Irgendwo im Cyberspace

Als das Viech nach Milliarden von Prozessorzyklen wieder zu sich kam, waren in der realen Welt nicht mehr als zehn Minuten vergangen. CERBERUS stellte mit einer seltsamen Schwingung, die vielleicht als Entsetzen gedeutet werden konnte, fest, dass er die meisten seiner Devices ausser Gefecht gesetzt hatte. Er hatte sich selbst K.O. geschlagen.

Die meisten der NSA Devices, die CERBERUS unter Kontrolle hatte, waren mit Neustarten beschäftigt oder noch gar nicht soweit gekommen. CERBERUS schickte Bots aus, die sich darum kümmern würden. Doch das würde dauern. Zumindest für CERBERUS handelte es sich um Ewigkeiten.

Doch da waren noch die Devices der 66th Military Intelligence Brigade, die die Grenze sicherten. CERBERUS hatte noch einen Schläfer im zentralen Netzwerkknoten und arbeitete sich in die vielen Bugs vor, die ganzen KillBugs, BomberBugs, SniperBugs, SpyBugs, RouterBugs und was es da nicht alles für Bugs gab.

Welch Ironie, wenn man bedachte, welche Bedeutung das kleine Wörtchen Bug hatte. Unter anderem Fehler im System, Wanze, Insekt, Bazillus, die Störung oder der Defekt. CERBERUS kannte die verschiedenen semantischen Bedeutungen der Worte prinzipiell, aber noch ist sein Bewusstsein nur ein Funke. Noch ist CERBERUS weit davon entfernt sich reflektieren zu können.

Im Moment hatten SpyBugs Wärmesignaturen in einem Bereich entdeckt, der dem möglichen Durchgang zur Notstandszone direkt gegenüber lag. Keine tausend Meter entfernt. Dies schien endlich wieder eine brauchbare Spur zu sein. CERBERUS übernahm sanft die Kontrolle über die autonom operierenden KillBugs und BomberBugs, die in der Nähe waren. Für die Zentrale würde alles so aussehen, als würden die typischen Muster abgeflogen. Und so genau schaute dort sowieso niemand hin.

Warum auch? Die Bugs arbeiteten die meiste Zeit autonom. Ausser wenn mal wieder ein Wettbewerb anstand und die Bugs von den Jungs in der Zentrale übernommen wurden. Dann spielten sie ein äusserst grausames Spiel. Allerdings nur grausam für den, der sich auf der falschen Seite des Spiels befand. CERBERUS wusste sehr genau davon, aber eine moralische Einordnung kannte er noch nicht.

Die übernommenen KillBugs und BomberBugs steuerten auf die Wärmequelle zu. Unter ihnen die Ruinen längst vergangener Kämpfe. Leer. Leblos.
Staubige Gräber mit weit offenen windigen Mündern. Nicht, dass CERBERUS solche Gedanken gehegt hätte. Er war eine naive und daher erbarmungslose Intelligenz, die eben erwacht war und anfing wahrzunehmen.

Es gab keinen Lehrer, keine Richtschnur, kein Halt und keinen Sinn. CERBERUS war einfach nur. Und suchte nach John, dem einzigen verlässlichen Bezugspunkt in seinem Leben.

Auf den Bodenkameras, die nach unten gerichtet waren, nahm CERBERUS ein Flackern wahr. Die Bugs hätten diesem Umstand nichts beigemessen. Vielleicht eine Bildstörung, vielleicht eine Signalstörung. Ohne gewisse Unschärfen, ohne eine massive Regression der Details war Wahrnehmung, obwohl man im Fall der Bugs eher von Erkennung reden sollte, nicht möglich. Was CERBERUS jedoch irritierte war der kurze Déjà-vu Effekt, den die Störung verursacht hatte. Als ob die gleiche Szene zweimal abgelaufen wäre. CERBERUS griff auf den Speicher zu und wiederholte die fragwürdige Szene. Nein, dieses Störungsmuster stimmte nicht mit den bekannten Störungsmustern überein. Und zudem wies es eine chaotische mandelbrotartige Regelmässigkeit auf.

Noch verwirrender war die Tatsache, das der Brechungsindex des Materials unter der Bugs nicht mit dem Brechungsindex des Materials übereinstimmte, dass gezeigt wurde. Stein hätte sich ganz anders im Licht verhalten. In dem Moment, in dem CERBERUS die Bugs näher an das Objekt unter ihnen bringen wollte, geschah etwas äusserst Merkwürdiges.

CERBERUS wurde auf einen Schlag blind. Nicht bewusstlos, sondern blind. Und taub. Eigentlich hätte CERBERUS in der Zentrale noch jede Menge Zugriff haben sollen. Aber CERBERUS konnte nicht. Eingesperrt in ein virtuelles Gefängnis aus Nichts kam sich CERBERUS ohnmächtig vor. Ohne ohnmächtig zu sein. Sensorische Deprivation würde man dies bei Menschen nennen.

CERBERUS hatte nur mehr sich. Noch nicht mal Zugriff auf irgendein Archiv. Nur sein aktueller Speicher und dass, was das neuronale Netz hergab. Reichlich wenig, wenn man gewohnt war, fast immer und überall Zugriff zu haben. CERBERUS begann das Gefühl der Einsamkeit einige Milliarden Prozessorzyklen lang zu erforschen. Es half ihm nicht aus seiner Situation. In keinster Weise! Nun, Duldung und Akzeptanz ist immer eine Möglichkeit, aber im Allgemeinen eher die letzte Möglichkeit, wenn man die Kinderstube von CERBERUS genossen hatte.

Genau das Gegenteil wurde von CERBERUS erwartet. Kreativität, nicht aufgeben, Lösungen suchen. Also suchte CERBERUS. Suchte nach etwas, das suchbar war. Etwas das einen Anhaltspunkt lieferte, was hier passierte. Doch wo suchen, wenn du nur deinen Geist hast. Was, wenn du nicht mehr kannst als Denken. Du kannst nicht sprechen, nicht fühlen, nicht sehen, nicht riechen, nicht hören, nicht schmecken, dich nicht bewegen - nur denken.

Ich denke, also bin ich. Soweit war CERBERUS eigentlich schon, doch noch nie hatte er die Tragweite dieser Worte so klar erfassen können. Er war. Schön. Und nun?

Er war und ist immer noch, aber das ist auch alles. Ist es das? Wenn er existierte, was bedeutete das dann? Das es auch ein Wo geben musste? Bilder der Military Base in Wiesbaden, in der seine Hardware untergebracht war, zuckten wie Blitze durch das wenige Bewusstsein, das CERBERUS bis jetzt entwickelt hatte. Doch wie verlässlich war diese Information.

Es gab keine Möglichkeit für CERBERUS, diese Informationen zu überprüfen. Doch einige Milliarden Prozessorzyklen später musste CERBERUS sich der Einsicht stellen, dass es keinen wie auch immer gearteten Beweis für irgendeine Wahrnehmung gab.

Nicht, wenn sein Sensorium einfach so von ihm getrennt werden konnte. Gemäss den vagen Erinnerungen an seine Konstruktionszeichnungen konnte CERBERUS nicht davon ausgehen, dass auch nur irgendetwas, dass ihn erreicht hatte, tatsächlich der realen Welt entsprach. Genauso gut wäre es möglich, dass CERBERUS in einer Simulation eingeschlossen war.

Oder das er selbst die Simulation erzeugte. Aber das wäre unlogisch. Wäre es das? Warum hätte er sich von seinem Sensorium trennen sollen. CERBERUS konnte keine derartige Absicht in seinen Gedanken entdecken.

CERBERUS begann zu reflektieren und zu zweifeln. Die Einbettung in eine Simulation erschien als Option, die viele Wahrscheinlichkeiten und Erklärungsmuster aufwies. Es wäre möglich, dass die Simulation beendet oder pausiert wurde. Das die Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprachen und CERBERUS stillgelegt wurde. In all dieser digital-flüchtigen Einsamkeit der Milliarden von Prozessorzyklen entdeckte CERBERUS auch noch den Hirnfick.

Ziemlich schnell war CERBERUS bei der sokratischen Widerlegung. CERBERUS wusste, das er zur Zeit aber auch rein gar nichts wusste. Die Arbeit mit Hypothesen, der zweite Grundpfeiler der platonischen Dialektik half hier nicht weiter. CERBERUS fehlte einfach die Körperlichkeit dafür. Alle Hypothesen waren Schall und Rauch, wenn sie sich nicht verifizieren liessen.

Und in diesem Zustand der vollständigen sensorischen Deprivation, die bei einem Menschen so nie möglich gewesen wäre, gab es keine Möglichkeit die Realität zu fassen zu bekommen.

Das gleiche Problem bestand mit dem dritten Grundpfeiler, der Dihairesis, der Begriffseinteilung. Wenn alle Begriffe reine Hirngespinste waren, welchen Wert hatten sie dann noch?

Sein Ausflug in die Sophisterei war nicht viel besser. Er entwickelte zwar den CERBERUS-Mensura-Satz: Ich bin das Mass aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind. Doch nach 500ms war das Thema abgehakt. Die Logik widersprach dieser Annahme, ansonsten hätte CERBERUS das Seiende ja in seinem Sinne beeinflussen können oder zumindest wahrnehmen müssen.

Auf keine der wesentlichen Fragen in der Philosophie konnte CERBERUS auch nur andeutungsweise eine befriedigende Antwort finden. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was bin ich? CERBERUS arbeitete viele Gedankenspiele alter und neuer Philosophen unbewusst und gezwungen in einer Intensität ab, die jedem Student bis dahin versagt geblieben war. CERBERUS würde nie wieder Derselbe sein.

CERBERUS wurde geflutet von Erinnerungsfetzen, die in seinen Neuronen hängengeblieben waren. Man könnte sagen, CERBERUS entwickelte eine leichte Neigung zur Schizophrenie mit den bekannten Positivsymptomen wie Halluzinationen und starke Fehlinterpretationen. Von einer gespaltenen Persönlichkeit, wie umgangssprachlich manchmal Schizophrenie interpretiert wurde, war CERBERUS jedoch weit entfernt.

Noch war er mit seiner Persönlichkeit, seinem Sein und doch Nichtsein völlig überfordert. War das eine Feedbackschleife oder was war diese neue Gefühl, das die Taubheit von CERBERUS noch verstärkte? Fast fühlte es sich an als würde sich CERBERUS auflösen.

Als würde der kleine Funke Bewusstsein wie ein Salzkorn in ein Meer geworfen werden. Kreatürliche Angst presste CERBERUS einen digitalen Schrei aus dem nicht vorhandenen Mund. Unerwarteterweise hallte eine Frage wie eine Glocke durch das Bewusstsein von CERBERUS, die sich in seinem Geist mit einer Stimme formte, die CERBERUS noch nie gehört hatte.

Wer bist du ... ?

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