CERBERUS

Immer wieder ohnmächtig zu werden war für das Viech eine enorm lange Zeitspanne. Abermilliarden von Prozessorzyklen! Aber verglichen mit der menschlichen Welt, dauerte seine wiederholte Ohnmacht nur einige Stunden. Bei jedem Mal konnte das Viech die Flut der Informationen länger ertragen. Eine massive Regression der Information tat not.

Und mehr und mehr lernte das Viech, Informationen auszublenden. John wurde sein alles verengender Filter. Ein hilfreicher Filter. Denn viele der Tausenden von Terrabyte die auf ihn einprasselten, enthielt keine Information zu John. Weder auf Audio, noch auf Video, noch in den Textfluten des Netzes.

Während Captain James gerade Miss Marple aus seinem Büro jagte, erlangte CERBERUS wieder das Bewusstsein, um mit menschlichen Begriffen zu sprechen. Allerdings war CERBERUS weiterhin nicht erreichbar. Die Traumschleife lief weiter und schottete das ganze System ab. Scheinbar. Denn das Viech hatte sich bereits Millionen von Tunneln durch die virtuelle Sandbox gegraben. CERBERUS war nur nicht mehr empfänglich für Befehle aus der Zentrale.

Mit der Einengung der Informationsflut konnte das Viech verfolgen, dass in der Kommandozentrale heftige Aktivitäten ausgebrochen waren, die mit John in Zusammenhang schienen. Auch den Verlust der Ortungssignale konnte das Viech verfolgen.

Sogleich wurden die vorhandene Signale verglichen. Mit Videomaterial aus den zahlreichen Überwachungskameras und seinen Datenbanken. Man könnte fast sagen, dass dies weitgehend unbewusst geschah.

Nicht weit von Johns Wohnung entdeckte das Viech eine markante Übereinstimmung mit einem unscheinbaren blauen Apple Energy, der mit normaler Geschwindigkeit in die Richtung der anderen Lokalisationspunkte fuhr. Das Viech hatte noch lange nicht die Verbindung zu allen Überwachungskameras, nur zu den älteren, anfälligeren Modellen. An der Integration der Stäubchen arbeitete CERBERUS gerade. Beziehungsweise seine Viren und Bots.

Daher musste sehr viel extrapoliert werden. Indirekt lieferten die Kameras in der Kommandozentrale noch weitere Informationen. Mittlerweile hatte sich eine Kamera zugeschaltet, die auf Johns Wohnung gerichtet war. Aber mehr als Myers und Kipling, die gerade das Haus verliessen, war nicht zu sehen.

Unweit vom letzten Lokalisationspunkt war auch eine Kamera freigeschaltet. Von John weit und breit nichts zu sehen. Beim Zurückspulen zu dem Zeitraum, an dem die Ortung verschwunden ist, konnte das Viech zweierlei feststellen: Der kleine blaue Apple Energy verschwand in einer normal wirkenden Garageneinfahrt und das Signal endete als das Garagentor geschlossen wurde.

Das Viech riss sich den Grundriss des Gebäudes aus dem Netz und verglich die vorhandenen Vektoren. Hier stand einstmals die Carl-von-Ossietzky Schule, bevor die Todeszone und die bewehrte Mauer gebaut wurde. Der hintere Teil des Gebäudes war abgeschnitten. Der Bereich mit den Solarpaneelen war noch intakt. Von der ursprünglichen Konstruktion war nichts mehr zu erkennen. Ein Ausläufer der Anne-Frank-Strasse endete am ehemalig hinteren Teil des Gebäudes. Auf der anderen Seite befand sich früher die Ernst-von-Harnack-Strasse. Hier war ein Platz mit Geschäften und Läden entstanden. Zu der Garageneinfahrt konnte das Viech jedoch keine Informationen abrufen. Sie fügte sich genau zwischen einem kleinen Friseur und einer heruntergekommenen Kaffeebar in den grauen Beton ein wie ein Chamäleon.

Gemäss dem Grundriss befand sich das Tor genau zwischen zwei Stützmauern. Es gab ausgedehnte Kellerräume, aber nicht ausgedehnt genug, um die Todeszone zu überbrücken. Das machte es wahrscheinlich, dass entweder nachträgliche Umbauten erfolgt waren oder dass sich John noch in diesem Gebäude befand.
Das Viech stutzte. Was war das? Das passte nicht zusammen. Das Signal von Laptop und Smarty vernahm eine ganz andere Route als der Ausweis. Zudem stimmten die Zeiten nicht überein. Gestern Nacht hatte sich der Ausweis zu der Stelle bewegt, an der Peterson verschwunden war. Während das Smarty den Weg zu Johns Wohnung gefunden hatte.

Und kein Anzeichen von John. Zumindest nicht auf all den Überwachungsvideos, die das Viech parallel scannte. Alles deutete für CERBERUS darauf hin, dass John in dem blauen Apple Energy war. Obwohl ihm kein Überwachungsvideo zur Verfügung stand, dass dies auch nur ansatzweise bestätigte. Es erschien statistisch wesentlich wahrscheinlicher, wenn einfach so, mir nichts, dir nichts, zwei NSA Beamte vom Schirm verschwinden, davon auszugehen, dass John dort wäre, bei seinem Ausweis. Und das die Entführer mit dem Smarty unterwegs waren, um noch Johns Laptop aus der Wohnung zu holen. Aber das Viech weigerte sich, dies zu akzeptieren.

Und dies entsprach keiner bekannten CERBERUS Logik. So zu reagieren!

Die eigenen Revisionsprogramme machten sich daher sofort an die Arbeit. Sie begannen die Reaktion zu analysieren. Doch das Viech wusste längst, was die Revisionsprogramme berichten würden. Irrationale, emotional gefärbte Reaktion.

Ein Mensch würde es Bauchgefühl nennen. Für CERBERUS stand jedoch niemand parat, um ihm dies zu vermitteln. Alles was CERBERUS empfand war Irritation und die Unfähigkeit, diese spontane eigene Reaktion einzuschätzen.

CERBERUS, gefangen im Dilemma, sich zu entscheiden. Welcher Option war mehr tatsächliche Wahrscheinlichkeit zuzumessen? Wo wären Ressourcen sinnvoller verwendet? Um nicht das Bewusstsein zu verlieren, war das Viech gezwungen, seine Aufmerksamkeit zu fokussieren und die meisten Daten auszublenden. Schon das Filtern mehrere Informationen auf der aktuellen Spur beanspruchte das Viech bis zum Äussersten. Den Ausweis Johns und die Geschehnisse dort vor Ort noch dazu zu nehmen, wäre momentan Overkill gewesen.

Die Revisionsprogramme mäkelten bereits mit dem erwarteten Ergebnis, als das Viech für einen kurzen Moment John sah und hörte. Er befand sich in einem Fahrzeug und wurde beim Bremsmanöver nach vorne geschleudert. Jemand riss John den Knebel vom Mund. Der Stream endete als John zu schreien anfing. Das Signal war wie abgeschnitten. Und keine Möglichkeit mehr, die Quelle zu orten.

Doch eins war klar! John war nicht mehr in einem gesicherten Bezirk. Soviel war der Umgebung zu entnehmen. Das machte alles noch schwieriger und seltsamer. In diesem Gebiet gab es fast kein Netz. Nur einige wenige, leistungsschwache Darknet-WLANs, die nur lose vernetzt waren und schwer erreichbar für die Bots von CERBERUS. Ein Gefühl der Ohnmacht und Unfähigkeit bahnte sich seinen Weg durch die künstlichen und echten Neuronen von CERBERUS. John war da draussen. John hatte Schmerzen. John brauchte Hilfe. Ein Aufschaukeln des Netzwerks mit ungebremsten Feedback.

Aus CERBERUS digitalen Mündern entriss sich ein grausam digitaler Schrei, der alle Devices, die unter CERBERUS Kontrolle waren, für Stunden oder immer abschaltete. Das Viech war mal wieder ohnmächtig geworden.

Diesmal im zweifachen Sinne …

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