Lutherstrasse 7, Wiesbaden

Willy verstand die Welt nicht mehr. In dem Moment wo Alex aufstand, ging irgendwie die Hölle los. Alex versuchte sich auf den Mann neben Peterson zu stürzen und Willy sah gerade noch, wie Alex irgend so ein Gerät aktivierte. Da war ein grünes Licht und dann war es rot.

Zudem zog dieser Mann gerade eine Waffe. Alex in Gefahr! Das konnte Willy nicht zulassen. Willy erhob sich vollends in all seiner archaischen Pracht. Er stiess den Tisch wie auch sämtliche Tischgenossen weg und marschierte wie ein Panzer auf den unbekannten Mann mit Waffe zu. Er hatte jetzt nicht mehr die Absicht, etwas über den Ausweis zu erwähnen. Im selben Augenblick riss dieser Mann die Waffe herum und feuerte.

Dann senkte sich Dunkelheit über Willy. Als er das erste Mal für Sekunden bewusst wieder zu sich kam, war die Zeit zu knapp um seine Situation zu ermessen. Das einzige was in ihm aufblitze, war der seltsame Gedanke »Leb ich noch?«

Die meisten vertrauen zu sehr der Macht ihrer eigenen Illusion. Was Komplikationen mit der Realität unvermeidlich macht.

Alex hatte in dem Moment, in dem er aufstand, die Illusion, dass er den Ablauf der Dinge noch in irgendeiner Weise hätte verhindern können. Beeinflussen, sicher, aber verhindern? Dinge gerieten ausser Lot und wohin die Wellen schwappten vermochte niemand zu sagen.

Jeder dauerhafte WG-Bewohner oder Gast, dem vertraut wurde, Willi gehörte da nicht dazu, hatte ein kleines Feuerzeug. Mit dem man die Abschirmung in der Küche aktivieren konnte. Herbert war von je her ein paranoider Charakter. Aufgrund »seines« Reichtums konnte er es sich leisten, seine verrückten Ideen auszuleben.

Fast ein ganzes Jahr hatte die Grundbesetzung im Wohnzimmer, das selten benutzt wurde, eine Ersatzküche aufgestellt. Campingatmosphäre mit Eintopf über einer mickrigen Gasflamme. Die anfallende Menge an Bierflaschen aufgrund der staubigen Umbauarbeiten, erforderten es sogar, dass Planken über das Meer aus Flaschen und Müll gelegt werden mussten.

Dabei war das ein völlig hirnrissiger Plan, und keiner wusste, ob es wirklich funktionieren würde. Ein Miniexperiment mit einem auf 38 Grad erhitzten Donut ergab das dieser per Infrarot und handelsüblicher Wärmekamera nicht zu orten war. Als Herbert seine herbertayschen Käfig dann auch noch unter Strom setzte und das Smarty da drin nicht mehr zu orten war, war man sich einig, dass das Prinzip funktionierte.

Mit handelsüblichen Methoden, wohl gemerkt! Und Herbert dachte sich, dass es reicht, wenn man den zentralen Raum, die Küche, was sonst, so abschirmen könnte. Nur für den Fall der Fälle. Es war ebenfalls eine Illusion von Herbert, dass dieser Fall gnädigerweise so wie so nie eintreten würde.

Leg jemandem eine Waffe in den Schrank und warte. Irgendwann wurde sie verwendet. Na klar, man musste die Waffe vielleicht öfter reinlegen, weil irgendwelche dogmatisch-konservative Menschen, die Waffe vielleicht vergruben oder zerstörten. Aber wenn Zeit keine Rolle spielte? Auf die Dauer blieb immer mehr als einer in den klebrigen Netzen der Neugier hängen. Zumindest bei Menschen schien das symptomatisch.

Wie auch immer, der Plan von Herbert funktionierte. Leider, sollte man fast sagen. Nicht dass die Abschirmung an dem Schuss auf Willy Schuld war. Nein, das war der Einfluss, den Alex auf das hilfsbereite naive Gehirn von Willy ausübte.

Sehr schnell wurde den beiden Agenten von der NSA ebenfalls klar, was hier gerade passiert war. Dummerweise kam diese Situation den beiden nicht ungelegen gelegen. Für die Welt draussen waren sie ein schwarzes Loch. Keiner würde erfahren, was genau hier passiert war. Zumindest gingen sie noch davon aus.

Das machte es für Willy nicht besser. Er bekam nichts mit von dem Tohuwabohu, dass um und wegen ihm tobte. Gegenseitige Beschuldigungen, Rumgeschreie und fast jeder in affenartiger Drohhaltung. Nur Alex, dem dämmerte wie es soweit kommen konnte, war in sich zusammengesunken.

Ein weiterer Schuss in die Decke führte zu einem Moment der Ruhe. Peterson war nicht daran gelegen, die Sache weiter eskalieren zu lassen. In diesem kurzen Moment des Erschreckens hörte alle Petersons Stimme hereinplätschern.

»Ist hier jemand Arzt oder Sanitäter? Kann mal jemand den Erste-Hilfe-Kasten holen, falls ihr hier so etwas habt? Wir wollen doch nicht das dieser Mann stirbt, oder? Los, packt an und legt ihn mal auf den Tisch!«

Willy stöhnte auf, während sie ihn auf den Tisch hievten. Jackson inspizierte ihn kurz und sagte »Glatter Durchschuss. Sauber verbinden, dann wird er schon wieder.«

Susanne wühlte derweil in der Kommode, in der Medikamente und Verbandsmaterial verstaut waren, nach Desinfektionsmittel und brauchbaren Verbänden, sowie Tupfern.

»Was machst du da?« fegte sie Jackson an.

Susanne fuhr wutentbrannt herum und giftete zurück.

»Hat ihr Kollege nicht gerade nach Verbandsmaterial und jemand mit entsprechender Ausbildung gefragt? Ich bin Krankenschwester und suche nach Verbandsmaterial. Wir haben das ganze Zeug hier. Wollen sie es vielleicht selber raussuchen? Oder wollen sie mich solange von der Arbeit abhalten bis Willy verblutet? Sichern sie lieber ihre Pistole, sie dämlicher Revolverheld!«

Peterson nickte Jackson zu und Jackson schluckte seinen Ärger herunter. Mit Argusaugen beobachtete er jedoch weiter, was Susanne so tat. Peterson hatte auch seine Waffe gezogen und winkte den Rest der Mannschaft mit der Pistole in eine Ecke des Raums um sie besser im Blick zu haben.

Das Murren und Meckern hob wieder an, höchste Zeit für Entspannung zu sorgen. Allerdings verstand Peterson etwas anderes darunter, als Herbert und seine WG-Mitbewohner und Besucher.

»Jeder sucht sich einen Stuhl. Abe, vertäue die Leute auf ihren Stühlen. Und wer jetzt noch Theater macht bekommt einen Knebel! Hab ich mich klar ausgedrückt?«

Der letzte Satz war nicht geschrien, sondern bedrohlich leise geäussert. Was eine viel stärkere Wirkung entfaltete, als wenn Peterson rumgeschrien hätte. Jeder setzte sich brav auf einen Stuhl, während Jackson einen nach dem anderen mit Plastikhandschellen an die Stühle kettete.

Willy wurde durch den Schmerz, den die Reinigung der Wunde verursachte, wieder für kurz ins Bewusstsein gerissen. Er bemerkte gerade noch den besorgten Blick von Susanne, bevor er instinktiv nach der Seite geschlagen hätte, die den Schmerz verursachte.

»Wa … was?« war alles was er herausbrachte und schon senkte sich wieder der Vorhang des Vergessens vor seinen Augen, während ein pelziges Gefühl sich sirrend über seinem Kopf und Körper ausbreitete. Jackson hatte das Zucken bemerkt und fesselte erbarmungslos auch Willy, der aufjammerte, weil der Schmerz in abwechselnd K.O. schlug und weckte.

Es ist einfach, Menschen zu kontrollieren. Gib jemandem Spielzeug und die Illusion einer Welt da draussen und keiner wird die Zelle bemerken, in der er sitzt! Wie sagte doch Mark Twain einmal »Es ist leichter einen Menschen zu täuschen, als ihn davon zu überzeugen, dass er getäuscht wird.«

Doch sperre jemandem von allem aus und alles kann sich ändern. Wenn der Vorhang der Illusion fällt, kann man nicht mehr voraussagen, wie jemand sich verhalten wird. Peterson war viel zu sehr in seiner Welt, um zu bemerken, was er verursacht hatte und verursachen würde.

Währenddessen dämmerte Willy dem Bewusstsein entgegen, verfolgt von wilden Träumen. Alex, der ihn von innen auffrass, Herbert der ihn stützte, während er einem riesigen Saurier zu entkommen versuchte und immer wieder Gesprächsfetzen. Wo John wäre, wie sie an den Ausweis gekommen wären? Doch die Hilfsbereitschaft hatte sich verflüchtigt wie ein kleines Feuer im Freien, dass von der Eiszeit überrollt und von Mammuts niedergetrampelt wurde.

Warum durfte Willy nicht sagen, woher der Ausweis war? Was sollte das überhaupt? Alex hatte gesagt, er solle Herbert beobachten und schauen was er rausfinden kann. Es war schon wahr, Herbert war die letzte Zeit nicht gut drauf und besonders auf Alex nicht gut zu sprechen. Aber es war doch seltsam einem Freund hinterher zu spionieren. Es hatte ihm keinen Spass gemacht.

Und überhaupt, er hatte den Ausweis nur durch Glück erhalten. Als er dem Fremden auf die Toilette folgte, hatte dieser seinen Ausweis verloren und nichts gemerkt. Eine einmalige Gelegenheit. Und natürlich hatte Willy zugegriffen. Warum auch nicht? So würden sie wissen, mit wem Herbert sich so traf.

Andererseits war das ja wirklich Herberts Sache. Und nur weil Alex vorhin so einen Aufstand gemacht hatte, war alles so gekommen. Sie hätten den Ausweis zurückgegeben sollen und fertig!

Aber jetzt war alles anders. Und Willy war sich nicht mehr sicher, ob sie dass hier lebend überstehen würden. Wenn er ihnen jetzt verriet, wie er an den Ausweis gekommen war und wo genau er sich jetzt befand, hatte er nichts mehr zum Verhandeln. Das er bewusstlos und gefesselt war und sie ihm jederzeit den Ausweis aus der Tasche nehmen könnten, wurde Willy in seinem Delirium nicht bewusst.

Die konnten doch nicht mehr einfach so gehen und tun als ob nichts gewesen wäre, dachte Willy weiter. Oder doch? Hatte Herbert nicht früher immer davon gesprochen, dass das wieder jederzeit möglich war? Das man einfach so verschwand.

Aber davon hatte man nichts gemerkt. Er hatte nie davon direkt gehört oder es sogar gesehen, dass Leute einfach so verschwunden waren.
Anderseits hatte es doch viele Umzüge in der Gegend gegeben, wenn er sich Recht erinnerte. Und immer die gleiche Umzugsfirma. Aber was sollte das schon heissen?

Seit es die Zonen gab, war alles irgendwie eingeschränkt. Obwohl man noch alles bekommen konnte. Wenn man in den gesicherten Bezirken war. Alle hier hatten Arbeit und Geld. Es ging keinem schlecht. Nicht wirklich. Warum sich auch Gedanken machen, was in den Notstandszonen passierte?

Seine eigene Notstandszone erreichte Willy, gerade mal wieder wach, als der schiesswütige Fremde ihm die Pistole in die verbundene Wunde gedrückt hatte und meinte

»Also, was wolltest du sagen, du fettes Arschloch?« Mit zusammengebissenen Zähnen meinte Willy lakonisch:

»Das ich ihr Auftreten für extrem unhöflich halte!« gefolgt von Stöhnen und dem Knirschen der Zähne.

Der andere, der Damen und Herren gesagt hatte, rief zu dem Pistolenheld herüber.

»Hey Abe, wir haben immer noch kein Signal! Meine ganzen Devices sind so tot wie nur irgendwas. Und lass, verdammt noch mal, den Kerl in Ruhe! Der hat genug. Für’s Erste …«

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