Projekt CERBERUS, NSA Wiesbaden

Er umhegte das Viech, wie er es nannte, jetzt schon seit über drei Jahren. Und immer noch hatte es nicht mehr Verstand als eine Ratte oder eine Kakerlake. John starrte auf das kleine Fenster hinter seinem Bildschirm und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Eine unbewusste Geste, die das Mass seiner Nervosität ausdrückte. Sein Chef, ein alter Brummbär, machte ihm seit Tagen schon die Hölle heiss. Es wäre jetzt an der Zeit, dass CERBERUS endlich das leistet, was erwartet wurde!

Central Emerging Recognition Boundary Engine for Realtime User Surveillance.

So hiess das Viech. Gemäss irgendwelcher Sesselfurzer, die nichts anderes taten, als sich Akronyme und angebliche Bedeutungen auszudenken.

Und ja, genau genommen war John auch einer dieser Sesselfurzer. Allerdings beschäftigte er sich im Wesentlichen mit dem Viech, wie er die KI nannte. Sie sollte doch tatsächlich alle Systemadministratoren ersetzen! Und zugleich auch noch eine intelligente Firewall sein, die Attacken und Eindringlinge schon im Vorfeld erkennt. Und als ob dies nicht schon genug wäre, sollte sie auch noch User daran hindern, Informationen aus dem internen Netz zu schleusen.

Davon war zur Zeit allerdings noch nicht viel zu sehen.

Allein schon die SysAdmin-Aufgaben. War das Problem jetzt ein Berechtigungsproblem oder ein technisches Problem? Und wenn, wie war es zu beheben, besonders dann, wenn es keine klaren Regeln für die Problemlösung gab. SysAdmins mussten extrem kreativ und intelligent sein, um ihren Job gut zu machen. Wie sollte das Viech so etwas je bewerkstelligen?

Dann die User-Überwachung. Welches Verhalten war auffälliges Verhalten? Welches korrekt? Wo war es nur Zynismus oder Sarkasmus frustrierter User. Wo war es Ernst? Bei dem gegebenen Interpretationsspielraum war dies alles Andere als leicht zu erkennen. Selbst für Menschen. Zusätzlich sollte das Viech auch noch Viren und Würmer erkennen. Also die, die noch niemand je gesehen hat, geschweige denn, dass jemand wüsste, wie sie funktionieren.

Natürlich wurden die neuesten Techniken und Erkenntnisse in dieses Viech eingebaut. Gleichwohl, es half immer noch nichts. Da hatten sie nun ein gigantisches neuronales Netzwerk. In Segmente aufgeteilt. Bei dem jeder Input für ein Segment über kritische Lernphasen verfügte. Genau wie beim menschlichen Vorbild. Und es war immer noch dumm wie Brot.

Dabei konnten die Segmente für weiteres Lernen blockiert werden, sobald das Segment ausreichend kalibriert war. Getreu dem Motto ›Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!‹.

Wobei sie noch einen entscheidenden Vorteil hatten. Sie konnten die Blockierung aufheben und mit dem Lernen nochmal neu anfangen. Es hätte funktionieren müssen!

Es war vielleicht nur zu komplex. Ein Mix aus mehreren unterschiedlichen neuronalen Netzen. Der im Wesentlichen aus komplexen rekurrenten Feedbacksystemen bestand. Angereichert mit einigen einfachen Feedforward-Netze, die über mehreren Schichten verfügten.

Die Komplexität ergab sich daraus, dass alle diese Netzwerke und Segmente zudem untereinander vernetzt waren. Ein wahrer Wirrwarr an Optionen und Möglichkeiten. Der beste Weg um auch alles falsch zu machen!

Zudem musste man dem blöden Viech einfach alles durch Training beibringen. Er war also die meiste Zeit nichts anderes als ein Kindergärtner. Ein Betreuer, der versuchte, einer mässig begabten KI die Grundregeln des Netzverkehrs in der NSA und der Welt beizubringen. Und ab und an Neurologe. Immer dann wenn er die Parameter etwas justierte.

Also schraubte John munter weiter an den Betriebsparametern. Und hoffte, es würde irgendwann einmal besser. Als wäre dies noch nicht genug, war er auch noch in einem so langweiligen Land wie Deutschland gelandet.

Und wo? Nein, nicht in Berlin. Oder Hamburg. Nein, in Wiesbaden. Holy shit, man! Konnte es wirklich noch schlimmer kommen?

Klar, hier war man nicht in der ›direkten‹ Reichweite offizieller amerikanischer Behörden. Es gab hier diverse strategische Stützpunkte. Dort konnte man all die Sachen testen und entwickeln, die in den USA politisch ›fragwürdig‹ gewesen wären.

Aber Deutschland? Wen interessierte Deutschland?. Es war schliesslich nur ein weiterer Vasallenstaat. Die jeweilige Regierung konnte gar nicht anders als gute Miene zu bösem Spiel zu machen.

Schon 1945 mischte die CIA vor Ort mit, wusste John. Und jetzt waren viel mehr Organisationen beteiligt. Sorgfältig geplante »Skandale« sorgten für Ablenkung, wenn Ablenkung gebraucht wurde. Bei der Gelegenheit wurden gern auch missliebige Personen oder Organisationen versenkt. Und für Volkes Spass oder Empörung war auch gesorgt. Mithin der perfekte Ort, um am Rande der amerikanischen Legalität zu operieren.

Ganz selten fragte sich John manchmal, auf welcher Seite des Randes sie eigentlich standen? Aber solche Gedanken waren müssig. Insbesondere seit sie die Vorschriften und Überwachung der eigenen Angestellten verschärft hatten. Manning, Snowden, der arrogante Assange. Zuviel war in zu kurzer Zeit passiert. Damals, als es noch ohne Folgen blieb. Ausser Exil oder Gefängnis.

Heute wäre jeder enttarnte Spion froh, standrechtlich erschossen zu werden. Dieses Privileg wurde nur wenigen zugebilligt. John wusste nicht viel darüber und wollte auch nichts darüber wissen. Es reichte ihm schon, dass immer wieder mal wilde Gerüchte seine Ohren streiften.

Und jetzt hiess es auch noch, zum hundertsten Mal, man wolle alle SysAdmins entlassen. Man hätte jetzt endlich eine Alternative! Ha! Man hatte Präsentationen. Das hatte man. Und Wünsche. Und Visionen.

Natürlich war alles hoch geheim und hinter vorgehaltener Hand. Aber was bleibt in einer Gemeinschaft schon lange geheim? Sein Chef hatte seinen Vorgesetzten die Erfolge in grossen Lettern und die Misserfolge in Randnotizen berichtet. Wie sollte er auch anders?

Jeder Unbedarfte, der diese Berichte und Präsentationen sah, bekam den Eindruck CERBERUS wäre durchaus bereit. Keiner machte sich die Mühe, die kleinen Randnotizen und Verweise zu lesen. In denen stand, dass dieser und jener Erfolg nur dann erzielt wurde, wenn diese und jene Bedingung zutraf. Bedingungen, die die reale Welt nie bot. Die nur im Labor existierten.

John starrte zurück auf den Bildschirm, die 62455te Wiederholung der aktuellen Trainingseinheit. Wenn alles klappte, sollte CERBERUS sowohl Sprechen, als auch Sprache verstehen. John machte sich nicht viel Hoffnungen. Sie hatten die Trainingseinheit jetzt wieder und wieder angepasst. Aber jedes Mal war es einfach nur enttäuschend.

Die Sprachausgabe ging ja noch. Zwar holprig, wie bei einem Navi in den Zehnerjahren.  Aber verständlich. Die Reaktion auf Spracheingabe kam allerdings nicht weiter wie bei jenen frühzeitlichen Software-Agenten, die zwischen 2010 und 2020 so in Mode waren. Siri, Google Now, Cortana und wie sie nicht alle hiessen.

Man konnte dem Viech ein paar Kommandos beibringen. Oder man konnte mit spezifischen, leicht erkennbaren Worten arbeiten. Das war alles.

Es gab im Allgemeinen nur zwei Reaktionen auf eine wirkliche, eine realistische Spracheingabe. Entweder wurde man falsch verstanden. Und die Ergebnisse passten nicht zu der Anfrage. Oder man bekam den Satz zu hören, der John schon aus den Ohren heraushing.

»Wiederhole das bitte, ich habe es nicht verstanden!«

Das wiederum funktionierte erstaunlich gut. Was auch klar war. Schliesslich war diese Reaktion, wie auch andere Basisparameter, »hartverdrahtet«. So etwas wie eine Stammhirnfunktion, wenn nur Rauschen als Verarbeitungsantwort kam. Sehr tief eingebettet in die Reaktionsmuster. Und somit vorhersehbar.

Eigentlich nicht anders als bei uns Menschen, dachte John. Letztendlich war ja den genialen Wissenschaftlern auch nichts anderes eingefallen, als das Gehirn zu simulieren. Und alles zu patentieren, was sich patentieren liess.

Für John war klar, dass das nur klappen könnte, wenn man der KI auch die notwendige Entwicklungszeit zubilligte. Die Grösse des Gehirns? In seinen Augen ein überschätztes Mass. Selbst Vögel mit ihren kleinen Gehirnen waren zu erstaunlichen Leistungen fähig.

Und hier hatten sie einen Computer, der auf neuronalen Zellkulturen basierte. Einen Computer, der immerhin fast ein Drittel der menschlichen Neuronen hatte. Vier Milliarden Neuronen! Ein Mensch hatte ungefähr vierzehn Milliarden Neuronen. Allerdings waren das nur die Neuronen im Gehirn. Die meisten vergassen, dass ein Mensch insgesamt über hundert Milliarden Neuronen hatten. Die in seinem Körper verteilt waren. Insofern war selbst das mit dem Drittel gelogen.

Zum Teufel auch, sollte das Viech doch allein trainieren. Was brachte es schon, wenn er die Korrelation zwischen Input und Output überwachte, um zum 62489ten Mal festzustellen, dass es einfach nicht besser wurde? Er würde heute mal etwas Neues probieren. Und das Gute daran war, er müsste gar nicht dabei sein. Er würde CERBERUS heute ins Land der Träume schicken. Keine Trainingseinheit. Sondern eine willkürliche Anregung der Neuronen. Ein Gehirngewitter. Oder ein Traum. Wer wusste das schon?

John startete ElectronicSheeps, wie er die Routine nannte und machte sich zum Gehen bereit. Das hiess alle offenen Unterlagen sicher verschliessen. Clean Desk Policy, wie es sich nannte. Und es hiess, sich ordnungsgemäss aus allen Systemen auszuloggen. Ein bürokratischer Popanz, der aus Johns Sicht mehr Zeit kostete, als er einbrachte. Selbst die Putzfrauen waren handverlesen und wurden die ganze Zeit überwacht.

Dazu kam jetzt noch das, neu aufgeblühte, perfide System des Anschwärzens. Mobbing hoch Zwei. Jedes Verhalten, das von jemanden auch nur ansatzweise als verdächtig wahrgenommen wurde, war zwingend zu melden, andererseits drohten empfindliche Strafen.

Ein perfekter KZ-Zoo dachte John, die Gefangenen überwachen sich gegenseitig. Ganz grosses Kino! Obwohl, genaugenommen führte es eher dazu, dass viele die Köpfe unten behielten. Was man nicht sah, konnte man auch nicht melden. Während nur einige wenige sich in ihrem neuen Status als selbsternannter Blockwart sonnten.

Als ob die ganzen Bugs nicht reichten? Die Stäubchen, die ständig durch die Gegend schwirrten und alles aufzeichneten. Und da lag die Crux! Schon in den frühen Anfängen der NSA war die Datenmenge das entscheidende Problem. Nicht die Daten zu bekommen.

Wenn man nur einen Menschen lückenlos überwachen will, braucht man dazu mindestens drei Menschen. Man kann maximal auf zwei Menschen herunterschrauben, aber das funktioniert nicht besonders lange. Denn wer schafft es schon, länger als ein halbes Jahr lang Zwölf-Stunden-Schichten zu schieben? Ohne das die Aufmerksamkeit nachlässt?

Genau deswegen brauchten sie einen Computer. Einen, der das alles übernehmen sollte. Oder auch mehrere von diesem Typ. Wenn nur endlich einmal alles so funktionieren würde, wie es eigentlich gedacht war.

Beim Verlassen des Gebäudes dachte John über die Gefangenen in KZ‘s nach, während er sich seinen Zinken rieb. War er wirklich damit zu vergleichen? Empfand er sich wirklich als Gefangener?

Nein, die stetigen Verschärfungen der Massnahmen waren unangenehm, aber was sollte einem schon passieren, wenn man nichts zu verbergen hatte? Und wenn jemand für Freiheit stand? So wie er. Und wie sein Land. Die Vereinigten Staaten von Amerika! Die Deutschen waren da um einiges empfindlicher und seltsamer. Freiheit war in Deutschland eng begrenzt.

Letzthin hatte doch glatt ein alter Mann zu ihm gesagt, Deutschland wäre postfaschistisch, Amerika dagegen präfaschistisch. Was wusste dieser Idiot den schon? Als ob die Deutschen je den Faschismus überwunden hätten. Keine Gelegenheit liessen sie aus, um weiter ihrem Hang nach Bürokratie und Kontrolle zu frönen. Freie Rede war ihnen ein Graus. Oder war jetzt postfaschistisch das neue präfaschistisch?

Nein, es hatte in den Staaten nie ein faschistisches Regime wie Hitler gegeben. Und es würde keins geben! Das war undenkbar. Wo doch jeder eine Waffe trug! Amerika war eine wehrhafte Demokratie. Die auf ihren Schultern die Last eines Imperiums trug.

Was wollten diese Möchtegern-Grossmanns aus Deutschland ihnen eigentlich sagen? Die hatten doch noch nie auch nur annähernd ein Imperium gehabt. Nie gewusst und gespürt wie viel Verantwortung man mit einer entsprechenden Grösse trug. Immer nur am Rand mitgespielt. Und von ihrem grossdeutschen Reich geträumt. So what?

Egal. Raus hier. Und dann ein Bier und ein Burger. Am besten in einem von den Mexikanern in Wiesbadens gesicherten Bezirken. Da fühlt er sich noch am wohlsten. In Texas war er mit diesem ganzen Tex-Mex-Food aufgewachsen. Und dort hing es ihm irgendwann zum Halse raus.

Aber hier? Hier konnte er nicht genug davon kriegen. Und er konnte wenigstens einen normalen Pitcher bestellen. Er musste sich nicht mit diesem seltsamen metrischen Mass herumschlagen.

Er würde einen total entspannten Abend haben …

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