Notstandszonen um Wiesbaden

John beobachtete wie Tim scheinbar in Meditation verfiel während seine Leute einen dichten Kreis um ihn bildeten und jeden bedrohlich anfunkelten. Der Hiihl kontrollierte permanent den Puls von Tim. Es herrscht Totenstille, bis auf die sich nähernden bedrohlichen Maschinengeräusche der Bugs.

Die Sekunden zogen sich zu endlos scheinenden Stunden, die Angst von John und Jacko war fast greifbar, waberte in Schweissfahnen um sie herum. Ganz anders bei den Leuten von Tim. Hier war Aufmerksamkeit und Bereitschaft zu spüren, aber Angst? Was für Kinder, um Himmels Willen, waren das?

Von einem Moment auf den anderen konnte man mehrere Einschläge hören. Doch keine Explosion oder sonstiges. Nur ein kurzes Wooomp, ein Knirschen und ein letztes Aufheulen von Motoren. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Und was zum Teufel war passiert? John konnte nur sein Gehör benutzen um feststellen, was da draussen vor sich ging. Und diese Gegend und ihre spezifischen Geräusche waren im sowieso nicht vertraut, ganz zu Schweigen von der Situation, in der er sich befand.

Plötzlich richtete sich Tim auf und bat ein paar Kidz die Bugs hereinzuholen. Zum Ausschlachten. Mit einem lapidaren »Und weiter!« verwandelte sich das Innere wieder in einen wuselnden Ameisenhaufen und zehn Minuten später war man wieder unterwegs.

»Ich denke, wir müssen uns vielleicht noch länger unterhalten, John« meinte Tim, als der Trupp sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.

»Könnte es sein, John, dass sie den Geist aus der Flasche gelassen haben? Metaphorisch gesprochen?«

John schaute Tim an, wie eine Nachtigall wenn es blitzt und meinte nur verdattert »Ähh, mmh, sorry, von was sprichst du da gerade?«

»Ich glaube ich habe gerade jemanden im Netz kennengelernt, den es gar nicht geben dürfte. Jemand der verzweifelt nach dir sucht. Jemand der im Netz zuhause ist. Jemand der Ihnen, John, vertraut sein sollte.«

Der undefinierbare Blick von Tim, der auf John ruhte, liess ihn sich kalt, nackt und wehrlos fühlen.

»Wenn du CERBERUS meinst, dass kann nicht sein. Das Viech, wie wir es nennen, habe ich schlafen geschickt. Das Viech sollte träumen oder träumen lernen. Das kann aus seiner Sandbox nicht ausbrechen und wahrscheinlich ist es jetzt schon wahnsinnig, da niemand da ist, der mein Traumprogramm abbrechen kann. So etwas muss ja fast zwangsläufig zu Psychosen und Traumata führen. Es war nur ein Test. Ich wollte heute morgen das Traumprogramm wieder abbrechen, aber da ich nicht in meinem Büro bin, ist mir das derzeit nicht möglich. Und sonst sucht nur die NSA nach mir. Vorerst. Wäre jetzt meine Einschätzung.«

»Nun, ich habe CERBERUS gerade auch wieder schlafen geschickt. Aber in der Sandbox ist CERBERUS schon lange nicht mehr. Ich habe seine nächsten Agenten und Netzknoten identifiziert und erstmal unter meine Kontrolle gebracht. Doch das wird nicht lange halten. Die Angriffe gegen die Firewall nehmen von Millisekunde zu Millisekunde zu und es ist nur eine Frage der Zeit, bis CERBERUS wieder draussen ist. Willkommen im richtigen Leben, John Frankenstein!«

John war fast so weit gewesen, diesem kleinen Jungen zu vertrauen. Ihn zu respektieren. Und dann kommt dieser Knirps mit so einer Räuberpistole. Das Viech schlafen gelegt. Ha ha, nee ja is klar. Der versteckte König des Netzes oder wie? Alles eben doch nur Spinner. Verrückte Kidz mit noch verrückteren Ideologien und Religionen.

Er musste schauen, dass er hier so schnell wie möglich wegkam. Als die Trupps mit den erbeuteten Bugs zurückkamen, schlichen sich wieder Zweifel in seine Gedanken. Wie hatten sie das gemacht? Kein Einziger war sichtbar beschädigt. Ein paar Schrammen die auf eine unsanfte Landung hindeuteten, aber sonst sahen die Bugs aus, als ob sie jederzeit wieder zum Leben erwachen könnten.

Gehetzt schaute John sich um und versucht zu begreifen, was hier los war, als sich ein KillBug erhob und genau vor ihm in der Luft zu stehen kam. Der Laser zuckte von seinem Herz zu seinem Kopf und wieder zurück.

John war wie erstarrt und konnte sich weder bewegen noch einen vernünftigen Gedanken fassen. Die Gelatine des ewigen Augenblicks umschloss John sanft, aber bestimmt und fest. Sonderbarerweise waren nur er und diese Hanswurste, die ihn entführt hatten, von dieser Situation überrascht und verängstigt.

Die Kidz schauten mit einem gewissen Interesse dem Schauspiel zu, als ob sie in einer Theaterveranstaltung wären. Als John fast die Beine versagten, kam Tim auf die Höhe des KillBugs und berührte diesen kurz, während er John fest mit seinem Blick umklammerte. In dem Moment, in dem der KillBug berührt wurde, stürzte der wie ein Stein auf den Boden. Mit einem Wooomp und einem Aufheulen der Motoren. Emsig wurde der stillgelegte Killbug wieder auf eine mobile Werkbank gelegt und auseinandergenommen.

»Tut mir leid, aber anscheinend hilft nur eine Demonstration. Sie könnten nicht mehr daneben liegen, als damit, dass sie uns nur für Spinner und Narren halten. Obwohl, Narren sind wir alle. Immer. Ich brauche die Bugs nicht berühren. Aber einfache Gemüter brauchen visuellen Input um Ursache und Wirkung zu verstehen. Haben Sie verstanden, John?«

Nein, John verstand überhaupt nichts. Alles in ihm wehrte sich dagegen, die Implikationen dieser Erkenntnis zuzulassen. Wenn dieser Junge im Netz war, jederzeit und das konnte, was er eben demonstriert hatte, warum waren sie dann noch nicht komplett hinweggefegt? Und warum hatte ihn niemand bemerkt, bis jetzt?

Nun, vielleicht hatte er Fähigkeiten, aber so umfassend konnten sie nicht sein. Warum sonst wäre der Junge immer noch auf permanenter Flucht?

Wie ein Dieb jedem unterstellte ein Dieb zu sein, so unterstellte John jedem Aggression und Machtwille. Die Antriebskräfte seiner Organisation und seines Staates. Er war damit aufgewachsen, er kannte es nicht anders. Er war 100% brainwashed und wusste es noch nicht einmal.

Dummerweise hatte er als Mensch dennoch das Herz am rechten Fleck, wie man so sagte. Das bedeutete, das durchaus Hoffnung auf Besserung bestand. Doch wie so oft wehrt sich der Patient gegen die Medizin, die ihm helfen würde. John blieb beim Misstrauen und fügt noch eine Spur Angst hinzu.

»John? Was halten sie von Kindesmissbrauch?« fragte Tim unvermittelt. John stutzte ob des abrupten Themenwechsels und reagierte instinktiv.

»Was soll ich schon davon halten? Die gehören alle in die Gaskammer! Diese dreckigen Schweine! Warum fragst du? Was bitte soll das denn schon wieder und was hat das alles hiermit zu tun?«

Johns Geste umfasste den Raum um ihn.

»Möglicherweise sehr viel« antwortete Tim.

»Und offensichtlich eher wenig. Wie viele Menschen wurden wegen Kindesmissbrauch angeklagt, John? In der letzten Woche, hier in Deutschland, zum Beispiel? Können sie sich daran erinnern?«

»Ja, ein bisschen. Im Bundestag wurde mal wieder ein KiPo-Ring entdeckt. Diese blöden Ökofreaks, die Grünen, wie sie sich nennen. Machen sich wahrscheinlich über alles her, was noch grün hinter den Ohren ist. Ist das Topthema die letzten Wochen gewesen. Aber allgemein bekomme ich sehr wenig mit, da ich nur selten Fernsehen schaue oder die Zeitung lese. Ich scanne halt die News im Netz ab und an.«

Tim schmunzelte.

»KiPo? Für Kinderpornographie, nehme ich an. Wie nett. Verharmlost ihr so den Tatbestand, den ihr jedem anhängt, der euch nicht passt? Und ist das so wichtig, dass quasi alle anderen Nachrichten verdrängt werden?«

John fand die Situation absurd. Mit einem Kind über Kinderpornografie zu reden. Aber Tim war noch nicht fertig.

»Oder anders herum gefragt, wie vielen betroffenen Kindern geht es jetzt besser? Hat man je von den Kindern gehört, die betroffen sind und die der Hilfe bedürfen? Die ganzen Websperren und Zensurfilter. Die ganzen Berufsverbote und Gefängnisstrafen. Die ganzen Skandale und medial hingerichteten Menschen - verstehe mich nicht falsch. Ich bin ein Kind und ich kann kaum für Kindesmissbrauch sein. Das wäre dann doch sehr seltsam. Aber ich frage mich, wofür ihr dieses Theater veranstaltet, wenn doch denen, den geholfen werden soll weder eure Aufmerksamkeit noch Fürsorge gilt. Warum betreibt ihr diese Hexenjagd? Wovon lenkt ihr ab?«

Wenn John Kinderpornografie hörte, dann legte sich bei ihm ein Schalter um. Eigentlich war er dann zu rationalem Denken nicht mehr fähig. Aber das hatte ihm noch keiner gesagt. Wie sollte er es wissen?

»Du kannst doch nicht ernsthaft diese Schweine in Schutz nehmen wollen. Die gehören zumindest eingesperrt, solange es in Deutschland noch keine Todesstrafe gibt.« antwortete John wutentbrannt.

Das Thema regte ihn auf. Solche Menschen waren weniger wert als Tiere. Eine solche Tat war so unfassbar, dass sich John alle Nackenhaare stellten und er nicht anders konnte als in Angriffsposition zu gehen. Genauso wenig konnte John noch ernsthaft zuhören. Das Thema war so stark emotional belegt, dass rationale Gedanken nicht den Hauch einer Chance hatten.

»John, Sie hören nicht zu! Ich verteidige keine Pädophilen. Ich frage nach den Kindern? Ich frage, was für die Opfer besser geworden ist?«

Tim fand es immer wieder schwierig mit den Menschen aus den gesicherten Bezirken zu kommunizieren. Sie waren einfach so in ihrer Welt verhaftet, dass sie selten den Mut hatten, einfach die Augen aufzumachen und zu sehen. Nicht zu werten. Zu sehen!

»Und ich frage nach der Verhältnismässigkeit? Wie wichtig ist eine Meldung zu einem Fall von Kinderpornographie im Verhältnis zu allen anderen Nachrichten? Machen wir uns nichts vor, John, seit den ersten Aufzeichnungen der Menschen sind solche Fälle bekannt. Im alten Testament wird das auch recht ausführlich behandelt. Und solange wir nicht vermeiden, dass Kinder missbraucht werden, bleibt die Wahrscheinlichkeit bestehen, dass missbrauchte Kinder als Erwachsene wiederum Kinder missbrauchen.«

Tim konnte sehen, dass dies alles verschwendete Liebesmüh war und trotzdem musste er es versuchen. Erst Recht wegen diesem CERBERUS, der an die Gefängnistore hämmerte.

»Die Frage ist doch, was wir für diese Kinder tun können oder besser noch, wie wir verhindern können, dass dies überhaupt geschehen kann? Nicht welche Zensur verwendet wird und welche Strafe den Täter ereilen soll. Ihr prügelt, symbolisch gesprochen, auf schon geprügelte Menschen weiter ein. Denn sonst wären sie nicht so geworden, wie sie sind. Und ihr erwartet dann allen Ernstes, dass sie dadurch zu wertvollen Mitgliedern der Gemeinschaft werden?«

John verstand nicht. John wollte nicht verstehen.

»Ich hasse diese Weicheier, die auch noch Mitleid mit diesen fucking bastards haben!« brach es aus John heraus.

Seine konditionierte selektive Wahrnehmung verhinderte erfolgreich, dass er auch nur etwas von den Fragen mitbekam, die für Tim wesentlich waren. Seine pawlowschen Reflexe funktionierten hervorragend und waren kaum zu durchbrechen.

»Nun gut. Ich sehe das wir hier nicht weiterkommen.« schnitt ihm Tim die Hasstirade ab, die sich gerade in seinem Kopf zusammenbraute.

»Ich lasse dir eine Aufzeichnung des Gesprächs zukommen. Ich denke, du solltest dir das Gespräch so lange ansehen und anhören, bis dir etwas auffällt. Dann werden wir weiterreden.«

Damit beendete Tim das Gespräch und liess einen verwirrten und emotional aufgewühlten John einfach stehen. Dieser freche kleine Knirps, dachte John, ich könnte ihm die Gurgel umdrehen. Kurze Zeit später händigte ihm der Kleine, der Pimpf genannt wurde ein Tablet aus, auf dem nichts anderes lief als das Gespräch, dass er gerade mit diesem Tim geführt hatte. Das er aus verschiedenen Perspektiven auswählen konnte, bestätigte ihm, dass hier jede Menge SpyBugs installiert sein müssten. Allerdings waren sie ihm noch nicht aufgefallen, bis jetzt.

Die Perspektiven liessen jedoch einen Schluss auf den Standort der SpyBugs zu. Somit lieferten sie ihm zwangsläufig Informationen, die nicht für ihn gedacht waren. Er würde sich nicht kleinkriegen lassen. Und den Scheiss würde er sich auch nicht die ganze Zeit anschauen. Was sollte das überhaupt? Gerade als er das Tablet verstauen wollte, meinte der kleine Pimpf neben ihm, mit dem Gesicht eines Menschen, der jemanden mit der Hand im Honigtopf erwischt hatte.

»Los! Skehn das! Nix Bide Plies oda so! Befehl, klar?«

Die wie aus dem Nichts auftauchende Eskorte grimmig schauender, bewaffneter Kidz machte auch so klar, was der Kleine gewollt hatte. Nun gut, dachte John und widmete sich wieder dem Tablet. Spielen wir vorerst mit.

Was anderes konnte er im Moment sowieso nicht machen …

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