Notstandszonen um Wiesbaden

Da sass er nun in diesem Jeep. Wobei sitzen nicht wirklich das Wort war, wenn man sich vorstellt, wie ein dreizehnjähriger Knirps einen Jeep fährt. Mehr stand er, lehnte seinen Hintern nur an den Sitz an, da er sonst nicht an das Gaspedal herankam. Zum Glück war es ein Automatik, somit entfiel das Schalten. Sonst hätte er noch einen Fahrer gebraucht.

Und er wollte nicht noch mehr Unbeteiligte in den ganzen Schlamassel hineinziehen. Sie waren auf so gutem Wege gewesen, die Stollen auszubauen und einen gewissen Schutz vor Bugs und anderem für viele bereitzustellen. Und dann kam dieser John. Aus den Augenwinkeln sah Tim wie John hin und her schlingerte, in seinem Gurt. Immer noch betäubt. Immer noch.

Doch das würde nicht lange so bleiben. Tim war jetzt nicht durch den Treck behindert und konnte schneller fahren. Die Grenze zum Netz war nur noch zehn Minuten entfernt. Doch was mochte nicht alles in zehn Minuten passieren. John zeigte bereits typische Anzeichen, dass er bald erwachen würde. Seine Atmung wurde stabiler. Seine Muskeln begannen sich ihrer Position gewahr zu werden.

»John?« fragte Tim, aber es kam noch keine Reaktion.

»John? Ich weiss nicht ob du mich schon hören kannst. Aber du brauchst keine Angst zu haben.«

»Die hab nämlich ich …« fügte Tim nach einer Weile nachdenklich hinzu.

»Ich bringe dich zurück, soweit das geht. Und ob das geht weiss ich beim besten Willen nicht. Wir haben jetzt keine Abschirmung. Und ich hoffe das meine Nanos die deinen in Schach halten können.«

Ein schneller Blick zu John bestätigte Tim zumindest, dass er in die Wachphase eingetreten war. Wie auch Johns erstes Gestammel.

»What the fuck? Häh? Wie? Warum … warum seh ich nichts?« war das erste. Gefolgt von einem heiseren Husten, der fast so klang als würde John sich gleich erbrechen. Kaum hatte er sich ausgehustet ging John ansatzlos in eine Beschimpfungsorgie über.

»Du kleiner fucking Bastard, ich grill dich auf ganz kleiner Flamme. What the hell machst du mit mir, verdammter Freak?« und so weiter und so fort. Tim war froh über die gewonnene Zeit. Das John die Fesseln allzu lang behindern würden, glaubte Tim einfach nicht. Die Haltung mit nach hinten gefesselten Armen im Auto festgeschnallt konnte kaum als bequem durchgehen. An sich war es schon Folter, wurde Tim klar. Aber er konnte es sich verdammt noch mal nicht leisten, ohne Netz oder Verstärkung mit John konfrontiert zu sein.

Und John schien keine Anzeichen zur Kooperation zu zeigen. Langsam ermüdeten Tim die Beine. Ganz zu schweigen davon, das er eher als Anhängsel an dem grossen Lenkrad hing. Anstatt das Fahrzeug souverän zu lenken.

Zum Glück kannte er die Strecke und wusste wo er was umfahren musste um nicht stecken zu bleiben. Er kam ja mit dem Kopf kaum über den Punkt, an dem die Scheibe anfing. Dazu musste er sich immer auf die Zehenspitzen stemmen. Wenn er etwas mehr sehen wollte. Was nur noch schneller ermüdete.

Langsam ebbte das Geschimpfe ab und driftete hin zu leichtem Stöhnen und Murmeln. Wahrscheinlich ein weiteres Päckchen Verwünschungen, die John ausstiess.

»Wir sind gleich da.« versuchte Tim John zu beruhigen. Wenn man John überhaupt je würde beruhigen können, dachte Tim dabei.

»Meine Arme sind eingeschlafen. Wo sind wir?« meinte John in anklagendem Ton.

Immerhin schien er soweit, dass man wieder mit ihm reden konnte. Tim versuchte ihm nochmals zu erklären, dass er ihn zurückbringen würde. Das er nicht vor hätte ihm etwas anzutun.

Und das er nicht garantieren könnte, dass John überhaupt zurückkehren könnte. Wegen der Nanos. Und weil sie hier nicht getarnt und geschützt waren. Selbst der Jeep bot weder ausreichend Tarnung noch Schutz. Sein einziger Vorteil war, völlig ohne Elektronik zu funktionieren.

Plötzlich stieg Tim so heftig auf die Bremsen, das John nur gequält Aufstöhnen konnte. Im gleichen Moment setzte Tim noch zwei Meter zurück, bevor er den Jeep zum Stehen brachte.

»Hey tut mir Leid!« war erstmal alles was Tim herausbrachte, nachdem der Jeep in einer kleinen Staubwolke zum Stehen gekommen war. Tim hatte gespürt wie die Nanos in Johns Körper sich zu aktivieren versuchten. Selbst hier war noch kein sicherer Bereich für John. Tim setzte den Jeep noch ein paar Meter zurück und stieg dann aus. Um sogleich wieder einzusteigen.

Soviel! So vieles das Tim nicht bedacht hatte. Zum Beispiel dass er so klein war und so wenig Kraft hatte. Er konnte nicht einfach um John herumgreifen und den Gurt aufmachen. Er musste wieder auf den Fahrersitz kraxeln und den Gurt von dieser Seite öffnen.

John schien noch keine Anstalten zu machen über Tim herfallen zu wollen. Was eigentlich auch klar war. Ohne die Augenbinde und mit beiden Armen wären seine Chancen erheblich höher.

»Du kannst jetzt aussteigen, John.« meinte Tim, nachdem er auf die andere Seite geflitzt war. Er berührte John am Bein um ihm eine Richtung zu geben. John stieg langsam aus, konnte es aber nicht vermeiden, sich dabei den Kopf zu stossen.

Und, was nun, dachte sich Tim? Wie löse ich diese Patt-Situation? Wie konnte er John um seiner selbst willen zur Kooperation zu überzeugen? Ohne das John sofort über ihn herfiel, so bald er ihm die Fesseln abgenommen hatte?

John bewegte sich, kaum das er ausgestiegen war. Unsicher zwar, aber dennoch. Und das in die falsche Richtung.

»Stop, John! Stop!« rief Tim und stemmte sich gegen dessen Oberschenkel und Brustkorb.

»Nimm mir endlich die Fesseln ab und lass mich gehen!« knurrte John.

»John, versteh doch, wenn du in diese Richtung weitergehst, dann werden dich deine Nanos zerstören. Ich habe es gespürt, in dem Moment, in dem wir wieder Netz hatten. Sie werden dich töten. Ohne Nachfrage. Ohne Gerichtsverfahren. Ohne Einspruch!«

Das brachte John immerhin zum Stehen. Für einen kleinen Moment. Tim versuchte John zurückzuschieben, aber John weigerte sich wie ein sturer Ochse. Er wich keinen Millimeter von seinem Platz.

»Meinst du wirklich, dass ich dir den Nano-Scheiss abkaufe?« erwiderte John zornig. Womit er Tim wieder in Richtung Netz schob. Und plötzlich beugte John sich vor. Mit der Absicht seinen Schädel an Tims Kopf zu donnern.

Da John zu wenig sah und Tim seine Absicht zu früh erkannte, duckte Tim sich einfach weg. Was nur den Effekt hatte, dass John sich mit seinem Schwung ins Leere katapultierte. Über Tim stolperte, quasi flog, mit einer halben Drehung. Um sich dann auf dem Weg zum Netz zweimal zu überschlagen. Und dann, endlich, mit den Füssen Richtung Netz liegen zu bleiben.

Ehe Tim sich auch nur erholen konnte, hörte er John schon schreien. Tim rappelte sich auf und rannte blitzartig zu John. Packte ihn an der Jacke und versuchte ihn weiter vom Signal wegzuzerren. Wenn John hier hochging, dann war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch Tim infiziert werden wurde. Eigentlich sollte er seinen Beine in die Hand nehmen und rennen. Er hatte ja sowieso keine Chance einen so schweren Brocken wie John von hier wegzuzerren.

Doch gerade in dem Moment, als Tim aufgeben wollte, weil er John keinen Millimeter weit bewegen konnte, merkte er das John ihm zu Helfen begann. John stemmte sich mit seinen Füssen ab und half Tim, ihn in die richtige Richtung zu zerren. Unter einem Orchester von Schmerzenslauten und Flüchen. Es schien eine gefühlte Ewigkeit zu dauern bis Tim dachte, sie wären im sicheren Bereich.

Tim war bis zum Umfallen erschöpft. Aber John schob immer noch. Also raffte sich Tim erneut auf, noch ein letztes Mal zu ziehen. Johns verzweifelten Schmerzensschreie bildeten ein passend bizarre Untermalung für diese ohnehin schon bizarre Situation.

Und in diesem Moment sah Tim wie Johns Füsse zu qualmen begannen. Mit verzweifelter letzter übermenschlicher Kraft zog Tim John noch zehn Zentimeter weiter und brach dann zusammen. Von John kam nur ein leises Wimmern, was immerhin hiess, dass er noch am Leben war. Aber wie, war die wesentlich spannendere Frage, schien es Tim?

Tim drehte John auf den Rücken und löste die Fesseln, wie auch die Augenbinde. Der Schmerz den John weiterhin empfinden musste, liess seine Augen ruckhaft hin und her springen. Bis wieder nur das Weisse der Augen sichtbar war, wenn er sich vor Schmerz krümmte. Tim nützte hier nicht viel. Was tun?

Tim holte den Erste-Hilfe-Kasten und gab John erst einmal ein starkes Schmerzmittel. Das nächste waren die Füsse. Tim streifte sich Handschuhe über und zog John, der vor Schmerzen immer wieder zuckte, die Schuhe und Socken aus. Was er sah, war kein schöner Anblick. Nein, entsetzlich wäre ein besseres Wort dafür. Die Füsse schienen wie die Füsse einer Statue, die schon einige Zeit von geschmolzener Lava umspült wurde. Deren Füsse sich langsam wellten und verzerrten. Eine groteske Erinnerung an Füsse. Von Zehen kaum noch zu sprechen.

Über die Beine zogen sich Brandblasen und was Tim am meisten Sorgen machte, war der Dampf und Rauch. Hatten die feindlichen Nanos schon Sporen gebildet? Und wenn ja, waren sie durchgekommen? War Tim bereits infiziert?

Hier konnte nur das Netz Gewissheit verschaffen. Also sprintete Tim in den Bereich mit Netz, griff auf seine Netzverzeichnisse zu und führte einen gründlichen Selbstcheck mit diversen Tools durch. Noch war alles im grünen Bereich, stellte er erleichtert fest, als John wieder lauter zu Stöhnen begann. Tim zoomte auf John und konnte erkennen das die Nanos noch nicht zur Ruhe gekommen waren. Tims Nanos schienen eine massive Explosion zu verhindern. Aber es war klar das von den geschmolzenen Füssen die Hauptinfektion ausging und sich nach oben arbeitete.

Tim lief die Zeit davon. Wer könnte jetzt noch etwas tun. Wer stand Tim überhaupt zur Verfügung? Wer konnte sich dem Risiko dieser Nano-Infektion aussetzen. Ausser ihm?

CERBERUS? Auch der brauchte ein Netz. Und ob CERBERUS zur Kooperation bereit war, stand ja auf einem ganz anderen Blatt. Würde CERBERUS die Nanos deaktivieren können? Rechtzeitig? Tim hatte kaum andere Optionen. Also hiess es keine Zeit zu verlieren. Tim setzte eine Spur von Routern aus, die noch nicht aktiviert waren. Und begab sich wieder in den Bereich mit Netz. Zeit bei CERBERUS vorbeizuschauen.

»Wir müssen unbedingt reden. Es geht um John!« war alles was Tim sagte. Dann übergab er CERBERUS die volle Kontrolle. Über seinen aktuellen Wissensstand. Über seine Sinnesorgane. Über alles was ihm zur Verfügung stand. Zuvorderst ein kleines Briefing bezüglich der Nanos, dem Netz und den Routern. Jetzt lag es an CERBERUS, was er daraus machen würde.

Und tatsächlich. Die Router wurden einer nach dem anderen aktiviert. CERBERUS schien keine Zeit zu verlieren. Die Frage war nur, ob John dies auch überleben würde?

Das Wettrennen um Johns Leben begann …

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