Stollen im Taunusgebirge

Natürlich bekam Frau Brunner Panik. Was hatte Susanne auch anderes erwartet? Und jetzt zog diese Frau sie mit hinab in die Tiefe. Klammerte sich wie wild an ihren Arm. Ihre Plastiktüte hatte sie längst verloren.

Langsam merkte sie, wie auch in ihr die Panik hochkam. Fast reflexhaft stiess Susanne Frau Brunner ihren Ellenbogen an die Schläfe. Was den Effekt hatte, dass das Gezappel aufhörte. Aber sich auch ihr Griff lockerte.

Susanne schob ihr einen Arm um die Brust und versuchte sich nach oben zu kämpfen. Sie wusste nicht mehr woher sie die Luft nahm. Ein Druck, ein schmerzhafter Druck lastete auf ihrer Lunge und sie war ständig versucht, den Mund weit zu öffnen und tief Luft zu holen.

Was im Wasser im Allgemeinen keine gute Idee war. Jedes Sauerstoffatom hatte zwei Wasserstoffatome zur Gesellschaft. Und Kiemen hatte Susanne nicht. Als sie die Oberfläche sehen konnte, erreichte sie die kritischste Phase. Beinahe war sie bereit aufzugeben. So nah und doch so weit entfernt. Ihr Körper ächzte und stöhnte, verbrannte jeden Sauerstoff, der er noch finden konnte, während ihr Bewusstsein immer mehr zerfaserte.

Bis nur noch ein Gedanke blieb. Nach oben. Noch einmal den Frosch machen. Noch ein kräftiger Stoss. Und nur nicht daran denken, dass sich danach alles wiederholte. Oaner geht no, wie die Bayern sagen, war ihr Gedanke als sie durch die Wasseroberfläche brach. Und mit einem lauten Keuchen ihre Lungen füllte, während sie versuchte, Frau Brunners Kopf über Wasser zu bringen.

Aus den Augenwinkeln bekam Susanne mit, wie ein Jugendlicher, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, in voller Montur in den Tümpel sprang und ihr bei Frau Brunner half. Alex und Herbert waren nirgendwo zu sehen. Was für erbärmliche Möchtegern-Männer, dachte Susanne noch.

Als sie Frau Brunner aus dem Wasser wuchteten, drehte der junge Mann sie professionell auf den Bauch und drückte entsprechend. Worauf sich Frau Brunner mit einem Schwall Wasser erbrach und keuchte. Ein jämmerliches Häuflein Elend gab sie ab.

Ganz im Gegensatz zu Susanne. Zumindest für Jacko. Für ihn war sie die wiedergeborene Venus, die statt auf einer Muschel mit seiner Mutter im Arm auftauchte. Und sich so natürlich bewegte, als wäre sie vollständig bekleidet.

Dabei war sie vollständig unbekleidet. Das Wasser tropfte aus ihren Haaren auf ihre wohlgeformten Brüste. Und formte Rinnsale die entlang der Linien ihres straffen Bauches um den Nabel liefen. Um sich im Bereich ihrer Scham und Schenkel zu Sturzbächen zu vereinigen.

Jacko war hin und hergerissen. Er wollte nicht schauen. Erst recht nicht starren. Doch das war alles was er machte, während ihm langsam die Kinnlade herunterfiel. Fast hätte er verpasst, dass seine Mutter »Jacko?« keuchte.

Dankbar über die Ablenkung half er seiner Mutter in eine sitzende Position. Doch die sollte nicht lange anhalten.

»Du bist also der Sohn!« stellte Susanne fest.

Was Jacko dazu brachte, in ihre Richtung zu schauen. Und schon wieder diese Phasen zu durchlaufen. Wie das Kaninchen vor der Schlange. Sie war einfach zum Verlieben schön. Wobei die nächste Bemerkung von Susanne Jacko wieder etwas auf den Boden der Tatsachen brachte.

»Krieg dich wieder ein, Junge. Kann mir mal jemand ein Handtuch reichen? Ich habe meine Sachen da unten verloren. Und der junge Mann da explodiert sonst gleich.«

Was allenthalben Gelächter hervorrief und auch ein Handtuch zum Vorschein brachte. Es brachte Jacko jedoch nicht soweit runter, dass er keinen Ständer mehr in der Hose gehabt hätte. Das war irgendwie unübersehbar.

Und wenn Jacko gedacht hatte, dass ein Handtuch die Sonne verdunkeln würde, so wurde er doch eines Besseren belehrt. Auf einmal konnte er ihr Gesicht wahrnehmen und war gleichermassen verzückt.

»Ist das eine Begrüssung?« fragte seine Mutter mit aller Schärfe die sie bei ihrer Erschöpfung noch aufbringen konnte.

»Äh, tschuldigung, äh, was soll ich machen? Was brauchst du? Was Warmes zum Anziehen am Besten … bin schon unterwegs …« stammelte Jacko verlegen.

»Schon wieder abhauen? Nix, du bleibst hier. Hilf deiner armen Mutter hoch, du elender Lausebengel. Du bist ja noch schlimmer als dein Vater.

In was hast du mich da reingeritten? Kannst du das mir mal erklären? Sind wir jetzt Flüchtlinge oder die Terroristen aus der Notstandszone? Dürfen wir jetzt jedesmal beten, dass wir am Abend ein Dach über dem Kopf und was zu essen haben?

Ich sollte dir die Ohren langziehen, du verfluchter Sohn deines Vaters. Immer gut für Schwierigkeiten, nie gut für was Sinnvolles. Also verdammt noch mal komm schon in meine Arme. Ich bin fast gestorben wegen dir!«

Und kaum hatte Jacko seine Mutter in den Armen, löste sich der ganze Knoten, den er die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt hatte. Heulend lagen die Beiden sich in den Armen und schluchzten um die Wette, während sie sinnlose Worte stammelten.

Als Heinrich an sie herantrat, hatten sie sich ein wenig beruhigt.

»Mein Name ist Heinrich. Ich habe warme Sachen zum Umziehen für sie, Frau Brunner. Und eine Räumlichkeit in der sie sich abtrocknen und umziehen können.«

»Renate bitte.« antwortete sie um dann weiter zu schniefen »Und nicht mal mehr ein trockenes Taschentuch …«

Heinrich winkte den anderen Neuankömmlingen.

»Kommt einfach erst einmal alle mit mir. Ihr werdet Fragen haben. Und vielleicht Hunger oder Durst.«

Also dackelten alle Heinrich hinterher. Alex, Herbert, Renate, Jacko und Susanne. Wobei Jacko genaugenommen nicht zu den Neuankömmlingen zählte. Und immer wieder mal rot wurde, wenn Susanne sich das Handtuch zurechtrückte oder ihm einen Blick zuwarf.

Jacko hätte es, entgegen aller Anzeichen, nicht geglaubt, wenn man ihm gesagt hätte, das er sich über beide Ohren verliebt hatte. Er hätte es abgetan mit notgeil, zu wenig Auswahl, zu lange keine Frau mehr nackt gesehen und solcherlei Argumenten.

Als ob er mit seinen siebzehn Jahren schon viele Frauen nackt gesehen hätte. Auf Videos ja. Auf Pornoseiten im Netz. Aber in echt? Wenn er zweimal gesagt hätte, dann hätte er seine Mutter dazurechnen müssen.

Und von Auswahl wusste er erst recht nichts. Er traute sich ja noch nicht einmal ein Mädchen anzusprechen. Woher sollte er dann wissen, welche Auswahl er hatte? Und notgeil war nun wirklich kein seltenes Attribut unter pubertierenden Jugendlichen.

Selbst als sich Susanne ihm zuwand, ihm die Hand gab und sich mit »Ich bin Susanne. Schön dich kennenzulernen, Jacko, ja?« vorstellte, erkannte Jacko nicht, dass es um ihn geschehen war. Da half es auch nichts, dass just im Moment des Händeschüttelns das Handtuch herunterfiel. Sein »Ja, ähem …« ging unter, während sich beide nach dem Handtuch bückten. Und dann streiften Susannes Brüste für einen kurzen Moment seinen Unterarm.

Ein erstauntes »Oh« quittierte sowohl die Tatsache, dass dies unabsichtlich aber nicht unwillkommen war, wie auch den Umstand, dass er gerade gekommen war. Der sich langsam ausbreitende feuchte Fleck der durch seine Unterhosen und Hosen drang, gab beredtes Zeugnis. Was Susanne mit einem amüsierten Lächeln zu Kenntnis nahm.

»Nimm’s locker, Jacko. Ich habe nicht viele Verehrer, die so stürmisch sind.«

Währenddessen beäugte Jackos Mutter die Vorkommnisse aus den Augenwinkeln. Es gab schlimmere Partien, als Menschen die einen bewusstlos schlugen, um einem das Leben zu retten, dachte sie.

Heinrich stoppte und zeigte auf den Alkoven rechts.

»Der hat einen passablen Sichtschutz. Dahinter findet ihr Kleidung. Aus praktischen Gründen habe ich erst einmal zwei Djellabas bereitgelegt. Ihr könnt euch später nach besserer Kleidung umsehen. Wir sind im Alkoven nebenan und warten auf euch.«

Im anderen Alkoven wartete bereits Vorlaut. Heinrich machte sich nicht die Mühe, Vorlaut vorzustellen. Es war klar, das Vorlaut bald weiterziehen würde.

»Ich wünsch dir viel Glück. Überbringe Tim meine Grüsse. Sag ihm, dass er hier jederzeit mehr als willkommen ist. Eigentlich werden wir ihn regelrecht vermissen, genauso wie dich.

Du weisst das du hierbleiben kannst, wenn du das wünschst. Also sparen wir uns weitere Worte. Wir denken an euch. Und hoffen, dass wir auch ohne euch klarkommen.

Genug geschwätzt!«

Heinrich umarmte Vorlaut und gab ihm noch ein Vorratspäckchen mit. Beide schienen gerührt zu sein. Und beide versuchten tapfer, es sich nicht anmerken zu lassen.

»Bisch dann ma.« warf Vorlaut in die Runde und wollte sich vorbeischlängeln. Doch so leicht liess ihn Jacko nicht gehen. Bevor er vorbei konnte, stand Jacko ihm im Weg.

»Sag Tim wenn ich jemals irgendetwas für ihn tun kann, dann soll er es mich wissen lassen. Und meinen und Mutters Dank natürlich.«

»Allesch kla.« war alles was von Vorlaut kam. Er war einfach niemand, der lange Abschiede mochte.

Mittlerweile waren Susanne und seine Mutter aufgetaucht. Obwohl Jacko für seine Mutter kaum Augen hatte. Solange hatte er seine Mutter vermisst und kaum war sie da, dachte er kaum noch an sie. Susanne sah in diesem Dings, Kaftan, wie auch immer Heinrich dazu gesagt hatte, umwerfend aus.

Wie eine arabische Schönheit aus tausendundeine Nacht. Abgesehen von der Haarfarbe. Dafür hatte sie zu feuerrotes Haar.

Heinrich bat alle Platz zu nehmen und positionierte den Sichtschutz. Die Illusion einer Privatsphäre. Er servierte Meidinbörga und Tee. Sowie ein paar Kekse. Keiner wollte auf einmal den Anfang machen. Vielleicht weil keiner so genau wissen wollte, in was sie da hineingeraten waren.

»Ich denke, ihr habt so viele Fragen, dass ihr gar nicht wisst, wo anfangen.« unterbrach Heinrich die Stille.

»Ich denke wir fangen mit den unangenehmen Tatsachen an und tasten uns dann weiter zu den angenehmeren Aspekten vor.« konstatierte Heinrich. Weiter folgte ihm nur gespanntes Schweigen.

»Nun gut, ihr könnt hier erstmal nicht mehr weg. Wenn euch euer Leben lieb ist. Das ist glaube ich die schlechteste von allen Nachrichten.

Dann befinden wir uns in einem Grubensystem. Einem künstlichen Höhlensystem. Offene Feuer sind nur an ganz bestimmten Stellen erlaubt. Dort wo wir Feuer einsetzen um die Lüftung im Höhlensystem zu unterstützen.

Es gibt die Gefahr von Grubenwetter, Gas das entweder durch Ersticken oder durch Explosion tötet. Der Berg mag sich bewegen. Überhaupt gibt es hier unten eine Menge Regeln, die nur deswegen notwendig sind, weil wir anders hier unten nicht überleben könnten. Jacko wird euch bestimmt Einiges erklären können.«

Die Gesichter strahlten nicht gerade vor Freude, aber nach all diesen Abenteuern, mit etwas zu essen und zu trinken, fand auch keiner, dass das jetzt besonders schlimm wäre. Noch immer hingen sie an Heinrichs Lippen. Die Hoffnung von Heinrich, Fragen zu beantworten, verflüchtigte sich von Minute zu Minute mehr.

»Zu den guten Seiten zählt, das wir hier noch unentdeckt sind. Das wir noch genug Nahrungsmittel haben. Das es uns nicht an Wasser mangelt. Und das wir hier recht friedfertig zusammenleben. Trotz verschiedener Kulturen und noch unterschiedlicherer Schicksale.

Und jetzt seid erstmal ihr dran!« beendete Heinrich seine Ausführungen.

Jackos Mutter war die erste, die sich rührte.

»Wer ist dieser Junge, dem wir begegnet sind? Ich würde mich gern bei ihm bedanken.«

»Tim …« antwortete Herbert nachdenklich.

»Der Junge heisst Tim. Er ist ein Ergebnis von Experimenten. Ein Cyborg, wenn man so will. Eine Schimäre. Eine Mischung aus Mensch und Maschine. Ein einsamer Junge. Der einzige seiner Art, soweit ich weiss.

Die meisten Erwachsenen haben eher Angst vor ihm. Als dankbar dafür zu sein, was dieser Junge alles für uns getan hat. Die meisten begreifen es ehrlich gesagt gar nicht.

Dieses ganze Höhlensystem wurde von ihm und seinen Jungs wieder in Betrieb genommen. Fast alle die hier sind, verdanken ihm sein Leben. Ohne ihn und seine Kenntnisse wären wir auch hier in der Höhle jämmerlich verreckt.

Er hat uns gezeigt, wie man solche System lüften kann, wie man mit einfachen Mitteln alles in Schuss halten kann. Wie man hier unten überlebt.

Für komplexere Teile haben wir von ihm 3D-Drucker bekommen, die mit den verschiedensten Materialien drucken können.

Vitamin D ist ein Problem. Unter vielen. Wir haben einen grossen Vorrat. Und es gibt eine Möglichkeit nach draussen zu gelangen. Doch nie lange genug. Es ist einfach zu gefährlich. Also sind wir abhängig von den Raubzügen der Kidz.«

»Aber hörte es sich nicht vorhin so an, als ob wir diesen Tim lange Zeit nicht mehr sehen würden? Habe ich da richtig gehört?« hakte Susanne nach. Jacko sabberte nicht mehr ganz so schlimm. Aber befand sich weiterhin im Bann der Venus aus den Tümpeln.

»Du hast richtig gehört.« wandte sich Heinrich an Susanne.

»Tim hat mich informiert, dass er gezwungen wäre, die nächste Zeit im Netz zu kreuzen. Welchen Grund dies hat, weiss ich nicht. Allerdings wird er uns ab und zu einen kleinen Trupp schicken, der Nachschub bringen wird. Sowohl an Neuankömmlingen, wie auch an Medikamenten und anderen Sachen, die wir nicht herstellen können, aber brauchen.«

»Also sitzen wir hier fest.« meinte Herbert konsterniert.

Alex sagte gar nichts mehr. Alle seine Ideen, Pläne, alles was er so gedacht hatte, was er machen würde … weg. Von einem Moment auf den anderen. Eine neue Welt, ein neues Leben und keiner hatte ihn gefragt.

»Ach ja, falls ihr euch um Willy sorgt. Sobald er fit genug ist, wird er hier vorbeigebracht.«

Wofür Heinrich nur ein Nicken erntete.

»Ich würde allerdings zu gern wissen, wie ihr in die Sache mit John geraten seid.« setzte Heinrich an. Allerdings sagten ihm die Blicke, dass das im Moment wohl kein gutes Thema wäre.

»Wir haben Zeit, die Geschichte kann warten. Ihr könnt die Alkoven hier rund herum benutzen. Die haben wir für euch hergerichtet. Ich denke wir hatten genug Aufregung und es wird spät.

Wenn ihr erlaubt ziehe ich mich zurück.«

Als kein Widerspruch kam, stand Heinrich auf und ging. Susanne bewegte sich auf Jacko zu, während Alex sich bereits aus dem Staub machte und einen Alkoven in Beschlag nahm.

Herbert schaute Frau Brunner, Renate, wie ihm bewusst wurde, ziellos an. Was diese nur mit einem Schulterzucken beantwortete. Es war wie es war. Besser man nahm es gelassen.

Was nicht ganz auf Susanne und Jacko zutraf. Susanne packte Jacko einfach an der Hand und meinte »Du kennst dich hier also aus? Hast du Lust mir ein bisschen was zu zeigen?«

Jacko verzichtete auf Stammeln, zu Worten wäre er sowieso nicht fähig gewesen. Er nickte einfach, während er aufstand und Susanne mit sich zog.

Er hatte keine Ahnung, wann er sich je so gut gefühlt hatte. Er schwebte im wahrsten Sinne auf Wolken.

Im selben Moment nahm Tim wieder Kontakt zu CERBERUS auf. Er sagte nur einen Satz.

»Wollen wir etwas spielen?«

ENDE

Share