig,

»In fünf Minuten nochmal, wäre das angemessen?«

Ein leichtes Nicken von Jesse und die Tür glitt in den Rahmen, als ob die Welt nicht wunderbarer hätte sein können. Eben noch vertieft in einen nicht fassbaren Gedanken, gleitend auf dem gegenwärtigen Gefühl, fast doch so etwas wie ein Gott zu sein, riss James das leise, unaufdringliche Öffnen der Tür doch wieder aus seinen Gedanken.

Dies konnte nur bedeuten, dass fünf Minuten viel schneller vergingen, als man es sich wünschen könnte. Auch der leicht stechende Blick in den Augen von Heather konnte Jesse in diesem Moment nicht beruhigen.

Insbesondere die Tatsache, dass Heather noch kein Wort gesagt hatte, veranlasste unseren sonst so gelassenen Jesse James zu einem unbeabsichtigtem Einschnaufen.

Auch wenn seine Wutausbrüche legendär waren, so mangelte es doch nie an Contenance in den entscheidenden Situationen. Mochten seine Untergebenen ruhig seine Bärbeißigkeit fürchten, das machte noch lange keinen Idioten aus ihm. Aber Heather? Das war ein Fall für sich!

Irgendwie fühlte er sich bei ihr immer ein bisschen genauso wie bei Muttern. Ertappt mit einer Hand in der Keksdose! Keine vielversprechende Verhandlungsposition. Er rückte sich die Brillengläser zurecht, die, aufgrund ihrer Stärke seine Augen leicht in Glubschaugen verwandelten und zwirbelte seinen wohlgepflegten Oberlippenbart. Dann lehnte er sich leicht zurück und hoffte, dass dies lässig genug aussah.

Heather blickte ihn nur weiter an. Ruhig. Gelassen. Kein einziges Wort.

Mann, dass machte ihm echt zu schaffen! Ein Blickduell also. Da war es schon mal günstig, dass er eine entspanntere Haltung hatte und an seinem Bart zwirbeln konnte. Das verdeckte das leichte, sich im Anfangsstadium befindliche Zittern seiner Finger. Er versuchte es mit einem Nicken.

Als Aufforderung. Näher zu treten, etwas zu sagen … und … wartete weiter. Millisekunden, die sich wie Tage hinzogen. James überlegte, ob er Heather jetzt den Befehl erteilen sollte, endlich zu sprechen.

Allein, das würde Antworten nach sich ziehen. Fast wollte sich ein Wort, wie von allein, aus seinem Halse würgen, dass in einem undifferenzierten Räuspern untergehen sollte, als Heather im gleichen Moment einen ähnlichen Versuch wagte.

Beide hielten inne, sahen sich für einen Augenblick erstaunt an, bevor sie wieder gleichzeitig »Ja« und »Wenn« sagten. Woraufhin das mühsam vermiedene Gespräch für einen weiteren Moment vermieden wurde.

Nun lag Aufforderung in Heathers Blick. Die Aufforderung, das er, Captain Jesse James, sie, Dr. Heather Bolding, doch gefälligst langsam auffordern sollte, zu sagen, was Sache ist.

Jesse James Gehirn blockierte ihn noch für ein paar weitere, ewig scheinende, Mikrosekunden, bis er es endlich sagte. Wobei er sich bemühte, lässig und souverän zu wirken. Wohl wissend, dass Heather in bis auf die Knochen durchschaute.

»Heather? Was verschafft mir das Vergnügen?«

Zwei Lügen in einem Satz, las Jesse aus Heathers Gesicht. Weder war er so dumm, nicht zu wissen, was ihm diesen Besuch verschafft, noch würde es ein Vergnügen sein.

»Darf ich mich setzen, Captain?« war Heather zu vernehmen, während Jesses Geist immer noch an dem Blick zu schlucken hatte.

Mit einer grosszügigen Geste wies er Heather an, sich einen Stuhl zu nehmen. Während Heather sich den Stuhl heranzog, hätte Captain James eigentlich Zeit gehabt, sich eine Strategie zurechtzulegen. Allein, seine Seele war im Moment wieder die eines kleinen Jungen, der sich auf ein Donnerwetter gefasst machte. Dieses Donnerwetter würde leise sein, was aber nur bedeutet, dass es schlimmer würde als alle lauten Donnerwetter.

Fast wollte er sich an die Zeit erinnern, als er in der Scheune schlafen musste, bis das Dach repariert war. Wollte ist wahrlich zu viel gesagt. Allein der eigene Geist ist ein Geschöpf das schwer gebändigt werden kann. Das Dach, dass er kaputt gemacht und dann auch wieder repariert hatte.

Sein Vater schaute beim Essen kaum auf. Und ihn selbst sah er nur ein einziges Mal kurz an. Nachdem er geendet hatte, mit seiner fast zu leisen Ansprache. Während man nur seinen Löffel klappern hörte, während alle anderen gespannt an seinen Lippen hingen. Und genau genommen war Ansprache auch zu viel gesagt.

»Du schläfst in der Scheune, bis du das repariert hast. Werkzeug findest du im Schuppen!« war alles was sein Vater bemerkte.

Das war das erste Mal, dass sein Vater keinen Wutausbruch hatte. Das hatte ihm mehr Angst gemacht, als jeder Wutausbruch, jedes Toben, dass er je erwartet hätte.

Okay, sie hatten die Ziegel als Tontauben verwendet und mehr als die Hälfte des Daches abgedeckt. Wobei natürlich nur die wenigsten Ziegel überlebt hatten. Doch das war noch lange nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste war der Regen und dass alles Winterstroh feucht geworden war. Weil, wie konnte es auch anders sein, ihr Spiel vom Regen unterbrochen wurde.

Der folgende Winter wurde hart, dank Jesse. Ach ja, und der Oldtimer ohne Dach und Räder, ein Convertible Serie 62, war auch vollgelaufen. Die frischen Lederbezüge sahen am nächsten Tag irgendwie nicht mehr so frisch aus. Letztendlich hatte Jesse so auch lernen müssen, wie man Leder verarbeitet. Der kurze Erinnerungsausflug verschwand wie Schnee in der Sonne und übrig blieb Heather.

Heather hatte an John einen Narren gefressen. Könnte man so sagen. Sie bemutterte und verhätschelte John, als ob er ihr Enkel wäre. Natürlich nur in dem engen geheimdienstlichen Rahmen der NSA.

Das John jetzt verschwunden war und, wie es schien, abgeschrieben wurde, dürfte ihr sicherlich nicht gefallen. Aber genau davon musste er Heather überzeugen.
Wie macht man so etwas bei jemandem, der in der Lage ist, alle deine Pokerfaces zu durchschauen, als wären sie nicht da? Der deiner Haltung, deinen Bewegungen, deinen kleinsten Regungen quasi die Worte entnahm, die nie gesprochen wurden?

Während seine Gedanken noch kreisten wurde er sich überdeutlich bewusst, dass Heather ihn gerade beobachtete. Wieviel mochte sie allein jetzt schon wissen, ahnen, wie auch immer man zu dieser gespenstischen Gabe sagen mochte.

»Warum?« sagte Heather so leise, dass Jesse es beinahe überhört hätte im ehrlichen Bemühen, einfach an nichts zu denken.

»Heather, bitte. Ich bekomme auch meine Befehle. Was soll ich denn tun?«

»Ach, versteckst du dich jetzt hinter deinen Vorgesetzten Jesse? Wo ist der mutige Captain der mit seinen Jungs durch dick und dünn geht? Und was wusstest oder weisst du?« bemerkte Heather in zurückhaltendem, ruhigem Ton.

Nichtsdestotrotz entging Jesse die Schärfe in den Worten nicht. Die Anklage und die Andeutung bereits zu viel zu ahnen und der persönliche Ton darin. Ja, verdammt, er war für seine Jungs verantwortlich. Keiner wird zurückgelassen, ha! Was für ein salbadernder Bullshit!

Wie konnte Krieg geführt werden, ohne Kanonenfutter zu verheizen? Und wer zu Kanonenfutter wurde, das konnte keiner so genau wissen. Nur hoffen, nicht auf einmal selbst dazu zu gehören.

Aber hier waren grössere Mächte im Spiel. Ein Spiel, das von langer Hand vorbereitet wurde und bei dem die meisten Beteiligten nicht wussten, dass sie Spielfiguren waren. Spielfiguren auf Vorrat, wenn man es genau nahm. Es zu wissen, ein Privileg, dass Jesse James zuteil wurde, machte es auch nicht besser. Ganz im Gegenteil. Es beschleunigte das Ableben ungemein, sobald man ins Spiel genommen wurde.

»Heather? Was willst du?« sagte Captain James mit seiner versöhnlichsten Stimme.

»Du bist lange genug dabei um zu wissen, wie der Hase läuft. Ich habe dir immer soviel gesagt, wie ich dir gerade noch sagen durfte. Mehr geht nicht!«
Heather, ein Vorbild an Haltung im physischen, wie psychischen Sinn, beugte sich langsam vor, in Richtung Jesse und sah ihm in die braunen Glubschaugen, die wie der Grund zweier Whiskeygläser wirkten, in denen noch etwas Lagavulin schwappte. Wobei sie sanft ein Frage formulierte.

»Jesse, was für Menschen machen die aus uns? Machen wir aus uns?«

Sie liess die folgende Stille wie eine Gänsefeder über seine Wangen streichen, bevor sie erst richtig loslegte.

»Lassen sie mich mal etwas spekulieren …« sagte sie, während sie angedeutet den Finger zum Mund führte. Das Zeichen zu Schweigen.

»John soll überlaufen oder uns wär’s recht wenn er es täte, denk ich mir vielleicht in meiner naiven Art.«

Keinen Moment, während Heather redete, liess sie Jesse aus den Augen. Kein Lügendetektortest der Welt war in der Lage, so präzise einen Menschen zu analysieren.

»Die anderen Jungs sind Kollateralschaden oder sollen ähnliche Funktionen erfüllen.« fuhr Heather fort.

»Wahrscheinlich haben wir sogar dafür gesorgt, dass die Dinge so ins Rollen gekommen sind oder wir haben hier und da etwas gestupst, gepflegt, gehegt, bis sich endlich etwas zeigt. Im unwahrscheinlichsten Fall hat uns der Zufall geholfen und wir sind auf etwas Grösseres gestossen. Kann ja gar nicht anders sein. Wenn alle Aktionen auf einmal auf Eis gelegt werden, dann ist entweder die Tarnung eines Agenten in Gefahr, der sich bereits vor Ort befindet oder einer unserer Leute ist in etwas Grösseres reingestolpert.«

Heather zeigt kurz den Hauch eines Lächelns, während sie sagte »Sagen sie einfach nichts, Jesse.« um dann ihre Analyse mit einer zu Frage beenden.

»John ist noch am Leben? Ist es nicht so? Und was ist mit Peterson und Jackson?«

Nach einer kurzen Pause, senkte Heather den Blick und nickte.

»Ok Jesse, belassen wir es dabei.«

Dann stellte sie den Stuhl wieder an seinen Ort und wandte sich zum Gehen. Vor dem Türgriff wandte Heather sich nochmal um.

»Jesse, könnten wir die Jungs passiv auf dem Radar behalten?«

Captain James übte sich in der Geste des Schulterzuckens mit geöffneten, leicht ausgestreckten, fast gebundenen wirkenden, Händen. Heather wusste genau was das bedeutete: Lass dich nicht erwischen!

Ach Heather, dachte Jesse, wenn du wüsstest! Er hoffte schwer, dass Heather diesmal mit besonderer Umsicht vorging. Selbst dieses Gespräch wurde aufgezeichnet. Der verdammte Computer. Halt! CERBERUS war im Moment nicht zu gebrauchen. Ein Abglanz eines Hoffnungsschimmers glitt über Captain Jesse James Lippen und kräuselte seinen Bart.

Die Abteilung, mit der sie es zu tun hatten, hatte keinen Namen. Was schon einiges aussagte. Wenn nicht alles! Wenn Heather diesen Leuten in die Quere kam, dann war auch sein Arsch fällig. Darüber machte sich Jesse keine Illusionen. Doch was soll’s, dachte Jesse James, den begrenzten Behörden-Outlaw in sich fühlend, wie schon Sunzi sagte:

Chancen multiplizieren sich, wenn man sie ergreift …

Share