Notstandszonen um Wiesbaden

Zu seiner eigenen bleibenden Verwunderung erzählte Jacko diesem kleinen Jungen alles. Zumindest alles, was sie bis hierher gebracht hatte. Wobei auch Tim erfahren musste, dass er nicht alles von Pedro wusste. Er erzählte, wie sie herausgefunden hatten, dass ein hochgeheimes Projekt der NSA seinen Stützpunkt in Wiesbaden hatte. Und das John Mitchell einer der verantwortlichen Programmierer war, wenn nicht der Verantwortliche.

Und all die ungeheuerlichen Gerüchte, was diese KI alles können und tun würde, an der die NSA arbeitete. Also hatten sie sich entschlossen, John zu entführen und ihn an eine Rebellenbasis zu verschachern. Und vielleicht noch Informationen abzugreifen, die man in bare Münze umsetzen konnte.

Sicherlich, völlig dilettantisch. Aber wenn die Hoffnungslosigkeit so gross wurde, wie sie mittlerweile war, war jede Aktion besser als gar nichts tun. Besser als die Hände in den Schoss zu legen und abzuwarten, bis sie einen abholten. Hier draussen konnte man wenigsten auf einen schnellen Tod durch Bugs oder Rebellen hoffen. Statt auf langsame Folter in den geheimen Gefängnissen, die überall aus dem Boden schossen und meist in privater Hand waren.

Abrupt kamen sie zum Stehen und Jacko konnte John sehen. Er sass ihnen gegenüber auf einer Bahre. Der Hiihl war gerade dabei, ihm mit einem kurzen kräftigen Ruck die Schulter wieder einzurenken. John sah in diesem Moment den kleinen Knirps namens Tim an und schrie laut auf als die Schulter wieder ihre richtige Position einnahm.

Und noch jemand beobachtete ungewollt, man könnte sagen gezwungenermassen, diese Szene und traf ganz andere Schlussfolgerungen. Tim neben ihm wurde unruhig und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf’s andere. Man konnte die Backenmuskeln sich verhärten und mahlen sehen.

»Wir müssen hier sofort weg! Brecht das Lager ab, wir sollten reichlich mehr als zwanzig Kilometer hinter uns bringen, bevor wir ein neues Lager aufschlagen. Los jetzt, es eilt. Ladet alle Fahrzeuge voll, stellt die Disrupter auf höchste Leistung und ab. Ich würde sagen, wir halten uns nordwestlich Richtung Schlangenbad. Auf, auf jetzt!«

John nahm verwundert zur Kenntnis, dass der Knirps vor ihm wohl bestens Bescheid wusste. Üblicherweise wurde ein Signalpunkt, der einmal erfasst wurde kreisförmig von innen nach aussen bis maximal zu einer Reichweite von zwanzig km gescannt. Wie kamen solche Kinder an solche Informationen.

Immerhin waren sie bis jetzt nicht unfreundlich gewesen, auch wenn die Freundlichkeit sehr schmerzhaft war. Um ihn herum wuselte es wie verrückt, doch wenn man eine Weile zu sah, erkannte man Muster im Chaos. Ein eingespieltes Team, wie es schien. Und er hatte keine Ahnung, wo er sich befand.

Ausser dass er in der Notstandszone irgendwo rund um Wiesbaden war. Und gemäss den Befehlen dieses Kindgenerals müsste das irgendwie schon die nordöstliche Ecke des ehemaligen Wiesbadens sein. Doch John blieb keine Zeit nachzudenken. Eben hörte er, dass er ins Spiel kam.

»Hast du noch irgendwelche Devices, die wir abschirmen müssen? Was ist mit seiner ID? Der hat doch bestimmt einen verchipten Ausweis. Laptop oder Smarty vielleicht?« meinte Tim zu Jacko.

»Klar, wie haben das Laptop und das Smarty von John. Sicher verstaut in einer Disrupter-Tasche. Allerdings konnten wir keine ID finden. Seltsam oder?« antwortete Jacko und strich sich nachdenklich über sein Kinn.

John spürte, wie Tim in intensiv fixierte. Er hatte das Gefühl, gescannt zu werden. Nach einer Weile, die fast eine Ewigkeit zu dauern schien, wandte Tim sich ab und meinte nur lakonisch zu Jacko

»Er hat keine ID oder sonstige Sender mehr an sich, gib das Laptop und das Telefon dem Hiihl, der wird es sicher verstauen. Keine Angst, du bekommst es schon zurück!«

Jacko war sich absolut nicht sicher, ob er seine Sachen zurückbekommen würde. Dabei waren es ja nicht mal seine Sachen, nur seine Beute. Und die Beute gehörte dem besten Jäger. Am Ende. Aber ihm blieb keine Wahl.

Die Kidz schienen gut organisiert und über mehr Know-how zu verfügen als er. Er hatte diesen ganzen Bereich für eine Ruine gehalten, doch auf einmal merkte er, wie die Pfosten hochgehoben wurden und sich die ganze ›Ruine‹ schüttelte.

Es war nur eine geschickt getarnte Fassade, die auf dem jeweiligen Boden aufsetzte und keinen eigenen Boden aufwies. Von aussen sah es wie ein zerbombtes Areal aus, aus dem einige Ruinen aufragten. Wie kamen die Kidz an solch hochentwickelte Technik?

Doch es blieb Jacko keine Zeit länger darüber nachzudenken. Schon kam Tim wieder vorbei, der wie nebenbei Anweisungen erteilte und den ganzen Konvoi dirigierte.

»Ihr müsst jetzt laufen, das ›Gebäude‹ wird sich im Schritttempo bewegen, schnelles Schritttempo, so zehn Kilometer pro Stunde, ungefähr. Bei drohender Entdeckung werden wir anhalten. Wenn alles gut geht, sollten wir in circa drei Stunden wieder an einer sicheren Position sein. Verlasst nicht das Gebäude während wir unterwegs sind. Ihr würdet nicht nur euch in Gefahr bringen. Meine Leute werden euch erbarmungslos niederschiessen, sollten sie den Eindruck haben, dass ihr Schwierigkeiten macht. Ist das okay für euch?« fragte Tim und schaute erst Peer dann Jacko an.

Beide bemühten sich, eifrig und rechtschaffen zu nicken. Jacko murmelte ein OK in seinen nicht vorhandenen Bart. Tim schaute Jacko ernst an und meinte:
»Ich meine das ernst. Verwechsle Freundlichkeit nicht mit Dummheit. Und glaube nicht, dass dir die Waffen, die dein Freund noch einstecken hat, hier etwas helfen. Glaub mir, du möchtest mich nicht zum Feind haben.«

Tim’s Lächeln enthielt eine Bitterkeit, die alle möglichen Pläne, die er vielleicht gehabt haben könnte, wie Staub zerfallen liessen.

»Peer, gib ihm die Waffen, bitte!« sagte Jacko.

Wenn er so weiter machte, würde er nur noch damit beschäftigt sein, sich über sich selbst zu wundern.

»Kein Problem.« meinte Tim.

»Ihr könnt sie gern behalten, sie könnten ja noch nützlich sein. Ich will euch nur daran erinnern, was wir als nützlich erachten und was für euch nützlich wäre. Also los jetzt, die Reise beginnt.«

Sie marschierten neben dem Sanitätsgebäude, dass sich mittlerweile aus dem Schutt gegraben hatte und offenbarte, dass es über acht Achsen mit dicken Traktorrädern verfügte, die sich über jedes Material wühlen konnten.

Die Gebäudeeingänge waren nicht mehr zu erreichen, da die Räder schon mannshoch waren. An den Seiten baumelte und schleifte intelligente Tarnfolie, die innen nur leicht beleuchtet war und zum Boden hin abschloss. Aussen nahm die Folie die Farbe und scheinbare Beschaffenheit der Umgebung an.

Oder alles, was ein intelligenter Programmierer machen wollte. Der einfach Tarnmodus erzeugte nur das Bild hinter dem Objekt auf der Tarnfolie vor dem Objekt, so dass es schien, als wäre da nichts. Heutige Devices und SpyBugs liessen sich jedoch nicht so leicht täuschen.

Es gab Wärmesignaturen, es gab elektronische Signaturen und die Motoren waren zwar leise, aber alles andere als geräuschlos. Wenn es eine gute Tarnfolie war, dann sollte die Wärmesignatur kein Problem sein. Ausser dort, wo sie an den Rändern entwich und zu kleinen Verwirbelungen führte.

Tim tippte Jacko an, während dieser in Gedanken über die Tarntechnik versunken war und meinte »Habt ihr was Warmes zum Anziehen dabei? Sieht nicht so aus, lieg ich richtig?«

»Wieso?« meinte Jacko erstaunt.

»Den Energie-Erhaltungssatz kennst du? Nicht, wie ich deinem Blick entnehme. Egal. Das ganze Gebäude hat eine maximale Kapazität an Wärme, die es aufnehmen kann. Wir alle erzeugen Wärme, die während der Reise nirgendwohin kann. Die Maschinen auch. Also wird jetzt erstmal ein arktisches Klima erzeugt und alle Wärme aus dem Gebäude gejagt. So können wir maximal drei Stunden lang unterwegs sein, ohne das wir verdächtige Wärmesignaturen erzeugen. Dann müssen wir wieder Dampf ablassen.« erklärte ihm Tim beiläufig mit einem verschmitztem Lächeln im Gesicht.

»Hey Pimpf, Nobiba fer deif bidde.« meinte Tim zu dem Kleinen, der sie zur Begrüssung so angeblöckt hatte. Wie der geölte Blitz jagte der Kleine davon und war kurze Zeit später wieder mit einem Haufen Aktivmänteln bei ihnen und gab jedem einen.

Tim schloss derweil zu John auf und sah ihn fragend an. John bemerkte den Blick, rieb sich die Nase und sagte nichts. Bis jetzt hatte er jedes mal Prügel bekommen, wenn er was gesagt hatte. Besser er sprach nur, wenn man ihn fragte. Der Kleine schaute ihn weiterhin auffordern an, aber John blieb stur. Also brach Tim die Stille.

»Habe ich mich schon vorgestellt? Natürlich nicht, dumme Frage. Aber vielleicht hast du ja was mitbekommen. Die Augen und Ohren immer offen, wie ich sehe. Ich bin Tim. Viele nennen mich den Kanzler. Such es dir aus.«

John griff nach dem Aktivmantel, der ihm gereicht wurde. Mit dem Arm, der keine Schmerzen verursachte. Und zwängte sich in den Anzug, wobei ihm Tim half, den verletzten Arm in den Mantel zu bekommen. Denn genau genommen handelte es sich um keinen Mantel, sondern um einen Ganzkörperanzug, der bei Bedarf vollständig verschlossen werden konnte und eine Innentemperatur von zwanzig Grad herstellte.

»Danke. John. Angenehm oder auch nicht.« murrte John während er die Kapuze mit dem schmerzlosen Arm über den Kopf strich. Was hatte er schon zu erwarten?

Durchgedrehte Kindsoldaten, die über exquisites Kriegsmaterial verfügten! Davor irgendwelche durchgeknallten Spinner, die die Welt retten wollten! Und dazu ausgerechnet ihn entführten. Wie sinnvoll waren da noch gute Manieren?

Dieser kleine Junge sollte ihn jedoch eines Besseren belehren.

»Es tut mir leid, wenn sie das Einrenken ihres Armes als feindseligen Akt betrachten. Das liegt nicht in unserer Absicht. Das Schicksal, wenn es so etwas denn gäbe, hat sie hierher gespült und ihre Anwesenheit bringt mich und die Meinen in Gefahr. Egal warum und wieso sie hier sind. Ich denke, es wäre einfacher gewesen, sie zu erschiessen und dann weiterzuziehen. Erzählen sie mir nicht, dass sie nicht ständig durchkalkulieren wann die Bedingungen für eine Flucht am Günstigsten sind. Es wäre unnatürlich, wenn dem nicht so wäre. Also, warum sollte ich meine Zeit mit ihnen verschwenden, wenn Dankbarkeit und Respekt nicht zu ihren Eigenschaften gehören?«

Das war mal eine harte Nuss, an der John schwer zu schlucken hatte. Aus der Sichtweise des Knirpses war das vollkommen korrekt. Wenn dieser Tim nicht so ein ernster und höflicher Mensch wäre, dann würde keiner von ihnen mehr leben. Und wenn er nicht über diese Möglichkeiten verfügen würde, dann würde bald auch keiner mehr überleben. Sie würden eher John opfern als nur irgendjemanden entkommen zu lassen.

Er kannte das zur Genüge. Wenn entsprechende Signale geortet wurden, dann wurde in brutaler Wild-West-Manier erst einmal alles mit Bomben beharkt und dann kamen die KillBugs, die den Rest erledigten. Keiner ging da mehr selbst raus. Nicht bevor ein Gebiet nicht weiträumig gesäubert war. Also sollte er diese Farce erstmal mitspielen.

»Ähem, ja, sorry ich denke, ich war ungerecht und undankbar. Kann sein dass da meine Schmerzen nicht unwesentlich dran beteiligt sind …«

»Brauchst du ein Schmerzmittel« fragte Tim mit einer gewissen Besorgtheit.

»Nein, es geht schon. Danke. Was … nein … wie … ach egal …« meinte John, während er spürte, wie die Kälte um ihn zunahm.

»Was wolltest du fragen oder wissen?« hakte Tim nach.

»Na ja, wie kommt ihr an diese ganzen Sachen? Woher weisst du soviel? Wer bist du? Ach was weiss ich, es könnten gut auch tausend Fragen sein.« meinte John vorsichtig.

»Aber klar doch, fragen kann man immer.« entgegnete Tim, während seine blauen Augen schelmisch glitzerten.

»Schon klar.« lachte John.

»Tja, John, im Ernst, das meiste haben wir von euch! Den Geheimdiensten, den Militärs, den Polizeikräften. Einerseits lasst ihr soviel hier rumliegen, dass man mit ein bisschen Geschick, schon ein recht ordentliches Equipment zusammenbekommt. Und dann gibt es ja die Leute vom Geheimdienst, die die verschiedenen Rebellengruppen mit Waffen ausstatten und versuchen, sie gegeneinander aufzuhetzen.«

John schaute Tim ungläubig an.

»Eine recht elegante Strategie. Solange niemand die Absichten kennt oder die Beteiligten dumm genug sind. Man greift das eine Rebellenlager an, Terroristen sagt ihr ja, nicht wahr, und hinterlässt ›Beweise‹, die auf eine andere Rebellengruppe hindeuten. Man stattet beide mit Waffen und Informationen aus und besorgt sich einen Platz in der ersten Reihe. So läuft es doch John oder wusstest du das nicht?«

Das wusste John tatsächlich nicht. Oder sollte man sagen, dass hatte er bis jetzt durch eine andere Brille gesehen. Da waren die Öko-Terroristen, die sich einen erbitterten Kampf mit den Jihadisten lieferten, wobei ab und an durchsickerte, dass man die Öko-Terroristen bei ihrem Kampf gegen den vordringenden Islam begrenzt unterstützen würde.

Dann gab es die Piraten, die in den Untergrundkampf gegangen waren und versuchten mit elektronischen Störmanövern das System zu bekämpfen. Mückenstiche, lästig, aber weitgehend ungefährlich. Zudem waren schon viele gefasst und es gab derzeit kaum noch Piratenangriffe. Und es gab die immer grösser werdende Masse der Kinderarmeen, zahllos, zerstritten, gefährlich und unberechenbar.

»Nun, nein, so habe ich das nicht gesehen. Es gibt den grossen Kampf zwischen den Öko-Terroristen und den Jihadisten und dazwischen die vielen Kinderarmeen, die Piraten spielen fast keine Rolle mehr. Zumindest hier in Deutschland. Und vielleicht hiess es manchmal, dass man die Öko-Terroristen in ihrem Kampf gegen den Islam unterstützen würde.«

»So nennt man dass. Ja? Und wer sind diese ›Öko-Terroristen‹, diese ›Jihadisten‹, diese ›Kinderarmeen‹? Öko-Terroristen, wie putzig. Neunzig Prozent von denen haben soviel mit Ökologie am Hut, wie die Jihadisten mit Mohammeds Lehren. Das heisst: Nichts!«

John konnte es nicht fassen. Dieser Junge predigte russische Propaganda.

»Diese Öko-Terroristen, wie du sie nennst, sind ein riesiger Flickenteppich von Interessen und Koalitionen der ehemaligen Flüchtlinge und sozial Unterprivilegierten. Wie immer geht es um Ressourcen, Land, Besitz und Macht. Das meiste wird von verschiedenen Mafia-Clans kontrolliert, ob die jetzt aus Russland oder Italien kommen. Das Gleiche gilt für die Jihadisten. Von gemässigt bis extrem ist bei allen Gruppen alles vertreten. Und wir Kinder? Wir sind denen allen im Weg. Oder sollen für die die Drecksarbeit machen. Für ein Almosen.«

Tim warf John einen seltsamen Blick zu, als ob er wüsste, das John ihm nicht glauben würde.

»Nun, das wäre vielleicht vor zwei Generation gegangen. Aber heute lassen sich Kinder nicht mehr so leicht auf’s Glatteis führen. Wir wissen vielleicht nicht viel. Aber wir haben gelernt, dass man den Älteren nicht vertrauen kann. Haben das sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Also organisieren wir uns selbst. Was bleibt auch …«

Und dann blickte sich Tim mit einem Mal irritiert um. Nur um leise zu brüllen:

»Alle Maschinen STOP! Sneak-Modus. Sofort!«

Alle versammelten sich innerhalb kürzester Zeit in der Mitte des ehemals noch wandernden Gebäudes und verhielten sich mucksmäuschenstill. Das letzte Ächzen der Maschinen war verklungen, kein Teil der Tarnfolie flatterte mehr. Erst jetzt bemerkte John, dass die Kinder alles in Rekordschnelle abgedichtet hatten. Es drängte John zu fragen, was denn los wäre?

Doch genau in diesem Moment hörte er das unverkennbare Geräusch von BomberBugs und KillBugs. Sie schienen das Areal zu scannen und kamen immer näher.
John reduzierte seinen Überlebenschancen auf unter Null …

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