Drucken
Notstandszonen um Wiesbaden

Tim mass dem Wiedersehen von John und Herbert keine hohe Bedeutung zu. Zielstrebig ging er zum Wagen, griff in eine von Willys Taschen und holte den Ausweis von John hervor.

»Den kann ich gut brauchen, danke.« bemerkte Tim und wandte sich an die gerade Ausgestiegenen.

»Ihr habt keine Zeit. Herbert, du musst weiter. Sag Pimpf Bescheid, dass die Truppe mich hier erwarten soll. Oder gib ihnen einfach dein Smarty. Ich habe gerade mal wieder eine meiner grandiosen Schwachsinns-Ideen. Dein Smarty kennt den Weg. Fahren musst du selbst.«

Herbert fand das wenig erbaulich. Selbst Susanne war kurz davor, sich aufzuregen. Doch dieser Junge redete einfach weiter.

»Je früher ihr weiterkommt, desto eher können wir Willy versorgen. Und ihr seid hier noch längst nicht ausser Gefahr. Das könnt ihr mir glauben.«

»Und was ist mit John?« getraute sich Herbert zu fragen.

»Der bleibt vorerst bei mir!« antwortete Tim in einer Weise die jede weitere Frage überflüssig machte.

Nur Frau Brunner war nicht so leicht zu beeindrucken.

»Ich bin dir sicherlich dankbar, solltest du mich gerettet haben. Aber ich will Antworten und zwar bald, Bürschchen. Sonst lernst du mich kennen!«

»Die werden sie bekommen. Bald. Aber nicht jetzt.« gab Tim zurück und rieb sich genervt die Schläfen. Es war einfach unfassbar, wie schwierig erwachsene Menschen waren.

»Kommt schon …« murmelte Herbert und alle verschwanden wieder brav im Wagen.

Herbert liess den Wagen an und bahnte sich seinen Weg über diese Waldpfade die kaum als Strassen gezählt werden konnten. Derweil wurde die Stimmung im Auto immer gespannter.

»Hat einer ne Ahnung, was uns dort erwartet?« warf Alex in die Runde.

Keiner konnte sich auch nur einen Reim darauf machen. Die Notstandszonen, das schien immer so weit weg. Selbst als sie vor der Haustür lagen. Keiner hatte auch nur einen blassen Schimmer, wie das Leben hier draussen wirklich war.

»Etwas zu essen, eine Unterkunft, was weiss ich?« bemerkte Susanne dazu und strich sich nervös die Haare aus dem Gesicht.

»Meinen Sohn, hoffe ich doch.« war alles was Frau Brunner dazu sagte.

»Also hat keiner ne Ahnung? Toll, wir fahren ins Blaue und haben keinen blassen Schimmer!« moserte Alex und beugte sich angriffslustig vor.

»Weil so ein kleiner Knirps uns das gesagt hat. Ihr seid mir vielleicht eine lustige Truppe …«

»Schliesslich hat er uns hierher gebracht, oder? Ohne das wir angegriffen wurden.« verteidigte Herbert Tim.

»Und woher willst du das wissen? Wie soll so ein Knirps das eigentlich machen? Hast du irgendwelche Devices gesehen? Der ist vielleicht nur ein Lockvogel. Wer hat schon Angst vor so einem Knirps.« giftete Alex.

»Ach ja, schon die Türschlösser vergessen. Ich weiss auch nicht, wie er das gemacht hat. Aber der hat das gemacht.«

Das war ein Argument, das Alex nicht von der Hand weisen konnte.

»Und ausserdem, viel schlimmer kann es doch eigentlich gar nicht kommen, oder?« ergänzte Herbert pessimistisch.

Just in dem Moment sah Herbert auf einmal mehrere bis auf die Zähne bewaffnete Halbwüchsige den Pfad versperren. Er stieg so stark auf die Bremse, dass Willy halb nach vorne geschleudert wurde. Und Susanne ihn mit einem »Vollidiot!« würdigte. Während Willy vor Schmerz stöhnte und Alex fluchte, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte.

Diese Kidz sagten kein Wort. Ein grimmiger Bursche ging auf sie zu, schaute in den Wagen und zeigte auf das Smarty. Herbert war auch ohne Worte klar, dass er das Smarty wollte. Also liess er die Scheibe runter und gab es ihm.

Herbert sah machtlos zu wie dieser Junge mit seinem Smarty verschwand. Alles was sie sehen konnten war, dass eine heftige Diskussion um das Smarty entstand. Von den Worten verstanden sie so gut wie nichts. Das war eine andere Sprache. Die Wortfetzen, die sie mit Mühe und Not identifizieren konnten, ergaben keinen Sinn. Zumindest nicht für sie.

Und dann schien sich alles zu ändern. Scheinbar hatten sie etwas auf dem Smarty entdeckt. Herbert schloss das Fenster wieder, als ob es irgendetwas genutzt hätte. Gegen dieses massive Waffenarsenal, das von Kindern und Jugendlichen herumgeschleppt wurde.

Jetzt kamen sie alle auf sie zu. Nicht nur der grimmige Junge. Doch der zuerst. Ohne das Smarty. Das hatte sich eines der Kidz eingesteckt. Als der Grimmige auch noch an die Scheiben klopfte hätte sich Herbert fast in die Hosen gemacht.

War das jetzt das Ende? Würde diese Kinderarmee sie einfach ausrauben und ermorden? Würden sie statt Hilfe den Tod finden?

»Stell dich nicht so an.« meinte Frau Brunner zu Herbert.

»Mach das Fenster runter. Das ändert doch sowieso nichts!«

Alles was der grimmige Junge dann sagte war »Komz! Da!« wobei er ungefähr in die weitere Richtung des Pfades zeigte. Seine weitere Handbewegung machte klar, dass sie in gemächlichem Tempo folgen sollten.

Was überhaupt nichts klar machte. Ausser das Herbert jetzt nicht mal mehr ein Smarty hatte. Sie hatten immer noch keinen blassen Schimmer, mit wem sie es hier zu tun hatten. Und was sie hier erwartete.

Keiner wagte es, ein weiteres Wort zu sagen. Auf einmal wurden links von ihnen die Büsche geteilt. Und sie wurden auf einen Pfad gelotst, der die Karosserie des Alfa Romeos doch stark beanspruchte. Die Geräusche, die Herbert hörte, machten ihm gar keinen Spass. Und er war sich sicher, dass sein Onkel noch weniger Spass daran haben würde.

Mit einem Mal befanden sie sich mitten in einem Lager. Ihnen wurde angedeutet anzuhalten und eine noch viel grössere Schar von Kindern umringte das Auto und schaute neugierig hinein.

Sie lebten noch. Dies war das Mindeste, was man behaupten konnte. Obwohl Susanne sich fragte, wie man in einem Kannibalenstamm begrüsst werden würde. Würden dann auch alle sehen wollen, was es heute zu essen gab?

Als ihnen angedeutet wurde auszusteigen, natürlich von dem grimmigen Jungen, zitterten allen die Beine. Selbst Frau Brunner schien sich nicht mehr sicher zu sein, was sie erwarten würde. Bis sie sahen, dass ein paar Kinder eine Trage anschleppten.

Susanne war sofort dabei, den Kindern zu helfen, Willy auf die Trage zu legen.

»Achmed, Arzt, ich. Was Problem?« meinte eines dieser Kinder zu Susanne. Ihr wurde klar, dass hier sprachliche Barrieren waren. Aber zumindest war dieses Kind verständlich. Also musste sie sich auch kurz und verständlich ausdrücken.

»Schuss. Pistole. Viel Blut verloren.« sagte sie und hoffte, dass sie sich verständlich genug ausgedrückt hatte.

»Blut? A? B? Null?« fragte der Kleine während er professionell den Verband und die Infusionsnadel überprüfte. Die Blutkonserven, das Plasma, sie hatten alles bei ihrem überstürzten Aufbruch vergessen. Liegen gelassen. Keinen Platz gehabt, dies auch noch zu schleppen. Willy war schon schwer genug gewesen.

»A plus Kell negativ« antwortete Susanne ohne nachzudenken. Langsam dämmerte ihr, dass dieses Kind hier vielleicht mehr Erfahrung hatte als mancher Arzt den sie kannte. Er verlor auch keine Zeit. Gab Anweisungen und deutete Susanne an mitzukommen. Während vier starke Jungs, die schon fast in der Pubertät waren, die Trage packten und zu einem dieser Container trugen. Die man erst richtig erkannte, wenn man fast davor stand.

Herbert und Alex standen weiter beim Auto wie begossene Pudel und versuchten zu begreifen, was jetzt passieren würde. Doch Frau Brunner hielt es nicht mehr aus.

»Wo ist mein Sohn? Wo ist Jacko?«

Als dieser grimmige Bursche auf sie zumarschierte, nachdem er sie gehört hatte, wurde ihr doch etwas mulmig.

»Iz Tiefäh. Komz!« war alles was dieser wortkarge Junge sagte.

Nun gut. Frau Brunner würde nicht zögern. Solange es noch Hoffnung gab ihren Sohn wiederzusehen. Alex sah das natürlich ganz anders.

»Und was ist mit Susanne? Und Willy? Kann mir jemand mal erklären was hier los ist?« meinte er wutschnaubend.

»Bahl, Tiefäh. Komz jez! Basta!« war alles was Alex von Grimm zu hören bekam. Garniert mit einem Blick, der Alex überzeugte, erstmal die Fragen hintenanzustellen. Bis jetzt war ihnen noch nichts passiert. Aber was hiess das schon. Schafe waren so leicht zu hüten.

Herbert dachte sich, nach diesem Pimpf brauche ich wohl auch nicht mehr zu fragen. Mein Smarty haben die ja sowieso.

Als Grimm sie abseits des Lagers führte machte sich dann doch wieder dieses mulmige Gefühl breit. Die Müllkippe, an der sie halt machten, spendete ihnen auch keinen Trost. Zumindest lagen hier keine Leichen herum. Dafür ein Meer aus Plastiktüten.

Während Grimm ihnen andeutete sich eine Plastiktüte zu schnappen, schloss Susanne zu ihnen auf.

»Wie geil ist das denn!« meinte sie nur. Zum Erstaunen, nicht nur von Alex und Herbert, nein auch von Frau Brunner.

»Soweit ich diesen Kinderarzt, da bekommt das Wort eine ganz neue Bedeutung, soweit ich diesen Arzt verstanden habe müssen wir runter in ein Höhlensystem. Wir brauchen die Plastiktüten für unsere Klamotten. Wir müssen da ein Stück tauchen.« berichtete Susanne.

»Deswegen kann Willy nicht mit. Aber der wird hier echt gut versorgt. Ich habe keine Ahnung wie diese Kinder an all diese Geräte gekommen sind. Aber die sind voll Hightech ausgerüstet. Der reinste Wahnsinn. Und unten gibt es Leute die besser unsere Sprache sprechen.«

Susanne grinste vor sich hin und dachte, was für ein geiles Abenteuer. Frau Brunner fand dies eher nicht.

»Soll ich mich etwa ausziehen? Vor den ganzen Kindern?« fragte sie empört. Doch ihre Empörung verhallte ohne das irgendjemand darauf reagiert hätte.

Mittlerweile hatten einige Kinder einen Eingang freigelegt und bemühten sich eine massive Bunkertür zu öffnen. Alex packte gleich mit an, während Herbert Bauklötze staunte.

Als die Tür soweit geöffnet war, dass man hindurch konnte, marschierten alle zur Tür. Auch Frau Brunner. Mit verkniffener Miene. Die Plastiktüte sich verkrampft vor den Bauch haltend.

Sie tauchten ein in eine gespenstische Dunkelheit, die nur durch ein fahles Leuchten an den Wänden erhellt wurde. Grimm gab zudem jedem beim Eintreten ein Stück von dem leuchtenden Moos in die Hand.

Und so folgten sie dem trüben Lichtschein, der sie nach unten führte. Bis sie an einem Tümpel angekommen waren.

»Runter und wieder rauf. Dem Stollen folgen. Das Moos sollte genug Licht geben. Wenn ich das alles richtig verstanden habe, was dieser Achmed mir gesagt hat.« meinte Susanne fröhlich, während sie sich ihrer Kleider entledigte. Ohne das geringste Gefühl der Scham zu zeigen.

Ist ja auch klar, dachte sich Frau Brunner. Als ich so alt war, da sah mein Körper auch ansehnlicher aus. Da kann man dann schon mal etwas schamlos sein.

»Ich weiss nicht ob ich das kann.« erklärte Frau Brunner der Dunkelheit.

»Ich bekomme immer Wasser in die Nase und dann werde ich panisch.«

Die fahle Dunkelheit segnete sie erst einmal mit Schweigen.

»Ich bleib bei ihnen.« schien die Dunkelheit zu sagen, die sich immer mehr als Susanne entpuppte.

»Und hier, stopfen sie sich diese Taschentuchfetzen in die Nase. Solange werden wir ja nicht tauchen.«

Alex fügte noch ein ermutigendes »Hoffe ich …« hinzu.

Frau Brunner hatte mittlerweile die schwereren Sachen abgelegt, bestand aber darauf, mit einem Mindestmass bekleidet zu sein. Und das hiess bei ihr nicht Slip und BH. Jegliche Überredungskünste scheiterten schon im Ansatz.

»Ich weiss sowieso nicht, ob ich das hier überlebe. Aber wenn schon, dann will ich nicht halbnackt da verloren gehen!«

Mehr war aus Frau Brunner nicht herauszuholen. Grimm machte den Anfang und sprang in den Tümpel. Bewaffnet mit Leuchtmoos und einer Plastiktüte in der sich seine Habseligkeiten befanden. Alex und Herbert zögerten nicht lange und sprangen hinterher. Frau Brunner dagegen verfolgte die trüber werdenden Lichtpfützen ängstlich mit ihren Blicken.

»Wir schaffen das!« meinte Susanne und nahm Frau Brunner am Arm.

Gemeinsam sprangen sie in die Dunkelheit …

Share
Zugriffe: 892